Anja Schimanke

Journalistin (Gesellschaft, Soziales, Inklusion), Köln

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Immer weitermachen!


Wenn Ella Balkow an ihren ersten Schultag vor 96 Jahren denkt, fallen ihr die verletzten Soldaten ein. Die waren im Schulgebäude von Insterburg in Ostpreußen untergebracht, das zu der Zeit als Lazarett diente; der Unterricht musste woanders stattfinden. „Die Soldaten standen an den Fenstern und winkten uns neuen Schulkindern zu. Wir winkten mit einem etwas mulmigen Gefühl zurück." Es ist das Jahr 1918, der Erste Weltkrieg noch nicht vorbei. Wirbel wurde um die Einschulung der kleinen Ella nicht gemacht. Eine Schultüte? Gab's nicht. Nur eine Mappe hatte ihre Mutter für sie genäht, darin Fibel, Schiefertafel, Griffel und zwei Schwämme. „Den einen mussten wir feucht halten, der andere blieb trocken."

Mit 50.000 Mark zum Schulausflug

Ella Balkow wurde Anfang des letzten Jahrhunderts geboren - im März 1912 - und erzählt aus der Vergangenheit, als wäre sie gestern gewesen. Mit ihrem grauen Haar und ihrer komplett in Schwarz-Weiß gehaltenen Garderobe wirkt sie wie aus einem alten Fotoalbum entsprungen. Dass es in ihrer Kindheit kaum Autos und keine Ampeln gab, findet Urenkel Philipp, 17, „krass".

Bei Mutsch, wie Ella Balkow von ihrer Familie genannt wird, wird nichts dazugedichtet, nichts weggelassen. Am Esstisch ihres Hauses, in dem sie seit 45 Jahren lebt, schreibt die ehemalige Büroangestellte ihre Erinnerungen auf. Dabei denkt sie hauptsächlich an ihre insgesamt zwölf Enkel und Urenkel. „Sie sollen wissen, wie das damals war", findet Ella Balkow. Mal amüsant, mal bewegend, immer optimistisch berichtet die gebürtige Ostpreußin aus ihrem erlebnisreichen Leben. Und von ganz persönlichen Ereignissen wie dem Schulausflug, zu dem die damals Elfjährige Butterbrote mitbekam - und 50.000 Mark! „Davon sollte ich mir etwas zu trinken kaufen. Ich weiß noch, dass ich dafür ein Glas Sprudel bekam", erzählt sie über die große Inflation, die bis 1923 dauerte. „Ich denke nicht immer an alte Zeiten, aber bei aktuellen Sachen erinnere ich mich an frühere Situationen. Die bleiben im Kopf."

Die Erinnerung an den Schulausflug und weitere Begebenheiten hat Ella Balkow jetzt veröffentlicht: „Der Kalender der Hundertjährigen" - zwölf Motive, zwölf Geschichten, vorne Kalendarium und Naturbilder, auf der Rückseite jeweils ein einzelnes Erlebnis. „Alle Begebenheiten haben mich berührt und liegen mir besonders am Herzen", erklärt die fortschrittliche Seniorin, die ihren Kalender mithilfe von Crowdfunding finanziert hat. Einen Computer besitzt Ella Balkow zwar nicht, aber das Internet und die neuen Medien interessieren sie.

„Mutsch schafft es, stets in der Gegenwart zu sein. Sie jammert nicht oder blickt gar anklagend zurück, sondern geht bescheiden und gelassen durchs Leben", sagt Enkelin Natalie, 45. „Das bewundere ich besonders an ihr." Natalie Balkow ist Biografin von Beruf, das Bewahren von Lebensgeschichten ihre Leidenschaft. Damit das Herzensprojekt ihrer Oma realisiert werden konnte, hat sie deren Aufzeichnungen abgetippt und anschließend gemeinsam mit ihrem Vater, Ella Balkows ältestem Sohn Dieter, und ihrer Oma überarbeitet. „Einige Geschichten kannten wir natürlich bereits aus Mutschs früheren Erzählungen, vieles war uns aber auch völlig neu", resümiert Natalie. Obwohl sie immer viel erzählt und miteinander gesprochen hätten.

Die Kalendergeschichten sind allesamt neu verfasst. Sie wurden komprimiert und zum besseren Verständnis für Nichtfamilienmitglieder mit entsprechenden Informationen ergänzt. Einige Erlebnisse, die Ella Balkow schildert, hat ihr Sohn selbst miterlebt. Allerdings aus Kinderperspektive. „Manch dramatische Geschichte war für mich als Kind ein Abenteuer, wenn auch ein sehr bedrohliches", erinnert sich Dieter Balkow. Durch den Austausch während ihres Vier-Generationen-Projekts hat er eine andere Sicht auf die Ereignisse bekommen.

Was der Dialog auch hervorbrachte: Ella Balkows Gefühlswelt. „Über ihre Emotionen spricht die ältere Generation nicht gern", weiß Natalie und hat den Kalender zum Anlass genommen, ihre Oma immer wieder gezielt zu fragen: Welches waren glückliche Momente? Was erlebte sie als junge Frau auf der Flucht mit drei kleinen Kindern, was in der Nachkriegszeit? Was berührte sie, was trieb sie an, und woran wäre sie fast verzweifelt? Das herauszukitzeln, war sehr spannend, so die Enkelin. Die Gespräche haben das innige Verhältnis der beiden Frauen noch intensiviert. „Wenn andere Familien den Kalender zum Anlass nehmen, miteinander zu reden, dann haben wir unser Ziel erreicht: die Generationen zusammenzubringen!" 2015 wollen sie ihr nächstes Vorhaben starten: den „Kalender der Hundertjährigen - Folge 2". Dann sollen zwölf Hundertjährige mit jeweils einer Geschichte pro Monat zu Wort kommen. Schirmherrin ist Ella Balkow. Ein Projekt, das ganz dem Balkowschen Motto entspricht: „Immer weitermachen!"

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