Anja Mylius

Freie Journalistin, Redakteurin und Texterin, Timmendorfer Strand

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Kolumne

Foto-Magazin LOGBUCH 004: Danke, liebe Freiheit!

Wütend, aber auch stolz, marschierte ich an einem Novembertag der späten 60er Jahre strammen Schrittes die Rethelstraße in Düsseldorf entlang – graue Stumpfhose, rot karierter Faltenrock, Pulli mit Kakaofleck. Vier Jahre alt war ich damals und erlebte den Hauch der großen Freiheit. Ich hatte sie tatsächlich geschafft, die Flucht aus dem Kindergarten, der mir wie ein Gefängnis vorkam. Mit blassen Aufseherinnen und kleinen fiesen Insassen, die nur darauf bedacht schienen, mir eine Puppe zu entreißen oder mich von der geliebten Schaukel zu schubsen. Während ich so vor mich hin stapfte, bemerkte ich kaum die aufgeregten Stimmen meiner Eltern, die nach mir riefen. Als ich dann, vom Vater eingefangen, auf der Rückbank unseres grünen Volvo Amazon saß, hörte ich die Worte meiner Mutter, die für mich alles Glück der Welt bedeuteten: „Da musst du nie wieder hin!“ Ich war frei.
Zwei Jahre später hatte ich es offenbar meinem kleinkindlichen Mut zu verdanken, dass man mich auf die Maria-Montessori-Schule schickte. „Freies Lernen“ lautete dort die Zauberformel. Und so übte ich freudig das Schreiben, ignorierte jedoch konsequent die Vorschläge der Lehrerinnen, es doch auch mal mit etwas Rechnen zu versuchen. Stattdessen fabulierte ich über Zauberer und deren Hündchen, malte talentfreie Bilder oder kuschelte mit den dort gehaltenen Schul-Hamstern.
Nach diesen süßen Jahren saß ich, bereits lange in meiner neuen Heimat an der Ostsee angekommen, im Chemieraum meines Gymnasiums bei einer schrecklich schweren Klassenarbeit und schaute hinaus auf die sommerliche Lübecker Bucht. Ich begann zu träumen: Ob ich mit Claudia das Butterschiff ihres Vaters kapern könnte? Einfach abhauen, Richtung Irgendwo? Oder das Mofa von Jensi klauen und damit wegdüsen? Einen Rucksack packen und ohne Ziel davontrampen? Nichts da – fort war er, der große Mut zur Freiheit. Ich gab mich geschlagen, versuchte es im Kleinen und beschloss, mir ab und an einen Schultag nach eigenen Vorstellungen zu gestalten: So lag ich vormittags am Strand, alberte mit den Jungs von der DLRG herum und freute mich herzlich, wenn ich mittags meine Eltern ahnungslos vorfand, um dann einträchtig mit ihnen Kotelett mit Blumenkohl zu essen.
Unvermeidlich rückte die Berufswahl näher. Da mein Vater Journalist und mein Held war, fiel mir die Entscheidung leicht. War er doch viel unterwegs, kannte meiner Meinung nach die tollsten Leute und konnte segeln gehen, wenn Andere im Büro schwitzten. Kann es mehr Freiheit geben? Doch als ich strahlend meinen ersten Tag als Volontärin bei einer Lübecker Tageszeitung antrat, erwartete mich die große Ernüchterung. Ich erhielt einen Schreibtisch in der dunkelsten Ecke des Politik-Ressorts und musste auf einer bockigen alten Schreibmaschine Woche für Woche Meldungen schreiben, Telexe sichten und die für mich quälend langweiligen Nachrichten des Tages auswerten. Abhauen? Hinschmeißen? Tausende Gedanken brachen sich erneut Bahn, der große Mut blieb wieder aus, doch das Schicksal hatte gnädige Pläne für mich. Eine Volontärs-Kollegin drängte es ins Ausland und so durfte ich ihren Platz in der Lokalredaktion an der Küste einnehmen. Tschüß, du olles Politik-Grau! Hallo, du blitzblaue See! Tag für Tag war ich nun mit meiner kleinen Charleston-Ente von Timmendorf bis Fehmarn unterwegs. Ich trank Köm mit salzwassergegerbten Fischern, streichelte Galloway-Rinder und frisch getaufte Seelöwenbabys, schüttelte die Hände von Fußballtrainern, Schlagersängern, Kunstmalern und Yachtclubpräsidenten, besuchte betagte Adlige oder aß Kekse mit Kurdirektoren, Bürgermeistern, Hobbydichtern, Katzenzüchterinnen und Dorfpolizisten. Das Geblubber des gemütlichen Redaktionsleiters über meine häufige Abwesenheit tat meinem Journalistenglück keinen Abbruch und er schien beinahe etwas traurig, als es mich eines Tages in die Großstadt zog, um die weite Welt zu entdecken.
Das alles ist nun lange Jahre her und es hat sich so vieles ereignet. Wehmütig fahre ich ab und zu in meinen Gedanken an der Ostsee wieder von Termin zu Termin, stets den Duft von Räucherfisch, Freibier und Seewasser in der Nase.
Aber nach wie vor ist sie meine Begleiterin, die Freiheit. Wie schön, dass es dich gibt!
Anja Mylius

Anja Mylius hat im Anschluss an ihre Zeit als Lokalredakteurin für zahlreiche People- und Frauenzeitschriften in Hamburg gearbeitet. Heute ist sie als freiberufliche Journalistin und Werbetexterin tätig und lebt mit ihrem Ehemann, dem Graphik-Designer Rolf Mylius, und zwei Sibirischen Katzen in Eppendorf. Mehr über sie gibt’s auf www.torial.de/Anja Mylius.