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Traumaspuren in Körper und Geist

Traumaspuren in Körper und Geist

Traumatisierungen erkennen wir in psychischen Diagnosen. Doch die Spuren sitzen tief in Körper und Gehirn. Woran wir Traumafolgen erkennen und wie wir sie heilen können, damit hat sich der Psychiater Bessel van der Kolk ein Leben lang beschäftigt. Und teilt seine Erkenntnisse in dem Buch Verkörperter Schrecken.


Autor Bessel van der Kolk

Bessel van der Kolk ist ein amerikanischer Psychiater, niederländischer Herkunft und arbeitet in Boston, USA. Seit 1970 forscht er über posttraumatischen Stress und arbeitet mit traumatisierten Patienten. Zusammen mit anderen Akteuren hat er sich maßgeblich für Anerkennung der Diagnose komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung K-PTBS eingesetzt. Er ist Psychiatrieprofessor an der Universität von Boston und Vorstandsmitglied von der Trauma Research Foundation.


Inhaltsverzeichnis

Wer sich mit dem Thema Trauma und Entwicklungstrauma beschäftigt, kommt an Bessel van der Kolk nicht vorbei. Das stattliche blaue Buch "Verkörperter Schrecken" im G.P. Probst Verlag umfasst 500 Seiten. 


Der Originaltitel von Verkörperter Schrecken lautet The body keeps the score, was übersetzt so viel bedeutet wie: Der Körper schreibt die Punkte mit. Und so lautet auch die Kernthese des Fachbuchs: Ein Trauma sitzt im Körper und ist ohne Einbeziehung des Körpers in die Therapie nicht heilbar.


Auf 250 Seiten widmet der Autor den wissenschaftlichen Grundlagen seiner Arbeit und wie er auf die Erforschung von Traumata gekommen ist. 


Auf weiteren 150 Seiten stellt er unterschiedliche Therapien vor, die sich bei der Arbeit mit traumatisierten Menschen als wirksam erwiesen haben. 


100 Seiten sind - für mich vernachlässigbar - Epilog und Quellen.


Inhaltsverzeichnis Verkörperter Schrecken


Die Wiederentdeckung des TraumasWas Ihr Gehirn über das Trauma sagtDer Geist von KindernTraumaspurenWege der Genesung
Was ist eigentlich ein Trauma?

Bessel van der Kolk hat über die Arbeit mit Kriegsveteranen entdeckt, dass sie zum einen noch in der Vergangenheit feststecken und dass sie unter ganz spezifischen Symptomen, wie zum Beispiel Wutausbrüchen,leiden. Ähnliche Symptome haben Frauen, die in ihrer Kindheit sexuellen Missbrauch erlebt haben. 


Gibt es diagnostische Gemeinsamkeiten zwischen Kriegsveteranen und sexuell missbrauchten Frauen?


Schließlich hat eine Studie das Verständnis von Trauma noch ergänzt: Traumatisierungen entstehen nicht nur in Folge von Krieg, Gewalt und sexuellen Missbrauch, sondern auch in Folge von Erziehung.


Die Studie heißt ACE-Studie (ACE = Adverse Childhood Experiences). Mehr dazu im Deutschen Ärzteblatt.


Trauma: Hirnforschung bestätigt Symptome

Menschen mit Traumatisierungen haben ganz bestimmte Symptome, die aber sehr unterschiedlich sind, wie zum Beispiel Wutausbruch, das Gefühl des Fremdseins, Konzentrationsstörung, Dissoziation


Die Hirnforschung schafft die Möglichkeit mit Gehirnscans die Gehirne von traumatisierten Menschen zu untersuchen. Bessel van der Kolk kommt zu dem bahnbrechenden Ergebnis: die Gehirne von traumatisierten Menschen sind in ganz spezifischer Weise verändert.


Die Abbildung von - wenigen - Gehirnscans im Buch machen die Auswirkungen von Traumatisierungen auch für die Leser anschaulich: 


Manche Menschen werden von ihren Emotionen überwältigt und bekommen Wutausbrüche. Auf diesen Gehirnscans leuchtet die rechte Hemisphäre dunkel und aktiv auf.


(Und ich denke mir: Aha, so schaut auch mein Gehirn aus, wenn es gerade wieder mal von einen emotionalen Flashback hat)


Manche Menschen schalten sich von jeglichen Emotionen ab und driften in die Dissoziation. Ein Gehirnscan, in dem alle Bereiche weiß und inaktiv sind, spiegelt das völlige Abschalten jeglicher Gehirntätigkeit wieder.


Wenn wir verstehen, warum wir uns auf eine bestimmte Art fühlen, ändert das nichts daran, wie wir uns fühlen. Doch wenn wir es verstehen, kann uns dies davon abhalten, starke Impulse in die Tat umzusetzen.

Bessel van der Kolk, Verkörperter Schrecken, Seite 245
Bei Traumatisierungen hilft die klassische Therapie nicht

Bessel van der Kolk arbeitet auch als Therapeut mit traumatisierten Menschen und erkennt: Gesprächstherapie und Verhaltenstherapie können ein Trauma nicht auflösen. 


Im Gegenteil: Diese Therapien können sogar kontraproduktiv sein.


Mit Verhaltenstherapie lernen Menschen ihre Emotionen in den Griff zu bekommen, z.B. ihre Wutausbrüche. Aber sie lernen nicht, wie es ihnen gelingt ein erfülltes Leben zu leben und gute Beziehungen zu führen.


Doch genau das sollte das Ziel einer jeden Therapie sein: den Patienten ermöglichen, ein erfülltes Leben in Verbindung mit den eigenen Emotionen zu führen.


Welche Therapien sind hilfreich? Dazu weiter unten.


Medikamente können ein Trauma nicht heilen, sondern nur die Ausdrucksformen gestörter physiologischer Prozesse lindern. Sie können dazu beitragen, Gefühle und Verhalten unter Kontrolle zu halten, aber das hat seinen Preis.

Bessel van der Kolk, Verkörperter Schrecken, Seite 269
Am Anfang steht die Diagnose Trauma

Traumatisierte Menschen brauchen vor allem eine richtige psychische Diagnose.


Meist erhalten traumatisierte Menschen in ihrer psychiatrischen Karriere drei bis acht unterschiedliche komorbide Störungen: ein bunter Blumenstrauß von psychischen Diagnosen.


Doch hinter vielen - wenn nicht sogar allen - psychischen Diagnosen wie Depression, ADS, Panikstörung, Ängste, Borderline stehen Traumatisierungen. 


Denn für eine Traumatisierung braucht es nicht unbedingt ein schweres Ereignis wie Gewalt, Naturkatastrophe, sexueller Missbrauch etc., an das sich die Betroffenen explizit erinnern können. Sondern auch übliche Erlebnisse in der Kindheit, an die man sich nicht erinnern kann, das können zu einer Traumatisierung führen.


Bessel van der Kolk spricht aber von einer verborgenen Epidemie.


Wenn wir nur daran denken, dass es in den 60er Jahren üblich war, Kinder nach der Uhr zu füttern und einfach schreien zu lassen. Wundern wir uns da, dass es heute so viele Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt, die ein nicht verarbeitetes Kindheitstrauma sein können?


K-PTBS ist die neue Diagnose für komplexe Traumatisierungen

Leider erhalten traumatisierte Menschen aufgrund unzureichender Diagnostik keine entsprechenden Therapien. Dabei kann mit Hilfe der Neurobiologie (Gehirnscans) eine Traumatisierung genauso exakt diagnostiziert werden wie zum Beispiel eine Krebserkrankungen oder ein Knochenbruch.


Deshalb tritt Bessel van der Kolk gemeinsam mit anderen Fachleuten, unter anderem Judith Hermann (Ihr Buch: Die Narben der Gewalt bei JunfermannVerlag) an die APA (American Psychological Association) heran. Sie fordern eine neue Diagnose in die DSM, das Klassifikationssystem für psychische Krankheiten in den USA. 


Als Namen für die neue Diagnose schlägt das Team vor: 


Entwicklungsbezogene Traumafolgestörung, Disorders of Extrem Stress otherwise not specified DESNOSKomplexe Posttraumatische Belastungsstörung K-PTBS.

Denn solange eine Diagnose nicht in einem Klassifikationssystem erfasst ist, kann diese Diagnose nicht gestellt werden. 


Zum Beispiel wie mit HIV: Solange HIV nicht im Krankheitenkatalog nicht erfasst ist, kann es nicht diagnostiziert werden.


Leider wurden diese Forderungen von der APA zurückgewiesen, da sie angeblich irrelevant seien. 


Erstmalig im Jahr 1994 fordern sie die Aufnahme einer neuen Diagnose und fast 30 Jahre später kommt die psychische Diagnose erstmalig in ein deutsches Diagnose-Manual. 


Ich weiß nicht, wann in den USA die Traumatisierung aufgenommen wurde. Aber in Deutschland wird mit der IDC 11 (Das Klassifikationssystem für Krankheiten in Deutschland) im Jahr 2022 aufgenommen werden.


Nur durch Kontaktaufnahme zum eigenen Körper, durch Herstellung einer viszeralen Verbindung zu uns selbst, können wir das Gefühl dafür, wer wir sind, welche Prioritäten wir haben und welche Werte uns am Herzen liegen, wiederherstellen.

Bessel van der Kolk, Verkörperter Schrecken, Seite 295
Wirksame Therapie für komplexe Traumatisierungen

Heilung von Trauma und Traumatisierung heißt sich Körper und Geist wieder zu eigen machen.


Therapien dürfen nicht nur kognitiv und über Verständnis arbeiten, sondern vor allem den Körper mit einbeziehen. Denn das Trauma sitzt im Körper.


Deshalb ist der Verlust des Körpergefühls so schlimm: Wenn wir unseren Körper verloren haben, dann haben wir unser Selbst verloren.


Folgende Therapieformen stellt er auf 150 Seiten im letzten Kapitel “Wege der Genesung” vor:


Selbstmanagement: Die Führung übernehmen mit der Ego-State-Methode (Arbeit mit inneren Anteilen)Neurofeedback: Wenn ein Medikament so positiv getestet wäre, dann würde es schon längst als Medikament zugelassen worden sein.EMDR: man weiß zwar nicht, warum es wirkt, aber es wirkt vor allem bei SchocktraumaYoga: Yoga integriert nicht nur Traumatisierungen, sondern führt auch zu einer gesünderen Herzratenvariabilität (HRV). Literatur zum Beispiel Trauma-Yoga im G.P.Probst Verlag oder Praxisbuch traumasensitives Yoga im Junfermann-VerlagGemeinschaftsrhythmen und Theater: Shakespeare hatte doch recht
Prävention schützt vor Traumatisierung

Traumatisierungen kommen die Gesellschaft teuer.


Ökonomen haben berechnet, dass wenn wir darin investieren würden, über Entwicklungstrauma aufzuklären, würde die Gesellschaft viel Geld sparen und zwar mit dem Faktor 8. Das heißt: Jeder Dollar, der in die Prävention investiert wird, spart dem Gesundheitssystem acht Dollar. 


Und das sind die USA. Ich vermute, dass man den Faktor acht für das deutsche Gesundheitssystem vervielfältigen kann, da das deutsche GEsundheitssystem umfassender ist.


Auch im deutschen Ärzteblatt wird auf Grundlage der ACE-Studie mehr Prävention in der Kindererziehung: Belastende Kindheitserlebnisse sind häufig und deren Kumulation ist mit deutlich erhöhten negativen Folgen für die Betroffenen assoziiert. Präventionsansätze, die über den Bereich der Kindesmisshandlung hinausgehen und Probleme im Elternhaus, wie eine psychische Störung der Eltern mit einbeziehen, sind notwendig. 


Schon lange bin ich der Meinung, dass Mütter, vor allem alleinerziehende, strukturelle Entlastung brauchen, um gesund bleiben zu können. Ich hätte da einige gute (gesellschaftskritische) Ideen, wie nachhaltige und wirksame Prävention aussehen könnte. 


Wenn wir das Gefühl haben, dass man uns zuhört und uns versteht, verändert sich unsere Physiologie. Wenn wir ein komplexes Gefühl artikulieren können und wenn andere Menschen unser Gefühle anerkennen, leuchtet unser limbisches Gehirn auf und kreiert einen Aha-Moment. Begegnet man uns hingegen mit Schweigen und Unverständnis, so tötet dies unsere Seele.

Bessel van der Kolk, Verkörperter Schrecken, Seite 277/278

Willst du auch gut zuhören? Hier geht’s zu meinem Fachbuch “Zuhören ist ein Geschenk”


Traumatisierte sind tolle Menschen

Bessel van der Kolk widmet das Buch “Verkörperter Schrecken” seinen Patienten, die nicht vergessen haben, was ihnen widerfahren ist, und die sein Lehrbuch waren. Die Menschlichkeit und Bescheidenheit und gleichzeitig seine Neugier und Unvoreingenommenheit sprechen aus jeder Zeile. 


Wenn der Autor nicht den Mut und die Bescheidenheit gehabt hätte, von seinen Patienten zu ernen, wären ihm die bahnbrechenden Forschungsergebnisse nicht gelungen.


Ich mag seine Selbstironie und seine Fähigkeit zu Kritikfähigkeit.


An einer Stelle berichtet er: Eine Patientin sprach abwertend von sich selbst. Darauf hätte er sie getröstet. Sie hat geantwortet, dass es sie demütigt, wenn er ihr sagt, was sie fühlen soll. Die Kritik seiner Patientin hat er sich sehr zu Herzen genommen. Er hat erkannt, dass er als Therapeut nicht nur unterlassen soll, seinen Patienten zu sagen, was sie fühlen. Sondern dass es seine Aufgabe als Therapeut ist, gemeinsam mit seinen Patienten eine neue innere Landkarte zu entwerfen.


Ein Must-Read für Fachpersonal

“Verkörperter Schrecken” von Bessel van der Kolk ist ein Must-Read für Fachpersonal, also für alle Menschen die im Bereich psychische Erkrankung arbeiten, für Psychologen, Psychiater, Neurologen, Psychotherapeuten, Sozialpädagogen, Berater, Coaches etc. 


Ich kenne kein anderes Buch, das sowohl wissenschaftlich als auch verständlich Traumatisierung erklärt - und dabei noch menschlich bleibt.


Im Jahr 2022 wird die Diagnose Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, K-PTBS in die ICD-11 aufgenommen, zwar nicht ganz so, wie gefordert, aber immerhin. Also besteht sowieso die Notwendigkeit, dass sich Fachpersonal inhaltlich mit dieser Diagnose auseinandersetzen muss, um sie korrekt diagnostizieren und therapieren zu können.


Nach der Lektüre dieses Fachbuchs ist das wissenschaftlich das Verständnis geschaffen.


Verkörperter Schrecken ist lebendig, fundiert, verständlich, anschaulich, spannend, kurzweilig und manchmal kritisch. Viele praktische Beispiele aus der therapeutischen Praxis von Bessel van der Kolk werfen ein umfassendes Bild auf die Problematik. 


Ein Dank auch an die großartige Übersetzung von Theo Kierdorf und Hildegard Höhr.


Auch Betroffene, die sich fundiert informieren wollen, können profitieren. Ich finde es verständlich geschrieben, aber eine Fülle von Informationen, die man nicht unbedingt braucht. Betroffenen würde ich eher Posttraumatische Belastungsstörung von Pete Walker empfehlen.


Wie arbeite ich mit Traumatisierungen?

Ich biete Coachings mit körperbasierter Empathie an, die mit den Erkenntnissen von Bessel van der Kolk übereinstimmt.


Hier erfährst du mehr über körperbasierte Empathie.


Und hier mehr über meine traumasensitive Coachings - auch am Telefon - mit körperbasierter Empathie und hier, wie du die Methode der körperbasierten Empathie erlernen kannst.



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