Ein kleiner, fester Knubbel! Groß wie eine Erbse ist er und ungefähr hier, erklärt die Patientin mit dem nackten Oberkörper und zeigt dabei mit dem Finger auf ihre rechte Brust. „Oh, Entschuldigung, ich vergesse immer, dass Sie ja nichts sehen können", sagt sie und wird rot. „Schon gut, lassen Sie mich gleich mal fühlen", sagt Pia Hemmerling, während sie fünf Streifen mit Tastpunkten senkrecht auf den Brustkorb klebt – eine Art Koordinatensystem, das der 26-jährigen als Orientierung dient und die Brust in vier Zonen einteilt, die sie jetzt nacheinander systematisch mit ihren Fingern abtasten wird.
Pia ist keine Ärztin. Sie ist eine Medizinische Tastuntersucherin, kurz MTU. Sie verfügt im Moment noch über einen Sehrest zwischen zwei und fünf Prozent und kann somit als MTU arbeiten. Denn Blindheit oder eine starke Sehbehinderung sind Voraussetzung für diesen Job. Pia Hemmerling arbeitet seit vier Jahren in einer Praxis in Hamburg und tastet nach Auffälligkeiten in der Brust von Patientinnen, wenn diese das als Extraleistung zur Brustkrebsvorsorge wünschen. Wie viele Tastuntersuchungen sie schon hatte, weiß Pia ganz genau: Heute ist es ihre 1.100!
Begabung statt Behinderung
„Geben Sie mir doch mal ihre Finger", sagt die Patientin und man merkt ihrer Stimme an, dass sie ängstlich ist. Pia Hemmerling tastet vorsichtig mit ihren Fingern die Stelle mit dem erbsengroßen Knubbel ab. Nicht nur die Größe, auch Konsistenz, Oberflächenstruktur und wie tief er sich im Brustgewebe befindet, bestimmt sie in Gedanken.
Über eine halbe Stunde tastet, fühlt, drückt Pia Hemmerling mit ihren geschulten Fingern Zentimeter für Zentimeter das Brustdrüsengewebe. Auch wenn sie etwas tastet, was nicht da hingehört und auffällig ist, heißt es noch lange nicht, dass es sich dabei um etwas Bösartiges handeln muss.
„Ich verbiete mir ein Urteil und stelle keine Diagnosen!", erklärt Marie-Luise Voll, die als MTU in einer Praxis in Duisburg arbeitet. „Das kann ich auch gar nicht – ich bin schließlich kein Arzt!" Früher war sie Krankenschwester bis sie am Grünen Star erkrankte und erblindete. Heute hat sie drei Patientinnen vormittags, drei am Nachmittag. „Nicht mehr als sieben, dann lässt die Konzentration nach und die Finger werden müde", hat Marie-Luise festgestellt, die ihren Fingern mit Cremes und Bädern viel Pflege zukommen lässt. Sensibel müssen aber nicht nur ihre Hände sein. „Als MTU bekommt man viel erzählt", sagt sie, darunter sehr Persönliches und manchmal würde man auch mit Leid konfrontiert. Dann muss sie trösten können.
Marie-Luise ist mit ihren 61 Jahren die älteste Medizinische Tastuntersucherin, Pia die jüngste. Insgesamt sind zurzeit 14 blinde oder stark sehbehinderte Frauen als Medizinischen Tastuntersucherin in Arztpraxen und Kliniken bundesweit im Einsatz – und es sollen mehr werden. Denn der Bedarf an MTUs steigt. Bereits 50 weitere Gynäkologen wollen in ihren Praxen eine Tastuntersuchung anbieten, als Ergänzung zu anderen Krebsvorsorgemaßnahmen, nicht als Ersatz. Wenn es einen Befund gibt, wird dieser am PC in eine Tabelle eingetragen und dem Arzt mitgeteilt. Der sieht sich die Stelle mit Hilfe des Ultraschalls dann genauer an. Eine harmlose Zyste, ist es im Fall von Pia Hemmerlings Patientin.
Tasten kann Leben retten
70.000 Frauen erkranken jedes Jahr in Deutschland an Brustkrebs, 17.000 sterben jährlich an der Krankheit. „Das A und O der Früherkennung ist es den Tumor in der Brust zu entdecken, wenn er noch sehr klein ist", erklärt Dr. Frank Hoffmann. Findet man Brustkrebs, wenn er unter zwei Zentimeter groß ist und die angrenzenden Lymphknotenstationen noch nicht erreicht hat, liegen die Chancen ihn heilend zu behandeln bei über 90 Prozent!
Frank Hoffmann ist seit über 20 Jahren Frauenarzt. Die Brust nach Veränderungen abzusuchen gehört zu seinen Aufgaben. Die Zeit, die ihm dafür zur Verfügung steht, oft nur wenige Minuten, sei nicht optimal, sagt der Gynäkologe – und das Ergebnis leider auch nicht. „Da hat man als Arzt ein mieses Gefühl", gibt der 54-Jährige zu und hatte 2006 die innovative Idee: Den Tastsinn von blinden und stark sehbehinderten Frauen für die Brustuntersuchung einzusetzen. Dafür werden sie neun Monate lang in einer Weiterbildungsmaßnahme qualifiziert, die Frank Hoffmann entwickelt hat und „discovering hands" nennt – entdeckende Hände.
Zukunftsvisionen
Den Beruf der MTU können blinde Frauen ihr Leben lang machen, freut sich Marie-Luise, selbstbestimmt ohne Hilfe und finanzielle Unterstützung vom Amt. Natürlich wären auch Männer als MTU denkbar. Wenn es nach Hoffmann ginge, würde der Tastsinn auch bei Untersuchungen von Hoden, Prostata und Schilddrüse eingesetzt. Doch zurzeit kämpft er gerade dafür, dass mehr Rehabilitandinnen von der Weiterbildungsmaßnahme erfahren und sich zur MTU qualifizieren lassen. Zukünftig soll es sogar eine Ausbildung geben, die schon für Schulabgängerinnen geöffnet ist. Was Pia Hemmerling an ihrem Beruf Spaß macht? „Es ein schönes Gefühl etwas Außergewöhnliches zu machen und damit Gutes am und für Menschen zu tun."
Weitere Infos gibt es bei discovering hands.