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Arbeitslosengeld ist kein Charity-Bonus - Kommentar

AMS-Chef Johannes Kopf liebäugelt mit einer zweiwöchigen Sperrfrist beim Arbeitslosengeld, für das ÖVP-Superminister Martin Kocher ohnehin schon rigide Verschärfungen plant. Warum das nicht nur schamlos, sondern vor allem gefährlich ist – ein Kommentar.

Wien, 4. Juli 2022 | In wenigen Wochen, am 1. September, wird es sich jähren, dass Martin Kocher (ÖVP) eine Reform des Arbeitslosengelds ankündigte, die viele seit langem gefordert hatten. Umso schockierter waren Expertenwelt, Opposition und Gewerkschaften, als sie erkannten, dass seine Vorstellungen kilometerweit von ihren abwichen.

Denn statt einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes von derzeit nur 55 Prozent des letzten Netto-Einkommens auf zumindest eine Rate, die in den meisten europäischen Ländern längst Normalität ist (70 bis 80 Prozent), bastelt und tüftelt Kocher seit Monaten an der Reform herum, wälzt Ideen, fix ist noch nix.

Kocher, inzwischen auch nicht mehr nur Arbeits-, sondern sogar „Superminister", träumt - so viel ließ er durchsickern - von einem degressiven Modell. Sprich: am Anfang mehr Arbeitslosengeld, dann immer weniger. Manche nennen es liebevoll „Anreize setzen", andere „Druck ausüben". Motivation durch Existenzangst, ein brillanter Reformansatz in Zeiten von Pandemien, gut erprobter Kurzarbeit, eklatantem Lehrstellenmangel und rekordverdächtigen Teuerungswellen, darauf wären die meisten tatsächlich wohl eher nicht gekommen.

Kein Geld, keine Versicherung, keine Pensionsvorsorge

Aber vielleicht reicht das noch nicht, vielleicht geht da noch was, dachte sich am Wochenende ein anderer. Das sei ja doch alles ziemlich teuer. Der perfekte Zeitpunkt für AMS-Chef Johannes Kopf, beruflich eigentlich hauptsächlich mit der Vermittlung neuer Chancen für erwerbsarbeitslose Personen befasst, in einem Radio-Interview darüber zu sinnieren, an welchen Stellen man noch sparen könnte. Für eine „interessante Idee" hielt er auf Nachfrage eine Sperrfrist. Will heißen: „Zwei Wochen oder zehn Tage", so Kopf, sollten Menschen, die gerade ihren Job verloren haben, in Ruhe, aber hoffentlich hochmotiviert aufs Arbeitslosengeld warten müssen. Und damit übrigens auch auf Arbeitslosenversicherung und Pensionsansprüche gleich mit verzichten. Das hätte „natürlich Effekte", so der AMS-Chef.

Inspiriert dazu, erklärte er, habe ihn die Kündigungskultur bei Saisonarbeitskräften. In der Tat eine perfide Praxis: Unternehmen sparen sich in Zeiten niedriger, saisonbedingter Auslastung durch „Kündigungen auf Zeit" die Personalkosten, indem sie sie kurzfristig auf den Staat umwälzen, bis sie wieder Leute brauchen. Die Betroffenen finden sich vor allem in der Gastronomie, im Tourismus, aber auch im Bau - Branchen, die vor allem durch ihre niedrigen Löhne und Gehälter sowie schlechten Arbeitsbedingungen hervorstechen.

Das hinterlistige Märchen vom Fachkräftemangel

Weil das wenig attraktiv klingt, verbreiten Branchenvertreter das viel schöner anmutende Märchen vom „Fachkräftemangel". Niemand würde sich mehr bewerben, keiner wolle mehr (für wenig Geld) (sehr hart) arbeiten, die Menschen seien arbeitsunwillig und faul geworden. Es wird sich ausgeheult von TV-Talk bis Boulevard-Inserat, die immer gleiche Leier, stets in mitleidsheischender Wehklagerei vorgetragen, damit nur ja niemand durchschaut, worum es eigentlich geht: nämlich um Lohndruck, um die Aufweichung von Arbeitsschutz, um die Zementierung unzumutbarer Arbeitsbedingungen. Arbeit soll auf keinen Fall teurer werden.

Gefährliche, gelebte Praxis

Dank des wachsamen, ideenfreudigen AMS-Chefs - das sei zwischendurch zur Abwechslung positiv gewürdigt - erfährt das Problem, das derart vielschichtigen Schaden verursacht, endlich Aufmerksamkeit: Eines von vier einstellenden Unternehmen setzt auf dieses hierzulande sehr bewährte Kündigungskonzept, hat das Momentum-Institut erhoben. Zusammen verursachen diese Firmen ein Achtel der gesamten Arbeitslosigkeit. Saisonarbeiter verlieren auf diese Weise außerdem fast die Hälfte ihres Einkommens. Zahlen muss das die Allgemeinheit. Gelebte österreichische Praxis also - traditionell auf dem Rücken von Arbeitskräften und Steuerzahlern ausgetragen.

Doch wieso sollen gerade die Leidtragenden dieses Zwischenparkens noch für ihre unverschuldete Kündigung bestraft werden? Gerne vergessen, vor allem in den Reihen der ÖVP: Arbeitslosengeld ist eine Leistung, auf die man Anspruch hat, eine Versicherung, in die man einzahlt - keine Almosen, kein Bettelgeld. Hakt es nicht ganz woanders?

Betriebe müssen zahlen

Daher an dieser Stelle folgende, sehr „interessante Idee": Die Kosten saisonbedingter Kündigungen sollten vielmehr dorthin umgelenkt werden, wo sie entstehen - nämlich auf die Betriebe. Würden die bei Saison-Kündigungen die ersten „zwei Wochen oder zehn Tage" oder vielleicht sogar einen ganzen Monat die Kosten für das Arbeitslosengeld selber übernehmen müssen, würde sich der ein oder andere Arbeitgeber die Vertragsauflösung wohl noch einmal gut überlegen.

Wenn das mal kein echter, guter „Anreiz" wäre, Menschen nicht ständig temporär vor die Tür zu setzen. Oder, ein anderer „spannender" Vorschlag: Von auffällig häufigen Kurzzeit-Kündigern (das AMS müsste da doch exklusive Einblicke haben) könnten von vornherein höhere Versicherungsbeiträge für ihre Arbeitnehmer eingezogen werden.

Es gäbe einige, nachhaltig wirksame Möglichkeiten, hier einzugreifen. Ein AMS-Chef sollte sich jedenfalls mehr Gedanken über neue Stellen, (Um-)Schulungen und Berufszweige machen als darüber, wie man Krisenverlierer noch mehr gängeln und sich wieder einmal an den Schwächsten vergreifen könnte.

Grassierende Armut

Die Betriebe in die Pflicht zu nehmen, hätte übrigens auch Neben-„Effekte", „natürlich": zum Beispiel sicherere Arbeitsplätze, dringend benötigte Green Jobs, weniger Kostenlast für den Staat - und vor allem weniger Armut. Denn Arbeitslosigkeit ist einer der Hauptfaktoren, die Statistik ist erschreckend, wie das SORA-Institut unlängst erhob: Neun von zehn Arbeitslosen gelten als arm.

Diese Entwicklung noch zu verstärken, kann in einer Zeit, in der ein Virus Hunderttausende in die Kurzarbeit zwang, die Inflation in beängstigende Höhen klettert, und die türkis-grüne Regierung nervös erste milliardenschwere Rettungspakete zusammenschnürt, während sie mühevoll fürs „Kostensparen" die Einführung von Millionärssteuern ignoriert, nicht das Ziel sein. Und darf es in einem Sozialstaat, dessen Regierende zumindest so tun, als würden sie sich selbst noch ernst nehmen, auch nicht.

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