Mai/Juni 20
Historische Ereignisse werden vermehrt aus afrikanischer Perspektive literarisch neu erzählt.
Von Anja Bengelstorff
Als Yovanka Paquete Perdigão sechs Jahre alt war, brach in ihrem afrikanischen Heimatland ein Bürgerkrieg aus. Ihre Familie floh nach Portugal. Fast 20 Jahre später kehrte sie zurück, „um wieder eine Verbindung zu meiner Familie in Guinea-Bissau herzustellen, um ihre Geschichten zu hören", erzählt die 27-jährige Autorin während eines Literaturfestivals in Nairobi, Kenias Hauptstadt, im vergangenen September.
Guinea-Bissau liegt an der westafrikanischen Küste. Im 15. Jahrhundert begann Portugal mit der Kolonisierung von Teilen der Atlantik-Küste im Westen des Kontinents und etablierte über die Jahrhunderte dort eine Kolonie mit dem Namen Portugiesisch-Guinea.
Erst 1973 konnte sich das heutige Guinea-Bissau, ab 1974 mit Bissau als Hauptstadt, unabhängig erklären. „In den Gesprächen mit meiner Familie wurde mir klar, wie eng meine eigene Verwandtschaft mit der Geschichte der Kolonisation, mit Rassismus verknüpft war", so Perdigão. „Schreiben ist deshalb mein Weg, sicherzustellen, dass unsere Vergangenheit nicht in Vergessenheit gerät. Denn im portugiesischsprachigen Afrika sprechen wir von Land zu Land kaum miteinander und sind uns deshalb unserer Geschichte nicht bewusst."
Frischer Blick. Afrikas Geschichte gründete sich lange Zeit nur auf die Berichte von Herrschenden und damit auch Interpretationen von Europäern wie Kolonialbeamten und christlichen Missionaren. Die alternative Sicht, jene der Afrikanerinnen und Afrikaner selbst, fehlte.
Nun versucht eine junge Generation LiteratInnen, bestimmte Geschichtsbilder aufzubrechen und eine eigene Sichtweise auf bestimmte historische Ereignisse anzubieten. Sie beschränken sich hierbei nicht auf die koloniale Geschichte des Kontinents, sondern befassen sich auch mit der Interpretation der Unabhängigkeitsbewegungen, die den europäischen Kolonialismus beendeten.
Dazu gehören SchriftstellerInnen ehemaliger britischer Kolonien wie die Simbabwerinnen Novuyo Rosa Tshuma und Petina Gappah oder wie Yvonne Adhiambo Owuor und Peter Kimani aus Kenia.
Aber auch AutorInnen aus ehemaligen portugiesischen Kolonien wie Angola (José Eduardo Agualusa), Mosambik (Mia Couto) oder von den Kapverdischen Inseln (Dina Salústio) setzen sich seit Jahren mit der Geschichte - beziehungsweise den Geschichten - ihrer Länder auseinander.
Zum ersten Mal in Afrika hatten die Kulturschaffenden dieser beiden Sprachregionen die Gelegenheit, sich 2019 beim Macondo-Literaturfestival in Nairobi zu treffen und u.a. mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
AutorInnen des portugiesisch- und des englischsprachigen Afrika fragten sich und das Publikum des Festivals: Worin ähneln und worin unterscheiden sich unsere Vergangenheiten? Und im besten Fall, was können wir voneinander lernen?
Mit Mythen aufräumen.
Perdigão und der kenianische Romanautor Peter Kimani diskutierten im Rahmen einer Panel-Diskussion während des Festivals zudem die Frage, warum die Vergangenheit überhaupt eine Rolle spielt: „Die Vergangenheit ist wichtig, weil unsere Zukunft noch immer von der eingeschränkten Linse der Kolonialgeschichte konfiguriert ist", betonte Kimani. „Denn sobald man anerkennt, was die Kolonialmächte getan haben, kann man anfangen, dies mit Hilfe von Literatur zu analysieren."
In seinem 2017 auf Englisch erschienenen Roman „Dance of the Jakaranda" erzählt Kimani die Geschichte des Eisenbahnbaus von der kenianischen Küstenstadt Mombasa ins Landesinnere am Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Eisenbahnstrecke bot die Möglichkeit, Rohstoffe schneller aus dem Kontinent über den Hafen von Mombasa nach Europa zu transportieren. Kimani schildert den Bau aus der Perspektive dreier sehr verschiedener Männer und gibt auch der indischen Bevölkerung Kenias eine Stimme.
„Mit meinem Buch versuche ich, den Mythos unserer nationalen Vergangenheit zu brechen", sagt der Autor. „Meiner Ansicht nach haben wir mehrere Vergangenheiten - während uns das koloniale Archiv nur eine einzige anbietet."
Aus seinem Buch kann er ein konkretes Beispiel hernehmen: „Ich bringe auch die Geschichte der Inder in Kenia und ihren Beitrag zum Kampf um die nationale Unabhängigkeit ins Spiel."
Neue Darstellungsformen. Statt sich auf einen internationalen - oder westlichen - Buchmarkt und dessen Ansprüche zu konzentrieren, haben AutorInnen wie Kimani vorrangig LeserInnen in Afrika im Blick.
Kimani bricht in seinem Roman zudem mit der „westlichen Definition" (Kimani) des Romans, in dem ein einzelner Charakter die Schilderung vorantreibt. „In Afrika erzählen wir traditionell Geschichten, indem jeder in einer Runde zum Zug kommt und zur Darstellung beiträgt", erklärt er.
Während auch die Simbabwerin Novuyo Rosa Tshuma eine alternative Geschichtsinterpretation anbieten will, steht bei ihr jedoch der Mensch im Mittelpunkt. In ihrem Roman „House of Stone" (noch nicht ins Deutsche übersetzt) fiktionalisiert sie die Zeit kurz nach der Unabhängigkeit Simbabwes Anfang der 1980er Jahre: Robert Mugabe war gerade an die Macht gekommen und versuchte, den Wunsch des Minderheitenvolkes der Ndebele nach Selbstbestimmung zu unterdrücken. Bei den Massakern wurden 20.000 Menschen ermordet.
In der Ära von Mugabe unternahm die Regierung alles, um dieses Ereignis totzuschweigen.
„Meine Vorstellung von Prosaliteratur ist es, uns von Zahlen wegzubewegen, hin zu der strittigeren Frage nach dem Wert eines afrikanischen Menschen", sagt die Autorin während einer Diskussion auf dem Literaturfestival in Nairobi. „Dabei geht es mir nicht einfach nur um den schwarzen afrikanischen Körper. Sondern auch um die afrikanische Psyche", so Tshuma. „Um afrikanische Philosophie. Welchen Wert messen wir dem bei? Das ist die Geschichte, die mich wirklich interessiert."
Zum Original