Die Antikorruptionsbehörde in Kiew und ihr junger Leiter Artjom Sytnik stehen unter Dauerbeschuss von Staatsanwaltschaft, Geheimdienst und Parlament. Nur knapp verhinderten der IMF und die EU gerade seinen Rauswurf.
Der Mann, der sich mit der gesamten politischen Elite der Ukraine angelegt hat, steht nicht gern im Rampenlicht. Etwas mürrisch bittet Artjom Sytnik zum Gespräch in sein Büro in einem muffigen, sowjetischen Ziegelbau ein wenig abseits des Zentrums von Kiew. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als gelegentlich mit Journalisten zu sprechen, weil sonst die Schmutzkampagne seiner Gegner unwidersprochen bleibt. Feinde hat Sytnik reichlich, seit er vor drei Jahren Direktor des Nationalen Antikorruptionsbüros der Ukraine (Nabu) wurde. Die Behörde ist die Speerspitze des Kampfes gegen die Korruption im Land, die einzige als unabhängig geltende Institution, gegründet unter dem massiven Druck der westlichen Partner, die der Ukraine sonst weder Visafreiheit noch Kredite gewährt hätten. Eigentlich sollte das Nabu mit anderen, ebenfalls unabhängigen Organen zusammenarbeiten. Doch die Regierung bremst deren Einrichtung, seit sie gesehen hat, wie viel Staub allein das Nabu aufwirbelt.
Im 2015 gegründeten Antikorruptionsbüro arbeiten fast 650 vornehmlich junge Leute, die in einem harten Auswahlverfahren ausgesiebt wurden. Sie verdienen hier besser als in anderen Behörden, denn sie sollen motiviert und unbestechlich sein, vor allem die 250 Ermittler, die mehrere Wochen lang beim FBI in den Vereinigten Staaten ausgebildet werden. "Wir haben die Besten der Besten", sagt Sytnik. "Leute, die das Land wirklich verändern wollen." Es ist einer der wenigen Momente, in denen er ohne Bitterkeit lächelt.
Sytnik selbst ist gerade 38 Jahre alt, doch er wirkt älter, wie jemand, der zu wenig schläft und zu viele Sorgen hat. "Man gewöhnt sich nie so ganz an den ständigen Druck", sagt er verlegen. Der Jurist stammt aus einem kleinen Örtchen auf halber Strecke zwischen Kiew und der Krim. Er hat in seinen Zwanzigern schon in der Staatsanwaltschaft gearbeitet. Doch 2011 warf er das Handtuch, "weil sich ehrliche Leute unter Präsident Janukowitsch dort nicht verwirklichen konnten". Als das Parlament nach der Maidan-Revolution das Gesetz zur Gründung des Nabu verabschiedete, reichte Sytnik seine Bewerbung ein. Er habe nicht geglaubt, dass man ihn unter 180 Kandidaten als Direktor aussuchen würde, sagt Sytnik.
Möglicherweise haben die Mächtigen den jungen Anwalt unterschätzt. Doch Sytnik führt den Krieg, zu dem er angetreten ist, konsequent. Binnen zweier Jahre haben seine Ermittler 500 Fälle aufgegriffen und rund 100 zur Anklage gebracht. "Wir nehmen nicht gezielt Beamte oder Politiker unter die Lupe, wie uns oft vorgeworfen wird, sondern Korruptionsnetzwerke", sagt Sytnik. Die Ermittlungen beträfen meist staatliche Institutionen oder Staatsunternehmen, die Quellen der politischen Korruption.
Als im März dieses Jahres Roman Nasirow festgenommen wurde, der Leiter der staatlichen Steuerbehörde, sah es aus, als könne das Nabu tatsächlich das Land verändern. Sytnik wirft Nasirow Amtsmissbrauch vor. Er soll den Staat um fast 80 Millionen Dollar gebracht haben, indem er dem flüchtigen Oligarchen Oleksandr Onyschtschenko half, Steuern zu hinterziehen. Schlagzeilen machte auch die Anklage gegen Nikolai Martynenko, den langjährigen Vorsitzenden des Parlamentsausschusses für Energie, der 17,3 Millionen Dollar unterschlagen haben soll, weil er gemeinsam mit dem staatlichen Energieunternehmen Naftogaz Urankonzentrat zu überhöhten Preisen verkaufen liess. Besonders viel Aufsehen erregte der Fall von Borislaw Rosenblat, einem Abgeordneten der Präsidentenpartei, der dabei gefilmt wurde, wie er einer verdeckten Ermittlerin des Nabu ins Netz ging, die sich als Vertreterin einer Firma aus den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgegeben hatte. Rosenblat erklärte sich bereit, gegen ein stattliches Schmiergeld eine gesetzliche Regelung des Bernsteinabbaus durchzubringen.
Zu Sytniks grosser Frustration werden alle hochrangigen Fälle, die zur Anklage gekommen sind, bis anhin von den zuständigen Gerichten verschleppt. Doch erst wenn das Urteil gesprochen ist, sehen die Mächtigen, dass Korruption für sie gefährlich werden könnte. Dafür fehle allerdings der unabhängige Antikorruptionsgerichtshof, dessen Einrichtung der Präsident immer wieder verspricht und dann doch verzögert.
Mit der Bekanntheit der Angeklagten wuchs der Druck auf das Nabu. "Wir kommen näher heran an jene Leute, die über Geld, Medien und administrative Ressourcen verfügen", sagt Sytnik. "Es wird für die Elite zu einer Überlebensfrage." Je stärker sich die Mächtigen bedroht fühlten, desto stärker sei die Gegenwehr. Hätten die Angriffe zunächst nur die Beschränkung der ohnehin limitierten Vollmachten des Nabu zum Ziel gehabt, gehe es jetzt auch um die Existenz der Behörde.
Der Wendepunkt war die Festnahme von Alexander Awakow, dem Sohn des mächtigen Innenministers Arsen Awakow, Ende Oktober. Das Nabu verdächtigt ihn, am Verkauf von Rucksäcken an das Militär verdient zu haben. Awakow senior, der das Nabu zunächst als Gegengewicht zum Präsidenten Petro Poroschenko unterstützt hatte, entzog der Behörde daraufhin den Rückhalt. Es folgte ein offener Kampf. Ende November liessen Generalstaatsanwalt Juri Luzenko und der Geheimdienst SBU eine verdeckte Ermittlung des Nabu platzen. Sytnik spricht von einem "Akt der Sabotage". Ein Ermittler, der Beweise dafür liefern sollte, dass die Einwanderungsbehörde Pässe verkauft, wurde verhaftet. Luzenko, ein Mann ohne juristische Ausbildung, der den Posten in der Staatsanwaltschaft allein seiner Loyalität zum Präsidenten verdankt, warf dem Nabu illegale Ermittlungsmethoden vor und verbreitete die Klarnamen von Agenten auf seiner Facebook-Seite. Der junge Leiter des Nabu sei der Verantwortung leider nicht gewachsen, erklärte Luzenko, dessen Pressesekretärin auf eine Interview-Anfrage nicht reagierte.
Bei der Erwähnung des Generalstaatsanwaltes verliert der sonst kontrollierte Sytnik die Contenance. "Wir haben denen gesagt, dass die Daten dieser Leute ein Staatsgeheimnis sind", poltert er und schlägt bei jeder Silbe mit den Händen auf den Tisch. "Staatsgeheimnisse zu verraten, ist absolut inakzeptabel." Luzenkos Vorwurf, das Nabu führe illegale Abhöraktionen durch, sei zudem lächerlich, weil die Behörde gar nicht eigenständig abhören dürfe. Man sei in dieser Beziehung vollständig auf die Kooperation mit dem Geheimdienst angewiesen. Gerade deshalb stehe jede Operation unter einem hohen Risiko des Verrats. "Der SBU weiss immer, gegen wen wir gerade ermitteln."
Wenige Tage vor dem Treffen Mitte Dezember hat Sytnik die bis anhin schwerste politische Attacke gegen ihn nur knapp überlebt. Während er in Washington mit Vertretern des Internationalen Währungsfonds (IMF) sprach, setzten die beiden stärksten Parlamentsfraktionen Block Poroschenko und Volksfront in Kiew einen Gesetzesentwurf auf die Tagesordnung, der es erlaubt hätte, Sytnik per Mehrheitsentscheid zu entlassen. Nur weil die IMF-Chefin Christine Lagarde laut Medienberichten Poroschenko anrief und mutmasslich drohte, Kredite zurückzuhalten, und weil die EU angeblich andeutete, die Visafreiheit für Ukrainer neuerlich auf den Prüfstand zu stellen, verschwand das Gesetz über Nacht von der Tagesordnung. Doch Sytnik bereitet sich schon auf den nächsten Angriff vor. "So einfach geben die nicht auf."
boy. Kiew. Sie sind wieder da, die geduckten Militärzelte, die in rostigen Tonnen qualmenden Holzfeuer und die wütenden Männer, die Tag und Nacht vor ihnen Wache halten. Wenn ukrainische Abgeordnete dieser Tage aus den Fenstern des Parlamentsgebäudes schauen, blicken sie auf ein Protestlager mit mehreren Dutzend Zelten. Darum herum ist fein säuberlich ein Zaun gezogen, Autos müssen einen Umweg fahren. Polizisten halten ein Auge auf das Treiben, und ein Krankenwagen parkiert dauerhaft an der Strassenecke. Seit Mitte Oktober duldet die Staatsmacht das Camp, aber sie hält sich bereit für den Fall, dass es zu gewaltsamen Ausschreitungen kommt wie 2014 während der Revolution auf dem Maidan.
Damals hatten Demonstranten im Zentrum von Kiew ein vielfach grösseres Protestlager eingerichtet, um den erzkorrupten Präsidenten Wiktor Janukowitsch zu vertreiben, der die Ukraine weg von der Europäischen Union und näher an Russland heranführen wollte. Der anfangs friedliche Massenprotest schlug später in Gewalt um, die sowohl von der Staatsmacht wie auch von paramilitärischen Gruppen auf der Seite der Revolutionäre ausging.
Auf dem neuen "Mini-Maidan" vor dem Parlament ist es bin anhin meistens ruhig geblieben. Doch Micheil Saakaschwili, der frühere georgische Präsident, der sich zum nächsten Revolutionsführer der Ukraine aufzuschwingen versucht, scheint auch gewaltsame Aktionen seiner Anhänger zu dulden. Am Sonntag endete eine Demonstration für die Absetzung Poroschenkos mit bis zu 10 000 Teilnehmern in einer unschönen Keilerei. Eine Gruppe um Saakaschwili versuchte, den Oktober-Palast, eine klassizistische Konzerthalle, zu stürmen. Dieser war während der Maidan-Revolution besetzt worden. Die Polizei meldete 30 Verletzte in den eigenen Reihen. Friedfertige Korruptionsgegner distanzierten sich von dem umstrittenen Georgier und anderen Grüppchen, die Handgreiflichkeiten als legitimes Mittel ansehen.
Dass Saakaschwili überhaupt so grosse Demonstrationen anführt, hat sich die ukrainische Regierung selbst zuzuschreiben. Der Generalstaatsanwalt wirft dem Oppositionellen vor, für das Anzetteln von Protesten bestochen worden zu sein. Er droht mit der Ausweisung an Georgien, wo Saakaschwili wegen versuchten Umsturzes unter Anklage steht. Mit dieser politischen Attacke brachte die Regierung auch Bürger gegen sich auf, die bis anhin keine Sympathien für Saakaschwili hegten.
Die Männer im Protestlager, vor allem Veteranen des Krieges gegen prorussische Separatisten im Osten des Landes, betonen rasch, nicht nur wegen "Mischa" in Schnee und Kälte auszuharren. "Wir wollen das System verändern, damit nicht wieder ein Oligarch Präsident werden kann", sagt ein Mann mittleren Alters in Tarnkleidung, der abends mit Kameraden das Camp bewacht. Auf den Plakaten im Lager hat das Gesicht von Poroschenko diejenigen von Janukowitsch und Putin ersetzt. Dieses Mal wollten sie die Revolution richtig machen, sagen die Nachtwächter. Sie wollen bleiben "bis zum Sieg".