Häusliche Isolation zwingt Partner zu mehr Nähe als gewohnt. Der Paartherapeut Peter Rottländer erklärt, wie dabei die Gefühle hochkochen.
Herr Rottländer, was kann passieren, wenn Paare sich plötzlich in häuslicher Isolation befinden?
Das hängt davon ab, wie gerne die Partner zusammen sind. Je länger die häusliche Isolation allerdings andauert, desto mehr geraten sie unter den Stress, diese Ausnahmesituation auszuhalten. Ein Bild, das einem dazu einfällt, ist der Tiger im Käfig. Er will in die Weite und ist in dieser Enge gefangen. Er verfügt über jede Menge Handlungsenergie, kann sie aber nicht ausleben. Das macht äußerst angespannt und reizbar. Gesteigert wird dies dadurch, dass unabsehbar ist, wie lange die Situation anhält. Und es kommt aktuell noch hinzu, dass die Coronakrise dazu führen kann, den Arbeitsplatz beziehungsweise seine Einkünfte zu verlieren. Also sehr viel Stress. Wie schnell dies in Konflikte führen kann, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass beide Partner vor diesen Herausforderungen stehen, also gewissermaßen zwei Tiger im Käfig sind.
In dieser stressigen Situation könnten sich die Partner ja gegenseitig helfen, oder?
Ja, manche beruhigen sich gegenseitig, zum Beispiel durch körperlichen Kontakt oder aufrichtiges Interesse am inneren Erleben des anderen. So kann es sogar eine schöne Zeit werden. Wenn man jedoch sehr gereizt ist und nicht weiß, wohin mit seiner Wut, dann passiert leicht etwas anderes: Der Partner wird zum Gegenstand der Wut. Dazu braucht der Partner nur etwas zu machen, das einen stört, und schon findet die Wut ein Ventil. Das können kleine Dinge sein,Essensgeräusche oder Ungeschicklichkeiten zum Beispiel. Auf den Partner ergießt sich dann die angestaute Wut. Im Bild gesagt: Die Tiger fauchen sich an.
Die Ursache scheint also eigentlich etwas anderes zu sein als der Partner. Aber warum lässt man die Wut an ihm aus? Man könnte ja auch die Wand anschreien.
Klar. Allerdings gibt die Wand einem keinen Anlass sie anzuschreien. Im Verhalten des Partners hingegen gibt es immer irgendwelche Dinge, die einen stören. Im Normalfall „liebenswerte Eigenheiten“ (Loriot), die man hinnimmt, werden sie bei wütender Gereiztheit im subjektiven Erleben zu dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Und dann wird das ganze Fass über dem Partner ausgeschüttet – oder den Kindern. In dem Moment ist man durch und durch wütend auf den Partner; die anderen Anlässe der Wut sind aus dem Bewusstsein verschwunden.
In der Psychoanalyse wird dieses Phänomen als Verschiebung bezeichnet. Was beschreibt der Begriff?
Es ist einer der sogenannten Abwehrmechanismen, bei dem Auslöser und Ausleben einer Emotion unbewusst voneinander getrennt werden. An unserem Beispiel gesagt: Wer den Partner attackiert, entlastet sich womöglich kurzzeitig von seiner Frustration. Er geht aber nicht an die Quelle des Problems: Wenn ich in Quarantäne bin, bin ich ohnmächtig, an der Vorschrift kann ich nichts ändern, und ich bin enttäuscht, weil ich so viele Dinge, die ich vorgehabt hatte, nicht tun kann. Die angemessene Reaktion wäre eine Akzeptanz der Situation und damit vermutlich ein Trauergefühl. Trauer lässt irgendwann nach, aber sie fühlt sich passiv an, ist schmerzhaft und darum oft schwer zu ertragen. Vielleicht will ich die Situation darum nicht akzeptieren. Stattdessen kann ich wütend gegen das Vorgegebene anrennen, das fühlt sich wenigstens nach Aktivität an. Wut entsteht häufig, wenn Ohnmacht und Enttäuschung nicht akzeptiert werden. Wenn der Partner dann einen Anlass bietet, kann ich meine angestaute Wut auf ihn oder sie leiten und an ihm oder ihr auslassen. Das geschieht meist unbewusst. In der Situation bin ich überzeugt, dass die Wut einzig vom Partner ausgelöst wurde.
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