Die Regierung lässt Heime reformieren und bezahlt Pflegeeltern - nicht immer zum Wohl der Waisen.
Für Michail kam die Öffnung der Kinderheime ein paar Jahre zu spät. Als die Heimleitung anfing, mit Fotos in der Zeitung und Aufrufen im Radio nach Pflegeeltern für die Kinder zu suchen, war er schon ein Teenager. Familien nehmen aber am liebsten Säuglinge oder kleine Mädchen auf. Jugendliche, die sich schon rasieren, haben schlechte Chancen. "Michail konnte zu seiner Zeit nicht vermittelt werden", sagt die Heimdirektorin Irina Orlowa entschuldigend.
Mit siebzehn Jahren brauche er sowieso keine Erziehungsberechtigten mehr, wehrt Michail ab. Seine Stimme klingt schon männlich, doch das Lächeln ist noch knabenhaft. In kurzer Hose sitzt der Jugendliche an diesem warmen Tag im Sprechzimmer der Psychologin des Kinderheims Nr. 2 in der sibirischen Stadt Kemerowo. Die Direktorin hat ihn hereingebeten, damit er einer ausländischen Journalistin Fragen beantwortet.
Sie habe Michail für diese Spezialaufgabe ausgewählt, weil er so zielstrebig sei, sagt Orlowa, eine strenge, aber freundliche Dame Mitte fünfzig. Das Lob der Direktorin macht den jungen Mann verlegen. "Mischa möchte beim Katastrophenschutzministerium arbeiten", berichtet die Direktorin im Tonfall einer stolzen Mutter. Mit seinem Charakter würde er gut zu den Rettern passen, findet sie.
Wenn das nicht gelinge, wolle er sich an der Militärakademie in Nowosibirsk und beim Geheimdienst bewerben, sagt Michail. Freunde hätten ihm erzählt, wie "cool" es dort sei. Knaben, die in Russlands Heimen aufgewachsen sind, gehen oft zu den Staatsorganen, aber schlagen nur selten die höhere Laufbahn ein. Es fällt ihnen leichter, sich in einem Kollektiv unterzuordnen, als allein Entscheidungen zu treffen.
Russlands Kinderheime versorgen die Kinder heutzutage mit allem Nötigen, aber sie bereiten nicht gut auf das Leben vor. Nicht so gut jedenfalls, wie es eine funktionierende Familie kann. Zu dieser Erkenntnis ist auch die Regierung gelangt. Hunderte von Heimen wurden deshalb in den vergangenen Jahren geschlossen. Mehr Kinder bleiben trotz Problemen bei den leiblichen Eltern, immer mehr werden bei bezahlten Pflegeeltern untergebracht.
Als Michail drei Jahre alt war, entschied eine Behörde, dass es gefährlich für ihn wäre, weiter bei seinen Eltern zu leben. Seine Familie sei "nicht in Ordnung" gewesen, sagt Michail. Den Eltern wurde das Sorgerecht entzogen. Der Vater ist inzwischen gestorben, die Mutter ruft noch manchmal an. Sehr selten kommt sie vorbei. "Ein enges Verhältnis haben wir nicht."
Kinder wie Michail nennt man in Russland "soziale Waisen". Ihre Eltern sind nicht tot, leben aber so, dass sie es bald sein könnten. Manche trinken, nehmen Rauschgift, sitzen Haftstrafen ab. Andere sind zu arm, um Verhütungsmittel zu kaufen oder eine Abtreibung zu bezahlen. Junge Mütter ohne Partner lassen die Säuglinge im Geburtshaus zurück, weil sie nicht wissen, wohin, und weil es mit Kind schwieriger wird, einen neuen Mann zu finden.
Der russische Staat wirft Menschen schnell ins Gefängnis. Er entzog bis anhin auch schnell und kompromisslos das Sorgerecht und produzierte selbst einen grossen Teil der sozialen Waisen. Die Unterbringung im Heim, dauerhaft oder auf Zeit, war lange das einzige Hilfsangebot an Familien in schwierigen Lebenssituationen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion war der taumelnde junge Staat überfordert von der Menge der verlassenen Kinder. Aus den neunziger Jahren gibt es keine verlässlichen Zahlen, aber 2007 zählte das Bildungsministerium knapp 750 000 Kinder, die nicht in der Obhut ihrer Eltern aufwuchsen, viele bei Grossmüttern oder Tanten, mehr als 180 000 in Heimen. Die Zahl war gewaltig, auch für ein Land von gut 140 Millionen. Die Stadt Kemerowo mit ihren 500 000 Einwohnern betrieb bis vor kurzem noch fünf Einrichtungen für gesunde Kinder zwischen drei und achtzehn Jahren, übrig sind heute noch drei. Landesweit leben gut 70 000 Kinder in staatlichen Einrichtungen.
Die alten Heime, verschlossene Welten hinter hohen Zäunen, standen in einem miserablen Ruf. Wer dort aufgewachsen und unterrichtet worden war, galt als Verlierer und Unglücksrabe. Die Lokalzeitungen weisen noch immer gerne darauf hin, wenn es sich bei einem Räuber oder Rowdy um einen "Detdomowez" handelt, einen aus dem Kinderheim. Lange waren die Russen, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, wenig geneigt, diese Kinder bei sich aufzunehmen. Die schlechten Gene der Eltern würden sich durchsetzen, glaubten die meisten.
Wie sehr sich die Kinderheime unterdessen der Welt geöffnet haben, zeigt sich daran, wie flink und freundlich das Jugendamt in Kemerowo auf die Anfrage dieser Zeitung reagiert. Mit einer Fotografin ein Kinderheim besuchen? Kein Problem. "Wir zeigen Ihnen alle drei Heime." Wenige Tage später folgt das Programm. Der Besuch ist Raum für Raum durchgeplant. Widerspruch zwecklos. Die Anstalt in Kemerowo möchte zeigen, wie gut sie das neue nationale Kinderheimgesetz vom September 2015 umsetzt.
Das Gesetz wurde geschrieben, um das Leben der Kinder zu individualisieren. Es schreibt Kleingruppen von höchstens acht Kindern vor anstelle riesiger Schlafsäle; eine feste Bezugsperson statt wechselnder Schichtarbeiterinnen; den Besuch öffentlicher Schulen statt Unterricht im Heim; Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen statt Abschottung; soziale Adaption statt Rundumversorgung. Kinder sollen lernen, mit Geld umzugehen, selbst aufzuräumen und Kartoffeln zu schälen. So will man sie auf die Unterbringung in Familien vorbereiten, den alten oder den neuen.
Vor Michails Zuhause, dem Kinderheim Nr. 2, wartet eine wohlfrisierte Damenriege, allen voran die Direktorin Orlowa. Das zweigeschossige Heim aus Stahlbetonplatten wirkt mit seinen fast 5500 Quadratmetern Fläche wie eine grosse, leere Schule. Im Jahr 2014 lebten hier noch 249 Kinder, übrig sind 119, weil Orlowa ihre neue Aufgabe höchst effizient erledigt: Fotos, Steckbriefe und Videofilme der Kinder sind in sämtlichen Regionalmedien gezeigt worden und finden sich auch in Waisen-Datenbanken im Internet, die von Nichtregierungsorganisationen gefüttert werden. Flyer mit Informationen über die Pflegeelternschaft wurden in Bussen und Coiffeursalons, Banken und bei Elternabenden ausgelegt.
Aus Kemerowo, aber auch aus Moskau und anderen weit entfernten Städten kamen Leute und holten Kinder ab, vor allem kleine Mädchen. Alle Kinder, die leicht zu vergeben waren, haben inzwischen Familien gefunden. Orlowa zeigt eine Foto zweier adretter Geschwister im Grundschulalter, eines Knaben und eines Mädchens. Die neuen Eltern haben sie geschickt. "Als die beiden im Kinderheim waren, sahen sie nicht so hübsch aus", sagt sie. Man sehe Kindern das Heim an, meint Orlowa nachdenklich - "die fehlende Zuwendung".
Binnen vier Jahren hat sich auch Orlowas pädagogische Mannschaft halbiert - von 74 Mitarbeitern auf 32. Nun wirken die breiten Flure, die Bibliothek mit Lesesaal, die Tanz- und Turnsäle, die Werkstatt und die Kunsträume, die Logopädenbüros, das kleine hausinterne Museum und die orthodoxe Hauskirche mit den goldenen Ikonen oft etwas verlassen.
Alle drei Heime präsentieren sich tadellos, aber steril. Im Lesesaal des Kinderheims Nr. 2 diskutieren die älteren Kinder wie zufällig über Werke des Nationaldichters Alexander Puschkin. Im Werkraum kleben Grundschüler aus Problemfamilien, die nur kurzzeitig im Heim sind, Collagen aus buntem Karton. Im Tanzsaal hüpfen schlanke Mädchen beeindruckend synchron. Die Zweierzimmer der Kinder sehen aus, als wohnte dort niemand. Kahle Wände und Kopfkissen, denen jemand einen Handkantenschlag versetzt hat. In einem Zimmer übt der neunjährige Anton mit Mikrofon und Begleitmusik "Lasciate mi cantare" für einen Gesangsauftritt beim Festival der Waisenkinder am nächsten Tag. Das hübsche blonde Kind aus Sibirien singt dabei akzentfrei Italienisch.
Im Kinderheim Nr. 2 hat der Architekt seiner Zeit vorausgedacht. Hier gibt es schon die kleinen Wohneinheiten mit Doppelzimmern, die das Gesetz nun fordert. In einem der beiden anderen, kleineren Heime entschuldigt sich die Direktorin. Hier schlafen auch Teenager noch in grossen Schlafsälen mit jeweils 15 schmalen Betten. Der Umbau stehe noch aus, sagt sie. Die Regionen müssen die Kosten dafür selbst auftreiben.
Die Öffnung der Heime ist auch ein Erfolg von Russlands neu erwachter Zivilgesellschaft. Als die russische Mittelklasse sich Anfang des vergangenen Jahrzehnts Autos und Ferien im Ausland leisten konnte, wuchs die Zahl derer, die helfen wollten. Gruppen von Freiwilligen besuchten Kinder in Heimen. Sie brachten Kleidung, Nahrungsmittel, Windelpakete, Spielzeug und entlasteten die Erzieherinnen an den Wochenenden. Am Anfang fehlte es an allem.
Nicht immer wurden die Freiwilligen mit offenen Armen empfangen. Die Heimleitungen hatten kein Interesse daran, über die teilweise skandalösen Zustände in ihren Einrichtungen auf Blogs zu lesen. Menschenrechtsorganisationen bestätigten, dass es in den mitunter hoffnungslos unterversorgten Heimen zu Hunger, Vernachlässigung und auch Misshandlungen gekommen sei. Wie kann es sein, dass wir - ein zivilisiertes Land - uns so schlecht um unsere Kinder kümmern?, fragte die neue Mittelschicht den Herrn im Kreml. Präsident Wladimir Putin trat dann 2012 die Flucht nach vorn an und lud Vertreter der Zivilgesellschaft ein, eine "Nationale Handlungsstrategie im Interesse der Kinder" auszuarbeiten, einen Fünfjahreplan. Der öffentliche Druck, aber auch der schwindelerregend schnelle demografische Sinkflug seines Landes mögen ihn dazu bewegt haben. Russland kann es sich buchstäblich nicht leisten, sich nicht um die Kinder zu kümmern, die es schon gibt, während kaum neue geboren werden.
Möglicherweise wollte sich Putin mit der Strategie auch für den folgenden öffentlichen Aufschrei wappnen, den er selbst Ende 2012 auslöste, als er amerikanischen Staatsbürgern die Adoption russischer Kinder verbieten liess. Offiziell regierte der Kreml so auf die Misshandlung russischer Kinder in amerikanischen Familien. Im Juli 2008 war der 21 Monate alte Dima Jakowlew in Virginia verdurstet, nachdem sein Adoptivvater ihn neun Stunden lang im Auto vergessen hatte.
In Wirklichkeit bestrafte Putin die Amerikaner mit dem Gesetz für Sanktionen, die Washington im Zusammenhang mit dem Tod des Anwalts Sergei Magnitski in russischer Untersuchungshaft verhängt hatte. Wie man Politik über das Wohl der Kinder stellen könne, fragten nun nicht nur Leute, die dem Kreml gegenüber kritisch eingestellt waren. Mehr als zehntausend Menschen demonstrierten in Moskau. Die Amerikaner hatten bis zum Verbot 60 000 Kinder adoptiert, mehr als jedes andere Land. Unter den Aufgenommenen waren viele ältere und kranke Kinder, die in Russland bis heute kaum eine Chance haben, eine Familie zu finden. 259 bereits laufende Adoptionsverfahren wurden unterbrochen. Klagen der Eltern blieben wirkungslos.
In einem asiatischen Café im Zentrum von Moskau verabschiedet sich Jelena Alschanskaja noch rasch von ihrer Tochter. Die Leiterin der Organisation "Freiwillige für Waisenkinderhilfe" gilt vielen auf ihrem Gebiet als Guru. Die gebürtige Lettin berät als Vertreterin der Zivilgesellschaft die Regierung, hat an der nationalen Strategie und am Gesetz über die Reform der Kinderheime mitgearbeitet. Obwohl Alschanskaja das Adoptionsverbot weiterhin für Unsinn hält, weiss sie, dass der dadurch entstandene Druck auf die Regierung geholfen hat, ihre Anliegen schneller durchzusetzen. "Mit der Reform der Heime ist ein erster Schritt getan." Wie sie umgesetzt werde, müsse man abwarten. Alschanskaja weiss, dass in den Regionen manchmal der Wille und noch öfter das Geld fehlt.
Die Heime umzukrempeln, reiche ohnehin nicht aus, um den Familien zu helfen, meint sie. Fast überall fehlen Frauenhäuser, Krisenzentren, an die sich junge Mütter wenden können, wenn sie vor der Entscheidung stehen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Alschanskajas Organisation betreibt selbst ein solches Haus im Moskauer Umland. "Weit mehr als 50 Prozent der Frauen entscheiden, ihre Kinder bei sich zu behalten, wenn man ihnen die richtige Hilfe anbietet", sagt sie. Es geht um psychologische Unterstützung und finanzielle Hilfe. Häufig fehlt einfach eine Wohnung.
Fälle wie jener von Michails Eltern sind etwas seltener geworden. Jugendämter leiten seltener den Entzug des Sorgerechtes ein, Richter entscheiden seltener gegen die Eltern. Im Jahr 2011 wurde den Vätern und Müttern von 58 000 russischen Kindern das Sorgerecht entzogen, 2016 betraf dies noch 40 000 Kinder. "Die Einstellung der Gesellschaft hat sich geändert", sagt Alschanskaja. Nun arbeitet sie daran, dass das Gesetz angepasst wird. Es sollen klare und faire Regeln für alle gelten.
Kritisch sieht Alschanskaja die mittlerweile massenweise Vergabe von Heimkindern an Pflegeeltern. "Es hat sich ein solcher Enthusiasmus für die Pflegeelternschaft verbreitet, dass es fast keine Beschränkungen oder Kontrollen gibt", sagt Alschanskaja. Hauptsache, die Kinder sitzen nicht mehr im Heim, so laute das Credo. Gouverneure unterbieten sich gegenseitig bei den Heimkinderzahlen, nicht immer zum Wohl der Kinder.
Gemäss den neuen, vereinfachten Regeln darf eine Pflegschaft übernehmen, wer nicht vorbestraft ist, ein minimales Einkommen nachweist und einen zweimonatigen Abendkurs an einer sogenannten "Schule für Pflegeeltern" absolviert. Auch Alleinstehende können Pflegeeltern werden. "Diese Leute dürfen sich dann ein Kind aussuchen und es mitnehmen", sagt Alschanskaja. "Die Interessen des Kindes werden dabei nicht besonders berücksichtigt." Ob die Eltern wirklich geeignet sind, wird kaum überprüft. Und im Anschluss fehlt oft die Begleitung durch den schwierigen Umgewöhnungsprozess. Manchmal geben die Eltern die Kinder dann zurück ins Heim.
Um die Vergabe in die Familien zu erleichtern, hat der Staat finanzielle Anreize geschaffen. Pflegeeltern bekommen im Unterschied zu Adoptiveltern ein nach Region variierendes, aber für russische Verhältnisse ansehnliches Gehalt und diverse Vergünstigungen bei Wasser, Strom und Gas. Manche haben mindestens dem Anschein nach ein Geschäft daraus gemacht, nehmen ein Dutzend Kinder zu sich und eröffnen de facto ein privates Kinderheim zu Hause. Elternverbände beklagen deshalb die "Kommerzialisierung der Elternschaft" und sehen leibliche und Adoptiveltern benachteiligt gegenüber Pflegefamilien.
Einige traurige Skandale hat das neue System schon produziert. Anfang des Jahres machte eine Familie in Moskau Schlagzeilen, die ihre zehn Pflegekinder misshandelt haben soll. Alle gingen zurück ins Heim. Auch anderswo gab es Missbrauchsvorwürfe. Sträfliche Vernachlässigung kommt häufiger vor. Der Abgeordnete Sergei Bostrezow reagierte auf die Debatten in den Medien und schlug vor, die Zahl der Kinder für Pflegefamilien auf drei zu beschränken. "Kinder sind keine Gänse, die man im Dutzend weggeben kann", sagte Bostrezow.
Aljona Tschuklina hat nach den bösen Schlagzeilen Angst, wenn sie eines ihrer drei Pflegekinder mit einem blauen Fleck in den Kindergarten oder die Grundschule schicken muss. "Aber ich kann ja nicht verhindern, dass sie sich beim Spielen verletzen." Die Buchhalterin wohnt mit ihrer Familie am Südrand von Moskau in einem Hochhaus zwischen grünen Bäumen.
Nach der Geburt ihres ersten Sohnes Arseni vor fast neun Jahren haben Tschuklina und ihr Mann lange vergeblich versucht, weitere eigene Kinder zu bekommen. Irgendwann haben sie angefangen, sich nach Waisenkindern umzusehen. Eigentlich wollten sie nur einen kleinen Jungen aufnehmen, aber als Tschuklina die Fotos der - heute acht, sechs und vier Jahre alten - Geschwister Arina, Olga und Nikita auf der Internet-Seite eines Jugendamtes bei St. Petersburg entdeckte, verliebte sie sich sofort in die Kinder. "Der leibliche Vater der drei ist ein Trinker, die Mutter gab sie im Heim ab, zunächst für sechs Monate", sagt Tschuklina. Dann war sie verschwunden. Seit zwei Jahren leben die Kinder bei der Familie Tschuklin in Moskau. Während des ersten Jahres waren beide Eltern zu Hause, nun fährt Anton Tschuklin wieder jeden Tag zur Arbeit ins staatliche Innovationszentrum Skolkowo. Seine Frau hat ihren Beruf aufgegeben und kümmert sich als professionelle Pflegemutter um die Kinder.
Wer nicht weiss, dass die drei Jüngeren keine leiblichen Kinder sind, würde es nicht vermuten. In der Dreizimmerwohnung gehen alle so vertraut miteinander um, als sei es nie anders gewesen. Doch Tschuklina erinnert sich an die schwierige Eingewöhnung. Die Kinder hatten zwei volle Jahre im Heim gelebt. Es dauerte einige Wochen, bis sie sich an Umarmungen gewöhnt hatten. Ursprünglich hatte das Ehepaar die Kinder adoptieren wollen, damit sie vor dem Gesetz eine richtige Familie würden. Doch weil die Mutter nicht auffindbar ist, wäre dies kompliziert. Ausserdem würden die drei das Anrecht auf eine Wohnung verlieren, die der Staat Heimkindern zur Volljährigkeit schenkt.
Michail in Kemerowo hat ebenfalls Anspruch auf eine solche Wohnung, aber die Region kommt mit dem Erstellen von neuen Wohnbauten nicht nach. Falls er eine Stelle bei den Sicherheitsbehörden findet, wird er ohnehin im Wohnheim leben. Michail hat die kurze Hose gegen eine Garde-Uniform getauscht. Er spielt Tuba in einem Park mit der Big-Band des Kinderheims. Auch ohne die Aufsicht der Direktorin Orlowa spricht der Jugendliche ausnehmend positiv über seine Erfahrungen im Heim. Was sich in den letzten Jahren geändert habe? "Wir unternehmen viel mehr." Seit einiger Zeit fährt er an den Wochenenden seine Grossmutter besuchen. Das ist eine weitere Neuerung der Heimleitung. Ein bisschen hat auch Michail von der Öffnung profitiert.
boy. · Die russische Bevölkerung könnte bis 2035 von derzeit 144 Millionen Menschen (ohne die Halbinsel Krim) auf gut 138 Millionen schrumpfen. Dies geht aus Prognosen für Geburten- und Sterbezahlen der staatlichen Statistikbehörde Rosstat hervor. Während die Statistiker für 2017 und 2018 noch Stillstand beziehungsweise ein minimales Wachstum der Bevölkerung vorhersehen, werden von 2019 an jedes Jahr erheblich mehr Russen sterben als geboren werden. Von 2025 an verliert das Land, insofern keine dramatische Trendwende eintritt, jährlich mehr als 300 000 Menschen. Die Geburtenrate von 1,7 Kindern pro Frau ist zu niedrig, um den Verlust auszugleichen, zumal die Zahl der gebärfähigen Frauen in den kommenden Jahren deutlich abnehmen soll. Es ist kaum vorstellbar, dass Russland dies allein durch Zuwanderung ausgleichen kann, auch weil die Regierung keine Anstalten macht, diese zu stimulieren. Die Zahlen strafen Präsident Wladimir Putin Lügen, der seine Familienpolitik gern als Erfolg darstellt. In Wahrheit scheint die Zahlung des sogenannten "Mutter-Kapitals" den negativen Trend nicht umkehren zu können. Seit 2006 lässt Putin umgerechnet 11 000 Franken an Frauen zahlen, die mindestens zwei Kinder bekommen. Russland hat trotzdem eine der höchsten Abtreibungsraten der Welt. Die Lebenserwartung ist zwar gestiegen, im Vergleich jedoch weiterhin sehr gering. Sie liegt für Männer bei knapp 67, für Frauen bei 72 Jahren.