Foto: Brinkhoff/Moegenburg
Noch im Dezember hängen die Körper, Vorder- und Hinterbeine und die Köpfe von Joey und den anderen Pferdefiguren von der Decke der Puppen-Werkstatt im südafrikanischen Kalk Bay, einem Vorort Kapstadts. Es ist ein Flechtwerk aus Schilfrohr und Sperrholz, das von hier aus betrachtet wie Teile eines Pferdeskeletts wirkt.
"Als wir 2007 den Prototyp beim National Theatre in London vorführten, tauften die spanischen Putzfrauen es Rosinante, weil es sie an den mageren Gaul von Don Quixote erinnerte", sagt Adrian Kohler. Zusammen mit Basil Jones steht er hinter der Handspring Puppet Company - einer der weltweit bekanntesten Puppen-Werkstätten.
Etwa ein Jahr brauchte Kohler, um aus Rosinante Joey zu zaubern. Das Pferd wird im Musical "War Horse - die Gefährten" ab 20. Oktober im Berliner Theater des Westens über die Bühne stolzieren, galoppieren und schnauben - so natürlich wie ein echtes Pferd. Drei Akteure sind notwendig, um die große Puppe über die Bühne rauschen zu lassen.
Spieler können nahezu jede Bewegung imitierenIm Innern der Puppe kontrollieren sie reichlich Technik, die nur auf den ersten Blick einfach und banal ist. Doch die zahlreichen mechanischen Teile sind so fein gearbeitet und raffiniert konstruiert, dass die Spieler nahezu jede Bewegung der Puppe imitieren können.
Die lebensechte Illusion, die ihre Figuren erzeugen - dafür ist die Handspring Puppet Company weltbekannt. Sie wird regelmäßig mit internationalen Preisen überhäuft, zu Konferenzen eingeladen, und 2012 erhielten Kohler und Jones einen Ehrendoktor der University of Cape Town.
Nach dem Welterfolg mit Joey steht schon ein neues Projekt mit "War Horse"-Regisseur Tom Morris an: die Aufführung von William Shakespeares "Sommernachtstraum" im Old Vic Theatre in Bristol.
Im Dezember vergangenen Jahres arbeiteten die Bastler noch an den letzten Feinheiten der Figuren, den Hauptdarstellern des Stücks. Jetzt schnitzt Kohler grobe Konturen in das hölzerne Gesicht des Elfenkönigs Oberon, sein Kollege Simon Dunkley tüftelt am Mechanismus für die Figuren-Hand, die mindestens dreimal so groß ist wie die menschliche.
Ihre Finger sollen genauso beweglich sein wie die einer echten Hand. Über einen Seilzug bildet sie eine Faust. Nur öffnen lässt sich die Faust nicht wieder, daran müssen die Puppenbauer noch arbeiten.
Perfektion macht "War Horse" zum WelterfolgIhre Perfektion ist auch der Grund, warum "War Horse" an den Bühnen in New York, Toronto oder Melbourne gespielt und zum Welterfolg wurde. Denn der Star des sentimentalen Anti-Kriegs-Dramas ist kein Mensch, sondern das von Kohler und Jones zum Leben erweckte Pferd Joey. Zu verdanken ist der Ruhm vor allem der besonderen Handwerkskunst Kohlers. Er ist Ingenieur und Künstler zugleich.
Als er über die Umsetzung von War Horse nachdenkt, schwebt ihm eine Konstruktion aus Schilfrohr und Sperrholz vor, aus Materialien, mit denen er viel Erfahrung hat. Für die lebensgroßen Maße des Pferdes allerdings ist Sperrholz zu spröde, zudem ist die Verbindung der Teile miteinander problematisch.
Geklebt würden sie leicht auseinanderbrechen, mit Metall verbunden wäre die Gesamtkonstruktion zu schwer. Die Idee, die Elemente zusammenzunähen, erweist sich als perfekte, wenn auch extrem arbeitsintensive Lösung. Phillip Roberts, der früher Fischer war, ist bei Handspring dafür verantwortlich.
Er weicht die Schilfrohr-Verstrebungen ein, biegt sie in die jeweilige Form und näht sie später mit Eisennadel und dickem Garn mit den Sperrholzelementen zusammen. Ausgekleidet wird das Pferd mit einem halbdurchsichtigen, bräunlichen Stoff. Die feine Gaze hat Phyllis Midlane, die das Atelier leitet, selbst gefärbt.
Sie hat dafür die metergroßen Lagen auf dem Hof vor der Werkstatt ausgebreitet, einen Mix aus Farbe und Salz draufgesprenkelt und das lichtempfindliche Material der Sonne überlassen. Joey entsteht in vollständiger Handarbeit. Jede Pferdefigur ist anders. Lediglich für das Zuschneiden der Sperrholzteile verwendet Kohler neuerdings einen Lasercutter.
Genauso bewegt sich ein Pferd in der NaturBei der Wirbelsäule des Pferdes entscheidet er sich für ein leichtes Aluminiumgestell, das stark genug ist, den Reiter zu halten - und leicht genug, um von den zwei Puppenspielern im Körper der Figur getragen werden zu können. Kohler montiert von der Wirbelsäule ausgehend zwei Alugestelle, die wie Rucksäcke von den beiden Akteuren geschultert werden und die sich ausschließlich über die Sicht durch den Stoff auf der Bühne orientieren.
Dabei ist der "Heart Puppeteer" für die Bewegung der Vorderbeine zuständig. Er manipuliert die Ober- und Unterschenkel über einen hölzernen Steuerlenker, der sich gleich vor ihm auf Hüfthöhe befindet. Kabel führen zu den Sperrholzgelenken der Beine. Ihr Mechanismus funktioniert so präzise, dass beim Heben eines Laufes der Huf nach innen abwinkelt.
Der zweite Akteur, der sich im Körper von Joey befindet, ist für die Bewegungen der Hinterbeine und des Schweifs zuständig. Über zwei Stangen, die Skistöcken ähneln, variiert er die Gangart und koordiniert den Schweif. Aufgrund der besseren Sicht - seinen Vordermann hindern häufig Joeys Kopf und Mähne am freien Blick - ist er auch derjenige, der die Impulse für das Spiel auf der Bühne gibt.
Nicht nur die Koordination der Spieler untereinander ist ausschlaggebend dafür, dass die Zuschauer der Illusion erliegen, sie hätten es mit einem echten Pferd zu tun. Die Spieler müssen auch der physischen Belastung gewachsen sein und genügend Ausdauer haben. Deshalb wird Joey nicht nur von klassischen Puppenspielern, sondern auch von Akrobaten gespielt.
Mehr als bloßes PuppentheaterOhnehin sind die Auftritte etwas mehr als bloßes Puppentheater. Für Jones war Puppenspiel ein Reizwort, als er in den 1970er-Jahren Kohler im Kunststudium kennenlernte. Kohlers Vater war Holzschnitzer und seine Mutter Puppenspielerin. "Ich hasste Puppen. Sie waren unter meinem Niveau. Ich wollte Avantgardekünstler werden und bestimmt nicht zum Kasperltheater gehen", sagt Jones.
Als die beiden dann in den 1990er-Jahren in zahlreichen Theaterprojekten mit dem bekannten südafrikanischen Künstler William Kentridge zusammenarbeiten, erfüllt sich auch sein Anspruch, avantgardistische Kunst zu machen.
Der Weg dahin führt über akribische Arbeit. Der 61-jährige Kohler studiert exakt die Anatomie, Physiologie und den Bewegungsablauf von Pferden. Er beobachtet sie in der Natur und fertigt unzählige Skizzen an. "Ich zeichne den Kopf in verschiedenen Stimmungen", sagt Kohler. "Ich glaube, dass diese Puppen etwas Magisches an sich haben. Und was es auch ist, ich muss wissen, was es ist."
Vor allem kommt es auf die Atmung des Pferdes an. Sie zu imitieren, ist eine der wichtigsten Aufgaben des "Heart Puppeteer". Das gelingt ihm über die Stimme und eine überraschend einfache Körperbewegung: Beim Einatmen geht er leicht in die Knie, beim Ausatmen streckt er sie wieder. Das seichte Auf und Ab entspricht zwar nicht der natürlichen Bewegung des Brustkorbs. "Sie verstärkt dennoch die Illusion, weil sie auch aus weiterer Entfernung für das Publikum sichtbar ist", sagt Kohler.
Diese Mikrobewegungen, wie Jones und Kohler sie nennen, sind das A und O des Puppenspiels. "Erst das Atmen macht die Figuren lebendig", sagt Jones und nimmt zu Demonstrationszwecken den hölzernen Schimpansen, der auf seinem Schreibtisch liegt. Hörbar atmet Jones aus und ein, während er gleichzeitig den Affen bewegt, ihn sprechen lässt, wieder atmet, die Positionen verändert.
Figuren kämpfen ums Überleben"Unsere Figuren kämpfen auf der Bühne jeden einzelnen Moment ums Überleben. Genau genommen befinden wir uns alle täglich inmitten solcher spannungsgeladenen Situationen. Das Puppenspiel macht uns das klar."
Außer den beiden Akteuren, die sich im Körper von Joey befinden, gibt es noch einen dritten Puppenspieler. Der steuert Kopf, Nacken und Ohren. Mit einer beweglichen Stange, an der sich mehrere Hebel und Seilzüge befinden, sichert er die richtige Position des Kopfes und richtet den Blick des Pferdes aus.
"Die Art, wie die Augen das Licht einfangen, macht die Figur lebendig", sagt Kohler. Es sind vermeintliche Kleinigkeiten, die wahres Leben vorgaukeln und die Illusion perfekt machen.
Außer den Augen sind es vor allem die Ohren, die den emotionalen Zustand des Pferdes spiegeln. Nach vorn gerichtet signalisieren sie Aufmerksamkeit, nach hinten Angst und das Wittern von Gefahr. Kohler hat in mehr als 25 Jahren immer wieder daran gearbeitet, Rotationen zu perfektionieren. Für Joey ist es ihm endlich gelungen.
Sein persönliches Heureka wirkt auf Laien verhältnismäßig unspektakulär: Eine kleine Antriebswelle, ein Kabel und ein Gummiring reichen, damit der Puppenspieler Joeys Lederohren mit einer leichten Fingerbewegung um 180 Grad drehen kann.
Wenn Joey umgeben von Kanonendonner auf der Bühne aufsteigt, die Ohren scharf nach hinten legt, Augen und Maul vor Panik weit aufreißt, dann glaubt man, ein Pferd aus Fleisch und Blut vor sich zu haben.
Aber nichts von dem passiert wirklich. Die Augen sind starr, die Ohren rotieren, und das Maul ist vollkommen unbeweglich. "Viele Zuschauer fragen uns, wie wir das schaffen", sagt Jones. "Und wir antworten: Es passiert alles in euren Köpfen."