Ann-Dorit Boy

Journalistin / Korrespondentin

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Artikel

Singapurs Hausmädchen sind ihren Arbeitgebern schutzlos ausgeliefert

Immer mehr Haushalte in Singapur beschäftigen ausländische Helferinnen. Der Staat liefert die Frauen den Arbeitgebern auf Gedeih und Verderb aus.


Manchmal scheint es, als lache Christina, um nicht zu weinen. Die junge Frau wischt mit dem Zeigefinger über ihr Mobiltelefon und zeigt Fotos von leeren Schränken und gefüllten Proviantdosen. Christina, die in Wirklichkeit anders heisst, bewahrt diese Bilder auf, weil sie belegen, wie misstrauisch ihre letzte Arbeitgeberin war. "Meine Madam wollte jeden Tag sehen, was ich für die Kinder gekocht und ob ich gründlich geputzt habe. Ich musste ihr Fotos schicken von jeder Ecke, jeden Tag!" Manches, was die Filipina als Haushaltshilfe bei einer Mittelstandsfamilie in Singapur erlebt hat, wäre komisch, wenn es nicht so traurig wäre. Die Hausherrin, eine berufstätige Mutter, war nach Christinas Aussagen cholerisch und gewalttätig.


Schreie und Schläge

"Wenn Madam wütend wurde, konnte sie ihren Mund und ihre Hand nicht kontrollieren", sagt Christina. Wenn der Arbeitgeberin das Essen nicht geschmeckt habe, habe sie Geschirr auf den Boden geschmettert, sie ausgeschimpft, gestossen und geschlagen. Mehrmals habe sie Christina spätabends vor die Tür gesetzt. "Ich habe dann in einem Einkaufszentrum geschlafen und bin morgens wieder zur Arbeit gegangen", erzählt die zierliche Frau. Auf den Philippinen warteten Geschwister auf Unterstützung. Ausserdem habe sie von dem Monatslohn von umgerechnet gut 430 Franken etwas sparen wollen, um sich eines Tages selbständig zu machen.


Für das bescheidene Gehalt arbeitete Christina nach eigenen Worten von halb fünf Uhr morgens bis Mitternacht. Sie kochte, putzte, kaufte ein, brachte die Kinder zu diversen Aktivitäten und holte sie wieder ab. Keine Pause, keine Privatsphäre. Nachts schlief sie im Zimmer der Kinder auf dem Boden. "Ich mochte die Kleinen sehr", sagt Christina. Auch ihretwegen habe sie es lange ausgehalten. Aber als die Chefin damit drohte, ihr für vermeintliche Fehlleistungen einen grossen Teil des Gehalts abzuziehen, floh sie in eine Notunterkunft für Hausangestellte.


Das Heim, in dem bis zu siebzig Frauen gleichzeitig in Kajütenbetten schlafen, steht im Osten von Singapur. Die unabhängige Hilfsorganisation Humanitarian Organisation for Migration Economics (Home) hält die Adresse geheim, um die Frauen zu schützen. Manche wollen schnellstmöglich zurück in die Heimat, sobald das Arbeitsministerium und die Polizei ihre Fälle abgeschlossen haben. Vielfach warten daheim die eigenen Kinder auf sie. Andere, wie Christina, möchten bei einer neuen Familie weiterarbeiten. Sie findet, alles sei besser, als auf den Philippinen arm zu sein.


Der Staat ist vor allem an den Steuern interessiert

Billige Arbeitskräfte gibt es Südostasien reichlich, und das wohlhabende Singapur braucht jedes Jahr mehr Hausangestellte, zunehmend auch als private Altenpflegerinnen. In dem Land mit 5,6 Millionen Einwohnern waren 2018 gut 253 000 "foreign domestic workers" beschäftigt, in jedem fünften Haushalt eine. Noch grösser ist der Hunger nach Hausangestellten nur in Hongkong, wo jeder dritte Haushalt mit Kindern eine Angestellte beschäftigt. Die meisten Arbeiterinnen in Singapur stammen aus Indonesien und von den Philippinen. Neuerdings kommen mehr Frauen aus Burma, kleinere Gruppen auch aus Indien, Sri Lanka und Kambodscha.


Eine Hausangestellte darf anheuern, wer über 21 Jahre alt und liquide ist. Die Arbeitgeber zahlen dem Staat für eine Haushaltshilfe eine Steuer von umgerechnet 216 Franken pro Monat. Im Gegenzug schreibt Singapur ihnen nicht vor, wie viel Lohn sie zahlen müssen. Die Arbeitserlaubnis können Frauen zwischen 23 und 50 Jahren beantragen, die mindestens acht Jahre Schulausbildung und einen Englischtest vorweisen können. Wenn sie - vermittelt durch eine Agentur - bei den Arbeitgebern angekommen sind, sind sie diesen vollkommen ausgeliefert.


Das Gesetz schreibt vor, dass die Hausangestellten bei den Arbeitgebern wohnen und von diesen verpflegt werden. Ein eigenes Zimmer müssen sie nicht bekommen. Die Arbeitszeiten sind ebenfalls nicht reguliert. Seit 2013 müssen die Arbeitgeber den Hausangestellten zumindest einen Tag pro Woche freigeben - oder finanzielle Kompensation zahlen. Aus Angst, die jungen Frauen könnten sesshaft werden, verbietet ihnen der Staat, einen Bürger von Singapur zu heiraten. Alle sechs Monate steht ein Test für Schwangerschaft und Syphilis an.


Nährboden für Missbrauch

Menschenrechtsaktivisten kritisieren dieses System als idealen Nährboden für Missbrauch und Ausbeutung. "Die Tatsache, dass die ausländischen Hausangestellten im Haus leben müssen, macht es sehr schwer, ihre Arbeitsbedingungen zu kontrollieren", sagt die Sozialarbeiterin Sheena Kanwar, die in den vergangenen drei Jahren die Organisation Home geleitet hat. Bei Konflikten könnten die Arbeitgeber die Frauen ohne weiteres abschieben, anstatt ihnen den Wechsel zu einem neuen Arbeitgeber zu ermöglichen. "Wir erhalten viele Anrufe von verzweifelten Frauen, die schon auf dem Weg zum Flughafen sind, obwohl sie gar nicht zurückwollten."


Home ist mit neun hauptamtlich Angestellten die grösste unabhängige Hilfsorganisation für Fremdarbeiter in Singapur. Anfang Jahr publizierte die Organisation gemeinsam mit der NGO Liberty Shared aus Hongkong einen Bericht, der hohe Wellen schlug. Was hinter den verschlossenen Türen mancher Haushalte in Singapur passiere, sei Zwangsarbeit, heisst es darin. Der Bericht stützt sich auf die Aussagen von fast 900 Hausangestellten, die bei Home Hilfe gesucht haben. Mehr als die Hälfte der Frauen berichtete von emotionalem Missbrauch durch Beschimpfungen und einer zu hohen Arbeitsbelastung. Ein gutes Drittel der Arbeiterinnen berichtet, dass ihnen Löhne nicht bezahlt oder unrechtmässig gekürzt wurden. Fast ein Viertel klagte über körperliche Misshandlung, mangelhaftes Essen, die Verweigerung von freien Tagen und das Konfiszieren von Mobiltelefonen. Einige waren vollkommen isoliert, bis sie sich selbst befreien konnten.


Wie gross die Probleme von Missbrauch und Ausbeutung bis hin zu Zwangsarbeit insgesamt sind, möchte die Sozialarbeiterin Kanwar aufgrund der begrenzten Datenbasis nicht mutmassen. "Was wir sehen, ist nur die Spitze des Eisbergs", sagt sie. Der Bedarf nach Hilfe sei sehr gross. Auch die Botschaften von Indonesien und den Philippinen betreiben auf ihrem Gelände eigene Notunterkünfte für Hausmädchen. Im vergangenen Jahr richtete sogar der Staat Singapur selbst ein Heim für Hausangestellte in Not ein.


Offiziell zeichnet das Arbeitsministerium ein rosiges Bild. In einer 2015 durchgeführten Befragung von tausend Hausangestellten sollen laut dem Ministerium 97 Prozent angegeben haben, rundum zufrieden zu sein. Kritische Berichte unabhängiger Organisationen, die davon ausgehen, dass etwa 60 Prozent der Frauen ausgebeutet werden, dementieren die Behörden scharf.


Auf den jüngsten Bericht von Home mit dem Vorwurf der Zwangsarbeit reagierte das Ministerium hochempfindlich, zweifelte dessen Glaubwürdigkeit an und forderte die Organisation auf, die Identität der zitierten Frauen preiszugeben, um diesen auf den Zahn zu fühlen. Eine Frau, deren Deckname im Bericht Indah lautete, machten die Beamten ausfindig und diskreditierten ihre Darstellung in einem "Faktencheck". Nach Darstellung der Behörden soll es falsch sein, dass Indahs Arbeitgeber 40 000 Singapur-Dollar Gehalt gegen ihren Willen zurückgehalten habe. Indah habe dem zugestimmt. Unzutreffend sei auch, dass sie nicht ausreichend Ruhetage gehabt habe - denn sie habe ja einen freien Tag pro Monat bekommen.


Kleine Fortschritte

Trotzdem sieht Sheena Kanwar auch positive Entwicklungen für die Arbeiterinnen. Immer mehr Hausangestellte erhielten schriftliche Arbeitsverträge, obwohl das nicht vorgeschrieben sei, sagt sie. Seit Jahresbeginn dürfen Arbeitgeber die Gehälter nicht mehr einbehalten, sondern müssen diese monatlich auszahlen. Nach Kanwars Eindruck haben vor allem Indonesierinnen und Filipinas in Singapur eigene Netzwerke der Unterstützung aufgebaut und sind sich ihrer Rechte stärker bewusst. "In der Folge werden mehr Fälle von Missbrauch gemeldet und vor Gericht gebracht", so Kanwar.


Ein haarsträubender Fall machte im Frühjahr Schlagzeilen. Ein chinesischstämmiges Ehepaar mit drei Kindern wurde wegen schwerer Misshandlung zweier Hausangestellter aus Burma und Indonesien zu 47 und 24 Monaten Haft verurteilt. Die Hausherrin hatte der Arbeiterin aus Burma unter anderem einen Trichter in den Mund gestopft und ihr eine Mischung aus Reis und Zucker eingeflösst, nachdem diese über Hunger geklagt hatte. Als sie sich übergeben musste, zwang die Arbeitgeberin sie, das Erbrochene zu essen. Kanwar, die beide Opfer aus der Notunterkunft von Home kennt, kritisierte öffentlich, dass sie jahrelang auf Gerechtigkeit warten mussten und keinerlei Entschädigung erhielten.


Die Soziologin Anju Mary Paul, Assistenzprofessorin am Yale-NUS College in Singapur, beschäftigt sich seit langem mit der Arbeitsmigration von Hausangestellten. Sie fordert einen menschlicheren Umgang mit den Frauen. "Die ausländischen Haushaltshilfen werden in Singapur behandelt, als seien sie Menschen zweiter Klasse", sagt Paul. Dies habe vor allem mit deren Geschlecht zu tun, aber auch mit einer Art Klassendenken und teilweise auch mit Stereotypen über bestimmte Nationalitäten, die in Singapur vorherrschten. Paul fordert, wie auch die Organisation Home, Hausangestellte unter das allgemeine Arbeitsgesetz zu stellen. Andernfalls, so warnt die Wissenschafterin, wäre es möglich, dass die Frauen künftig nach Hongkong abwanderten, wo bereits jetzt bessere Arbeitsbedingungen gälten. Auch dort wächst der Bedarf nach Altenpflegerinnen stetig.


"Maids" für den Mittelstand

Während Singapur unter britischer Kolonialherrschaft stand, leisteten sich nur wohlhabende Familien aus China stammende Kindermädchen und Haushaltshilfen. Nach der Unabhängigkeit des Inselstaats wurden Frauen als qualifizierte Arbeitskräfte in der schnell wachsenden Elektronik- und Textilbranche gebraucht. Um erschwingliche Kinderbetreuung und Entlastung im Haushalt zu ermöglichen, richtete die Regierung 1978 das "Foreign Maid Scheme" ein, mit dem Haushaltshilfen aus einer Reihe von südostasiatischen Ländern legal angeheuert werden konnten.

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