An einem Samstagabend fühlte sich Iva plötzlich wieder ziemlich alleine vor ihrem Rechner. Gerade hatte sie eine Wikipedia-Diskussionsseite editiert - der Ort, an dem Menschen, die an der Wikipedia schreiben, sich untereinander austauschen können. Nach ihrer Änderung sind jetzt nicht mehr nur "Wikipedianer", sondern auch "Wikipedianerinnen" zu einem Treffen eingeladen. Kurz darauf macht jemand ihre Änderungen rückgängig - und kommentiert dazu, sie solle doch diese Verschandelung sein lassen.
Der Beitragverfasser selbst reagiert mit Unverständnis und der Bitte, die Sache nicht weiter eskalieren zu lassen. "Ich dachte, jetzt bin ich hier alleine auf weiter Flur. Niemand setzt sich für mich ein", sagt Iva.
Das Gefühl, alleine zu sein, kennen offenbar immer noch viele Frauen, die an der Wikipedia mitschreiben. Die Wikipedia ist männlich - das haben Studien und Umfragen in der Vergangenheit gezeigt. Bei einer Wikimedia-Deutschland-Befragung aus dem Jahr 2016 identifizierten sich nur zehn Prozent der Befragten als weiblich.
Was das genau für die Artikel bedeutet, kann man nicht genau sagen - dafür müsste man für jeden Text prüfen, wer was verfasst hat. Sicher aber ist: Die Wikipedia hat einen erkennbaren Bias.
"Wir tragen die gesellschaftliche Verzerrung in die Zukunft weiter" Die Sozialwissenschaftlerin Claudia Wagner hat zum Beispiel herausgefunden, dass in Artikeln über Frauen häufiger Bezüge zu deren Familien hergestellt werden, dass ihr Beziehungsstatus eher erwähnt wird oder dass viel stärker betont wird, dass es sich um eine Frau handelt. Bei Männern fehlen Hinweise zu Partner, Kindern oder Scheidungen oft einfach.
"Frauen, die es in die Wikipedia geschafft haben, sind häufiger prominenter", sagt Wagner. Das liegt auch daran, dass es oft schwierig ist, für Frauen und ihre Arbeit Quellen zu finden. Männliche B- und C-Promis haben da wohl weniger Probleme, in der Wikipedia verewigt zu werden.
Das alles hat Folgen: Wikipedia ist eine der wichtigsten Seiten des Internets und die Basis für andere Seiten - was dort nicht existiert, ist auch offline beinahe unsichtbar. "Wir tragen so die gesellschaftliche Verzerrung in die Zukunft weiter", sagt Wagner.
Ein Mittwochabend bei Wikimedia in Berlin, es ist WomenEdit. Iva hat eine Packung Chips aufgemacht, es gibt Cola und belegte Brötchen. Beim WomenEdit treffen sich Frauen seit Jahren zum gemeinsamen Editieren. Einsteigerinnen können lernen, wie man Artikel verfasst oder bearbeitet.
Anonymität ist in der Wikipedia ein wichtiges Gut, das hier niemand für ein Interview aufgeben möchte. Deshalb heißt Iva hier auch nur Iva - nach ihrem Wikipedia-Namen, IvaBerlin.
Die Wikipedia-Kultur schreckt wohl manche ab
Fünf Frauen sind trotz Ferienzeit zum WomenEdit gekommen, sie arbeiten diesmal unter anderem an Artikeln über eine deutsche Filmemacherin und den Ergänzungsausweis, den Transpersonen nutzen können. Außerdem korrigieren sie andere Artikel.
Manche arbeiten still vor sich hin, andere beteiligen sich am Gespräch und überlegen laut mit, woran es liegt, dass so wenig Frauen an der Wikipedia mitschreiben. Dazu hat Sue Gardner, die bis 2014 Geschäftsführerin der Wikimedia Foundation war, bereits 2011 in einem Blogpost neun mögliche Gründe gesammelt: Frauen seien zu beschäftigt, nicht selbstbewusst genug oder die Wikipedia-Kultur schrecke sie ab, hieß es dort unter anderem.
"Dazu kommt, dass viele Menschen nicht wissen, wie einfach es ist, in der Wikipedia zu editieren", sagt Iva. Denn grundsätzlich kann jeder einen neuen Artikel in der Wikipedia verfassen, andere Artikel bearbeiten, erweitern oder einfach nur einen Tippfehler korrigieren.
Aber: Wer verhindern will, dass der neue Artikel gelöscht wird oder die Änderung keine Chance hat, muss die Wiki-Kriterien beachten. Wann ist zum Beispiel ein Brettspiel relevant genug für einen Wikipedia-Eintrag? Wann ist ein Autor oder eine Autorin erwähnenswert?
Neue Autoren fühlen sich nicht willkommen
In der Wikimedia-Deutschland-Umfrage zur "Welcoming Culture" gaben 62 Prozent der Befragten an, dass sie glaubten, Neueinsteiger würden ungenügend unterstützt. 47 Prozent fühlten sich selbst nicht willkommen, als sie der Wikipedia beitraten. Manche Frauen würden nicht editieren, weil die Informationen, die sie beitrügen, sehr wahrscheinlich rückgängig gemacht oder gelöscht würden, schreibt Gardner.
Iva hat vor acht Jahren angefangen, an der Wikipedia mitzuschreiben - und schnell wieder aufgehört. Erst seit sie durch WomenEdit Unterstützung und eine Gemeinschaft gefunden hat, ist sie wieder dabei. "Wenn ich das nicht hätte, hätte ich schon längst aufgegeben", sagt sie.
Genau aus diesem Grund gibt es Gruppen wie WomenEdit. Oder Art+Feminism, die Workshops auf der ganzen Welt organisieren. Seit 2014 gab es rund 480 sogenannter Edit-a-thons, bei denen rund 11.100 Artikel editiert und geschrieben wurden. "Wir glauben, dass die Arbeit, die wir machen, langsam aber sicher die Kultur verändert", heißt es von Art+Feminism.
So taucht das Thema "integrative Community" auch in der Zukunftsdebatte um Wikimedia 2030 wieder auf. "Die Wikimedia-Foundation will etwas verändern. Sie verstehen: Je diverser die Wikipedia-Editierenden sind, desto besser genügt man dem Anspruch, das Wissen der Welt zu sammeln", sagt Wagner. "Aber auch innerhalb der Wikipedia-Community gibt es hierzu unterschiedliche Meinungen."
Iva hat dagegen das Gefühl, dass es "in der Gesellschaft gerade eher wieder rückwärts geht - und das merken wir auch in der Editierarbeit". Aber, das sagt sie auch, wäre das alles nur frustrierend, würde sie es ja nicht mehr machen. "Das Motto ist eher: Jetzt erst recht."