Anja Schimanke

Journalistin (Gesellschaft, Soziales, Inklusion), Köln

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Da geht noch was!

Freitagabend - Partyzeit. Kübra und Christian ziehen los, das erste Mal gemeinsam. Die 24-Jährige aus Bochum und der 23-Jährige aus Bonn moderieren seit September die Webshow von JAM!, dem jungen Online-Angebot der Aktion Mensch. Dass sie sich nicht nur vor der Kamera super verstehen, haben die beiden schon beim Casting gemerkt. Und sich gleich zum Feiern verabredet.

Zur ihrer Schulzeit wären sich die beiden vermutlich nie über den Weg gelaufen. Christian ging aufs Gymnasium. Kübra, die Glasknochen hat und seit ihrem sechsten Lebensjahr im Rollstuhl sitzt, besuchte eine Förderschule. „Wenn ich andere Jugendliche außerhalb der Schule traf, haben sie mich oft nicht ernst genommen oder mich wie eine Zwölfjährige behandelt", erinnert sich die Studentin. „Das hat mich tierisch geärgert." ­Kübra trägt ein Nasenpiercing, hat kirschrote Lippen und redet frei Schnauze. Das findet Christian cool. Und auch, dass er für Kübra keine Samthandschuhe anziehen muss. Viele hätten Angst, etwas falsch zu machen im Umgang mit Menschen mit Behinderung, meint Christian. „Was geht und was nicht und wie Menschen mit Behinderung eigentlich behandelt werden wollen, weiß man ja nicht", sagt der Student. Woher auch? Mitschüler mit Behinderung hatten Christian und die meisten seiner Altersgenossen nicht. Vor fünf Jahren besuchten nicht einmal 20 Prozent der Schüler mit Förderbedarf eine Regelschule. Im Schuljahr 2012/2013 lag der sogenannte Inklusionsanteil mit 28,2 Prozent zwar schon etwas höher, Luft nach oben gibt es aber weiterhin reichlich.

© Jochen Manz

Kein Wunder also, dass Freundschaften zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderung Mangelware sind. Denn Schule ist der Ort, an dem junge Menschen Freundschaften schließen. „Wenn sie dort nicht in Kontakt kommen, ist klar, dass sie auch die Nachmittage und Wochenenden getrennt verbringen", sagt Gunda Voigts. Sie ist Wissenschaftlerin am Institut für Sozialwesen der Universität Kassel und auf Kinder- und Jugendarbeit spezialisiert. Hip-Hop tanzen, in einer Band spielen, gemeinsam Sport machen, Theater spielen, sich bei der Jugendfeuerwehr engagieren - solche Angebote nutzen Jugendliche häufig mit Freunden, die sie meist aus der Schule kennen. Was die gemeinsame Freizeitgestaltung von Schülern mit und ohne Behinderung zusätzlich erschwert: Förderschulen liegen in der Regel nicht in der direkten Wohnumgebung, was zu langen Fahrtzeiten führt. Darüber hinaus finden Therapien häufig am Nachmittag statt. Viele Jugendliche mit Behinderung können außerschulische Freizeitangebote am Nachmittag also schon aus zeitlichen Gründen nicht nutzen.

Strukturen verhindern Freundschaften

Dass strukturelle Barrieren das größte Freundschaftshindernis sind, belegt indirekt auch eine Studie der INTEG-Jugend im Sozialverband Deutschland e. V. Die Forscher fragten Jugendliche mit Lernschwäche, welche Themen sie am meisten beschäftigen. Die Antwort: Freizeitaktivitäten, Schul- und Ausbildungsprobleme, Ärger mit den Eltern und Freundschaft - genau die Bereiche, die Gleichaltrige ohne Behinderung bei vergleichbaren Studien angeben. Das legt die Vermutung nahe, dass zwischen Jugendlichen mit und ohne Behinderung in puncto Interessen, Vorlieben, Problemen und Sorgen viel mehr ­Gemeinsamkeiten als Unterschiede bestehen. Es fehlt offenbar nur an Gelegenheiten, das zu entdecken. Natürlich gibt es Einrichtungen, Verbände und Vereine, die inklusive Freizeitaktivitäten wie Theater-, Tanz-, und Musikprojekte und auch Sport für alle anbieten. Aber das Angebot ist noch nicht durchgängig und systematisch aufgebaut. Das liegt auch daran, dass sich die Kinder- und Jugendhilfe in der Vergangenheit schwerpunktmäßig um Familien mit besonderen sozialen Schwierigkeiten bemüht hat. Behinderung als Thema rückt erst seit der UN-Behindertenrechtskonvention wieder verstärkt in den Fokus. Fortschritte sind aber bereits sichtbar. „Es gibt Jugendverbände, die das komplette Nachmittagsprogramm im Rahmen der Ganztagsschule organisieren - das ist eine tolle Entwicklung!", nennt Voigts ein Beispiel. Damit Schulen, Vereine und Jugendzentren leichter inklusive Freizeitangebote aufsetzen oder optimieren können, hat die Wissenschaftlerin zusammen mit der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland e. V., der Aktion Mensch und der Diakonie Deutschland einen Inklusions-Check entwickelt. Mit Hilfe dieses Instruments, das aus einer detaillierten Check- und Frageliste besteht, können Anbieter überprüfen, wie inklusiv ihre Jugendarbeit bereits ist, ob sie ihr Programm für Kinder und Jugendliche mit Behinderung (weiter) öffnen wollen und welche Schritte als Nächstes sinnvoll sind. „Damit es für Jugendliche mehr gemeinsame Freizeitaktivitäten gibt, muss sich aber auf jeden Fall die Schule verändern", sagt Gunda Voigts. „Der Rest passiert dann fast automatisch." Denn Herkunft, Religion oder Behinderung spielten keine besondere Rolle für Jugendliche - wenn sie denn Gelegenheit hätten, sich kennenzulernen.

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