Das Trommeln des Regens auf die Holzkonstruktion der Seespielbühne hat aufgehört, das Gewitter hat sich pünktlich vor der Aufführung verzogen. Im Backstagebereich, welcher der Witterung ausgesetzt ist, aber auch unter der Bühne, in der Maske, den Garderoben und im Nähstübli ist eine bunte Mischung an Gummistiefeln im Einsatz: mit Schottenkaros, im Sneakers-Look, maritim geringelt oder halbhoch in elegantem Schwarz. Letzteres Paar gehört Ursina Wyss. Die 35-Jährige ist Chefankleiderin bei den Thunerseespielen und als solche die geborene Multitaskerin.
Jeder Handgriff sitzt
Wyss ist nicht nur dafür zuständig, dass die Kostüme sauber und in tadellosem Zustand sind, sondern auch dafür, dass sie zur rechten Zeit beim richtigen Darsteller landen. Dabei leistet die gelernte Theaterschneiderin hinter den Kulissen auch Starthilfe: Wenn ein Schauspieler innerhalb von 30 Sekunden sein komplettes Outfit wechseln muss, legt sie jedes Kleidungsstück griffbereit hin, hilft beim Aus- und Einsteigen in Schuhe, Hemd, Hose und Jacke und kontrolliert zuletzt, ob Hut und Krawatte auch perfekt sitzen. Gerade wenn nur Sekunden Zeit bleiben, muss jeder Handgriff sitzen.
Eine Ankleiderin für drei Darsteller
Aber bevor es so weit ist, steht noch einiges an Vorbereitung an. Der Arbeitstag beginnt für Ursina Wyss am späten Nachmittag. Sie holt Kostüme aus dem Fundus und Schuhe vom Schuhmacher ab, die neu besohlt werden mussten, und fährt zum Seespielgelände. Dort trifft sie sich mehr als eine Stunde vor Aufführungsbeginn mit ihrem zehnköpfigen Team und geht den Abend durch. Wer näht? Wer bügelt? Wer verteilt die Wäsche? Die Zuständigkeiten sind genau aufgeteilt und die Ankleiderinnen wissen, für welche Darsteller sie zuständig sind. Jede hat drei Darsteller, denen sie während der Aufführung beim Umziehen hilft.
Einsingen und umnähen gleichzeitig
Über einen Lautsprecher kommen in regelmässigen Abständen die Durchsagen, wie viel Zeit noch bis zum Start der Show bleibt. Diese Zeit ist für Ursina Wyss die stressigste. Alle gereinigten Kleidungsstücke müssen in die Garderoben der Darsteller gebracht werden, und auch der Trockenraum hängt noch voll mit Kleidern, Jacken und Schuhen, die nach der letzten Show durchnässt waren. Während sich die Darsteller einsingen, kämpft Wyss noch mit einem leuchtend roten Lippenstiftfleck auf dem Saum einer seidenen Pyjamahose. Auf die Schnelle lässt er sich nicht entfernen, deshalb muss sie schummeln: Das Hosenbein wird spontan umgenäht. Um die Länge zu kontrollieren, huscht Wyss zwischen den trällernden Sängern hindurch zur Hauptdarstellerin. Marie-Anjes Lumpp muss sich gerade auf ihre Rolle als Sugar Kane vorbereiten, singt deshalb unbeirrt weiter, während sie in die Hose schlüpft und Wyss ein paar Nadeln feststeckt.
Im Stemmschritt ist die Chefankleiderin unter der Bühne unterwegs.
Schnelle Problemlösung
Zurück im Nähstübli wartet die nächste Herausforderung: Zwei Paar Pumps, die nach jeder zweiten Vorführung neu mit Farbe besprüht werden müssen, trocknen bei der hohen Luftfeuchtigkeit nicht schnell genug. Statt mit nur einem Föhn, stöpselt Wyss schnell einen zweiten ein, eine Kollegin übernimmt das Föhnen und Wyss kümmert sich um die Darsteller, die noch schnell Zeitungspapier brauchen, um ihre Schuhe zu trocknen oder nach Ersatz für eine gerissene Strumpfhose fragen.
Schuhanzieher und Brüste parat
Nur noch wenige Minuten bis zum Start. Wyss ist nur noch im Stemmschritt unterwegs, packt in der Herrengarderobe eine Kiste und eine Tasche voll mit Kostümen. Sie muss an alles denken, was ihre Darsteller für die ersten Outfitwechsel brauchen – vom Schuhanzieher über die Kleidung bis hin zu den Brüsten, schliesslich steht Darsteller Maximilian Mann häufig als Josephine auf der Bühne.
Die Show läuft schon
«Jetzt fehlt nur noch die Waffe, dann geht es hoch», sagt Wyss, holt eine Pistolenattrappe aus dem Nebenraum und eilt die Treppen hinauf, um hinter der Bühne die letzten Vorbereitungen zu treffen. Im Backstagebereich ist es windig, für einen Blick auf die Wellen des Sees bleibt kaum Zeit. Die anderen Ankleiderinnen haben Plastikstühle aufgestellt, auf denen nun die Kostüme und Accessoires bereitliegen. Mit grauen Plastikplanen können die Stühle schnell abgedeckt werden, falls es anfangen sollte zu regnen. Dass vorne auf der Bühne das Stück schon im Gange ist, bekommt man hinten kaum mit. Die Bühne hat Rückenwind, deshalb ist kaum etwas zu hören. Einzig die Darsteller, die fröhlich schwatzend oder singend in den Kulissen verschwinden oder daraus wieder auftauchen, zeigen, dass vorne die Show läuft.
Outfitwechsel in 30 Sekunden
Beladen mit einer Kostümtasche klettert Ursina Wyss routiniert eine Leiter an der Rückseite einer Kulisse hoch. Dort oben ist ein Hotelzimmer eingerichtet, noch sind aber in Richtung Publikum die Rollläden runtergelassen. Durch die kleinen Schlitze kann sie die in Regencapes gehüllten Zuschauer und das Geschehen auf der Bühne beobachten. Wyss gönnt sich aber nur einen kurzen Blick, dann legt sie auf dem Doppelbett ein komplettes Outfit bereit, die Hose schon so aufgeschlagen, dass sie diese später in einer fliessenden Bewegung an den Darsteller übergeben kann. Darsteller Maximilian Mann kommt über die Leiter in den Raum geklettert, spricht bis zu seinem Einsatz noch flüssig die Zeilen eines Kollegen mit, tritt dann lässig durch eine Tür hinaus, kommt wenige Augenblicke später schon wieder rein und kaum, dass die Tür hinter ihm zu ist, geben Maximilian Mann und Ursina Wyss Vollgas: Er reisst den Klettverschluss seines Hemdes auf, während Wyss ihm schon die Schuhe auszieht. Keine halbe Minute später spurtet die Ankleiderin noch vor dem Darsteller aus dem Raum und über die Leiter hinunter, weil sie direkt dem nächsten Darsteller beim Umziehen helfen muss.
Der Spickzettel hilft
Von solchen Schnellumzügen hat Ursina Wyss gleich mehrere im ganzen Stück. Zwischendurch wird es aber wieder etwas entspannter, dann bleibt Zeit für einen kleinen Plausch mit den anderen Ankleiderinnen oder den Darstellern, die auf ihren nächsten Einsatz warten. Immer wieder muss Wyss nach unten in die Garderobe, die nächsten Outfits holen und zurechtlegen. Nur selten schaut sie auf ihren laminierten Spickzettel, auf dem in winziger Schrift steht, wann sie wo an was denken muss.
Wodkaspray gegen Geruch
Während auf der Bühne die letzte halbe Stunde der Vorführung läuft, kann hinter den Kulissen schon aufgeräumt werden. Wyss und ihre Kolleginnen räumen die Plastikstühle wieder zusammen und nehmen die letzten Kostümwechsel vor. Nach der Vorführung kommen nasse Outfits in den Trockenraum, einmal die Woche werden die Kostüme zur Wäscherei gegeben, aber zur Desinfektion und gegen den Geruch werden sie täglich mit Wodkaspray eingesprüht. Nach einem Abschlussbriefing mit den Kolleginnen ist für Ursina Wyss der Arbeitstag beendet. Sie zieht die Gummistiefel aus, räumt sie weg und hofft, dass sie bei der nächsten Vorstellung dann nicht mehr zum Einsatz kommen müssen.