Anne Herrberg

ARD-Korrespondentin in Südamerika (HF), Rio de Janeiro

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Artikel

Aufschrei an den Rändern

"La Garganta Poderosa", auf Deutsch "die mächtige Kehle", hat DIN A4 Format, ist zwischen 30 und 40 Seiten stark und erscheint seit knapp zwei Jahren monatlich: Ein Magazin, entworfen, geschrieben und produziert von Bewohnern aus den Slums von Buenos Aires.


Die Kamera zeigt ein zwielichtiges Labyrinth aus ineinander verschachtelten Behausungen und engen Gassen, sie zoomt auf Menschen in schmutzigen Kleidern, die aggressiv wirken, dealen, sich zudröhnen. Villa Zavaleta, informiert der Reporter aus dem Off, sei ein Territorium, in das man besser keinen Fuß setzt.

Das Elendsviertel Villa Zavaleta liegt am südlichen Rand von Buenos Aires. Romina Alejandra Rojas wohnt dort. Gefährlich sieht die zierliche, knapp 25-jährige Mutter von zwei Kindern nicht aus. Wütend aber kann sie schon werden: "Diese angebliche Undercover-Reportage war der Gipfel einer Reihe von Medienberichten. Anstatt differenziert über die Hintergründe und Ursachen unserer Probleme hier zu berichten, wird unser Image einfach nur durch den Dreck gezogen!", schimpft sie: "Deswegen haben wir die Garganta Poderosa gegründet, um mal einen Schrei loszulassen."


Die Stimme der Villas


"La Garganta Poderosa", auf Deutsch "die mächtige Kehle", hat DIN A4 Format, ist zwischen 30 und 40 Seiten stark und erscheint seit knapp zwei Jahren monatlich: Ein Magazin, entworfen, geschrieben und produziert von Bewohnern aus den Slums von Buenos Aires. Die Auflage hat sich seit der ersten Ausgabe versiebenfacht - von 3000 auf 20.000 Exemplare. Mittlerweile ist die Zeitschrift sogar an den Kiosken im wohlhabenden Norden der Hauptstadt zu haben. Damit finanziert sie nicht nur sich selbst, sondern auch Sozialprojekte in den Villas.

Che Guevara revisited

Das Headquarter dieser unglaublichen Erfolgsstory ist ein kleines, mit Graffitis verziertes Häuschen in Villa Zavaleta. An den Wänden hängen Poster von Eva Perón und Che Guevara, eine Kuba-Flagge und die Titelblätter der letzten Ausgaben: großformatige Farbfotos, gedruckt in feinstem Hochglanz und anspruchsvollem Design. "Wir wollten eine eigene Zeitschrift, aber uns war klar: Die musste Qualität haben", eräutert Paola Vallejos und stemmt die Arme in ihre runden Hüften, "denn sonst hätten wir ja nur das Klischee bestätigt, dass von 'unten' nur Untergründiges kommen kann."

Das Projekt wurde in Asambleas, in Nachbarschafts-Versammlungen, gemeinsam geplant, die ersten Ausgaben durch Einnahmen aus Losverkäufen, Bauchladenverkäufen und Flohmärkten finanziert. Jede Woche gibt es Foto- und Schreibworkshops, oft von befreundeten Studenten der Universität von Buenos Aires - schließlich hatte kaum einer der Redakteure vorher eine journalistische Ausbildung.

Der renovierte Spielplatz Plaza Kevin in Zavaleta ist eines der Sozialprojekte, die mit Hilfe der Poderosa auf die Beine gestellt und gepflegt werden

Die Indignados Argentiniens

Die Titelstorys von "La Garganta Poderosa" lassen jeden Journalisten in Argentinien vor Neid erblassen: Interviews mit prominenten Stars, darunter die Fußballidole Messi, Maradona und Juan Román Riquelme, der spanische Sänger Joaquín Sabina oder der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano. Alle lassen sich fürs Titelblatt mit weit geöffnetem Mund ablichten - und transportieren auf der Rückseite des Blattes eine politische Message: Maradona schickt Geburtstagsgrüße an Fidel Castro, Messi fordert Gerechtigkeit für den Mord an einem Gewerkschafter und Eduardo Galeano, der Autor des legendären Werkes "Die offenen Adern Lateinamerikas", protestiert gegen die Absetzung von Präsident Lugo in Paraguay. Und die neuste Ausgabe würdigt mit Estela de Carlotto, der Präsidentin der "Abuelas de la Plaza de Mayo", den Kampf der Menschenrechtsbewegung in Argentinien.

"Die Medien haben sich bestimmte Figuren konstruiert, mit denen sie Geld verdienen. Heute ist der Journalismus abhängig von diesen Gesichtern. Das nutzen wir aus. Denn hinter den Gesichtern stehen ja Menschen, keine Roboter, und an die appellieren wir, sich als Lockvögel für eine gute Sache einzusetzen", erklärt einer der Köpfe hinter "La Garganta Poderosa". Er ist Mitglied einer Kooperative, die sich bereits vor acht Jahren gründete und heute Mitglieder in Villas von ganz Argentinien hat: "La Poderosa", benannt nach dem legendären Motorrad, mit dem Che Guevara einst Lateinamerika durchquerte.

Der spanische Sänger Joaquin Sabina auf der Titelseite von "La Garganta Poderosa"

"Wir sind ein bisschen wie die Indignados in Europa: Eine Bewegung, die mit einer Stimme spricht, deswegen bleibt jeder, der nicht als Autor bei der Zeitschrift schreibt, anonym."

Maradona - einer von uns

Alejandro, ein schlaksiger Kerl mit Palästinensertuch um den Hals, lebte jahrelang auf der Straße. Paco, eine Art Crack, half ihm über den grauen Alltag hinweg, die Spiele der Fußball-WM 2010, bei dem Diego Maradona Trainer war, sah er in den Auslagen von Elektrogeschäften. Irgendwann lernte er "La Poderosa" kennen und begeisterte sich für das Projekt der Zeitschrift. Einen Tag später saß er, Mate-Tee trinkend, bei seinem großen Idol im Wohnzimmer: "Jemand kannte jemand, der Maradonas medizinischen Coach kannte, und plötzlich musste alles ganz schnell gehen", erinnert er sich. Die Aufregung von damals merkt man Alejandro noch heute an, aber auch den Stolz, ein Interview geführt zu haben, das später in fast allen argentinischen Medien zitiert wurde. "Diego und ich redeten über unsere Drogenvergangenheit, über Familie, Fußball, die Scheinheiligkeit der Medien und des Sportbusiness. Es war wie mit einem Freund zu quatschen und das meinte Diego auch - ich unterstütze euer Projekt, weil ich vieles von dem, was ihr erlebt, selbst erlebt habe."

Sichtbare und unsichtbare Helden

Die Geschichten der "Garganta Poderosa" verknüpfen Themen, die auch auf der Agenda der großen Medien stehen könnten, mit der Perspektiven aus den Villas, erklärt Romina: "Dass es bei uns eine Frau gibt, die seit Jahren eine Gemeinschaftsküche führt, einen Pfarrer, der Dutzende Straßenkids von den Drogen weggebracht hat, oder eine Gruppe, die in verschiedenen Villas für ein funktionierendes Abwassersystem kämpft, all diejenigen würden wir gern auf den Titelblättern haben, aber natürlich verkauft man damit nicht so viele Ausgaben wie mit Messi."

Noch nicht, fügt sie zwinkernd hinzu. Romina ist bereits mehrmals als Gast in Talkshows eingeladen worden, und sprach dort nicht nur über die bekannten Stars, sondern auch über die unsichtbaren Helden der Villas. "Die Ignoranten sind intelligent, damit hätte keiner gerechnet. Aber nun sind die Medien vorsichtiger geworden, was sie über uns berichten." Schließlich haben die Villeros, die Bewohner von Argentiniens Randvierteln, heute eine "mächtige Kehle".


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