Es gibt klare Vorstellungen davon, wie ein echtes Wiener Lokal zu sein hat. Ein bisserl schummrig, ein bisserl schäbig, dazu eine Prise Zigarettenrauch, Geruch von Frittierfett und Schnitzelpanade, irritierende Bilder an der Wand, schmierige Tischflächen. Und selbstverständlich: ein konsequent grantiger Kellner. So und nicht anders gehört sich das.
In vielerlei Hinsicht ist die Gräfin vom Naschmarkt echt wienerisch. So wird es auf Empfehlungsseiten im Internet auch angepriesen - angepriesen allerdings in dem Sinn, dass Scharen von anscheinend malträtierten Ex-Gästen ihrem Ärger freien Lauf lassen. Und zwar auf eine Art und Weise, die sogar Einheimische verwundert, und die sind eigentlich dafür bekannt, ziemliche Suderer, Hochdeutsch: Lamentierer, zu sein.
220 von bis dato 263 Usern vergaben beim größten Bewertungsportal lediglich einen Stern, Zensur "ungenügend". Unzählige bedauern, dass die Bewertung mit null Sternen technisch nicht möglich ist. "Verlassen Sie das Restaurant umgehend, falls Sie hineinstolpern!", schreibt ein User, ein anderer nennt das Lokal die "Schande von Wien".
Das klingt alles in allem so interessant, dass man sich das einmal ansehen muss.
Vom oder am?Die "Gräfin", wie das Lokal in Wien genannt wird, liegt im sechsten Wiener Gemeindebezirk an der Linken Wienzeile, an der Nordseite des Naschmarkts. Dort ist sie auch nicht zu übersehen. Für den herumirrenden Hungernden ist das sehr praktisch. Der Schanigarten (also "Sitzgelegenheiten im Straßenbereich") passt sich noch dezent in den Gehsteig ein, die Campari-Schirme schützen vor aufdringlichen Blicken, jedenfalls solange sie von oben kommen. Gleich viermal aber springt dem Passanten der Name des Lokals entgegen, stets in Großbuchstaben, eine Eigenschaft, die es von den übrigen abhebt.
Im Inneren des Lokals dann Verwirrung. Es taucht ein fünftes Gräfin-Schild auf. Heißt sie nun "Gräfin vom Naschmarkt" (draußen) oder "Gräfin am Naschmarkt" (drinnen)?
Während man noch überlegt, was besser wäre, sieht man das Prunkstück der Einrichtung: einen Baum, der direkt aus den Bodenfliesen wächst. Wie ein Schirm hält er seine langen, schlanken Äste über einige Tische. Einzig der Staub der vergangenen Jahrzehnte, der auf der Oberseite der grünen Blätter vor sich hinschlummert, lässt an seiner Echtheit zweifeln. Dieser Baum ist, das wird schnell klar, eine Art Symbol für den gerade anstehenden Jahreszeitenwechsel, und daher das ideale Service-Gimmick für die urbane Gästeschaft: In Erinnerung an den Sommer hängen zwei Plastikschwimmbälle in der Krone, den beginnenden Herbst symbolisieren die ersten welken Blätter der falschherum hineingehängten Blumenbouquets.
Was soll das nun mit dem Baum? Nun, die Gräfin will ein authentisches Wiener Lokal sein. Und tatsächlich ist es, dem Baum sei Dank, ausreichend düster. Auch in puncto diskreter Schäbigkeit schneidet die Gräfin gut ab und ist somit echt wienerisch: Die Tür hat zum Beispiel Einkerbungen, die subtil andeuten, dass hier einst jemand versucht haben könnte, sie einzutreten. Das wirkt sehr geheimnisvoll. Die Sitzecken tun betont original, die Tischdecken sind lässig ungebügelt, und auf dem Boden liegt, demonstrativ selbstvergessen, ein Zigarettenstummel.
Dann passiert esDa der Nichtraucherbereich (in welchem die Kippe liegt) den größten Teil des Restaurants ausmacht, stinkt es nicht. Jedenfalls nicht nach Zigaretten. Dafür aber nach altem Frittierfett. Das kann man gelten lassen. Auch die Dekoration ist plangemäß: Es gibt riesige Armleuchter, die wahrscheinlich antik anmuten sollen und mit zarten Teelichtern bestückt wurden. Oder ovale Spiegelchen mit silbernen Blumentattoos. Oder wuchtige Gebilde aus strähnigem grauen Wachs, die sich bei genauerem Hinsehen als in die Jahre gekommene Kerzenhalter entpuppen. Dieses ausgeklügelte Wechselspiel aus klobig und zierlich zieht sich gekonnt durch den Raum.
Bis hierhin kann man sich die vielen hundsmiserablen Urteile der User schwer erklären, denn die Gräfin erfüllt soweit alle Kriterien, in denen der berüchtigte Wiener Charme gemessen wird. Sie ist "abgesandelt", sagt man hier und meint das meistens gar nicht böse. Doch dann passiert es.
0,2 x 3 = 0,5
Der Kellner kommt – und er lächelt. Grüßt freundlich. Ist äußerst zuvorkommend. Das ist schade. Wenn ihm ein Gast zuwinkt, unterbricht er sofort seine Zigarette und legt höflich zwinkernd eine Rauchpause ein. Ein Stilbruch, der für Kenner der hauptstädtischen Kaffeehauskultur unbegreiflich erscheint.
Es ist aber gar nicht der freundliche Kellner, der die Tripadvisoren erbost. Es ist das Essen. Ich lasse mir also die Karte geben. Mit dieser Mappe halte ich ein zwar klebriges, aber liebevoll konserviertes Andenken an die guten alten Zeiten in Händen, als man auch in Wien noch überall rauchen und kokeln durfte, denn ihre Vorderseite zieren ein paar Brandlöcher.
An der bestellten Fanta gibt es nichts auszusetzen. Ein prüfender Blick in die Karte lässt mich außerdem vor Glück aufseufzen: Das Glas fasst, wie angekündigt, nur 200 Milliliter, die daher auch nur 4,40 Euro kosten. Der halbe Liter hätte mit 13,20 Euro – was zum? – zu Buche geschlagen. 0,6 Liter kosten also exakt so viel wie 0,5 Liter – unoriginell ist das nicht!
Dann kommt der Backhendl-Salat. Daran fällt vor allem das Dressing auf. Möglicherweise ist es ein traditionelles Rezept nach Art des Hauses, eine fein gustierte Mixtur aus Wasser und einem Hauch Zucker. Der Koch hat es, was die Dressingmenge angeht, sehr gut gemeint. Die Backhendl-Streifen – tadellos frittiert – sind geschmückt mit ein paar Tropfen kostbaren Kürbiskernöls sowie trockener Petersilie. Sofort raunen die Stimmen der Tripadvisoren in meinem Kopf "Dosenstreupetersilie, Dosenstreupetersilie!". Wäre das nun ein Manko? Auf der Karte steht jedenfalls nichts von knackig-frischer Petersilie. Eben.
Herkunft geklärt
Als Dessert wähle ich ein Stück Sachertorte mit einer Melange, Wiener Lifestyle. Zwar vergisst der Kellner, mich auf das Jausen-Angebot hinzuweisen, das auf einem der sieben ganzflächig beschrifteten Menüschilder am Gehsteig beides zusammen zum Preis des Kaffees verspricht. Aber bei so vielen Angeboten kann das schon einmal passieren. Der Milchkaffee kommt mit dem obligatorischen Glas Wasser, der Kuchen mit freundlichen Grüßen vom Koch. Er hat vier Fingerabdrücke auf dem Schokoladenmantel hinterlassen. In Zeiten, in denen jeder gesteigerten Wert darauf legt zu wissen, woher sein Essen stammt, muss man eine solche Geste schätzend anerkennen. Und wenn wir noch einmal ehrlich sind: Wäre es noch etwas dunkler, würde man diese Details doch überhaupt nicht sehen.
Womit wir beim Kern der Sache angelangt wären. Denn womit die Gräfin wirklich glänzt, sind ihre Öffnungszeiten. Nur zwischen zwei und vier Uhr hat sie geschlossen. Es gibt durchgehend warme Küche. Wo, bitteschön, findet man so etwas heutzutage noch? Eigentlich ist es ein Jammer, dass draußen nicht mit grellgelben Lettern für die "Nachtküche" geworben wird. Denn wüssten all jene Touristen, die sich online über das Lokal mokieren, von diesem Vorzug und hätten ihren Besuch auf spätere Stunde verlagert, wären sie am Ende vielleicht gnädiger gewesen. Warnungen wie "Skandal!!!" oder "Das Grauen hat einen Namen!" wären niemals ins Internet gelangt.
Und hätten die Rezensenten zumindest rudimentär Ahnung von den Finessen des Wiener Charmes, hätten sie in erster Linie Minuspunkte für etwas anderes vergeben: für die ekelhafte Freundlichkeit des Kellners.
Das Beste: Wiener Küche wird auch zu unchristlichen Zeiten serviert.
Bewertung der Bewertung: ★★☆☆☆
Café-Restaurant Gräfin vom Naschmarkt, Linke Wienzeile 14, A-1060 Wien. Öffnungszeiten: 4 Uhr bis 2 Uhr.
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