Andrea Lütkewitz

Freie (Online-) Redakteurin und Journalistin

2 Abos und 1 Abonnent
Artikel

Der lange Schatten der Geschichte

Am 13. August vor 55 Jahren begann der Bau der Berliner Mauer, auch in Groß Glienicke. Zum Gedenken kamen Gemeindevertreter und Anwohner – zumindest die Zugezogenen.


Ruhig ist es am Groß Glienicker See gegenüber dem alten Gutspark. Es gibt einen malerischen Blick aufs Wasser, Libellen und Schmetterlinge fliegen durch die Luft, jemand geht mit seinem Hund am Ufer spazieren. Eine perfekte Idylle – wären da nicht der Hunderte Meter lange, marode Metallzaun, die hohen Stelen und ein großes Mauerstück mitten im Gras. Es sind die Reste der gigantischen Grenzanlage Berliner Mauer, mit deren Bau am 13. August vor 55 Jahren begonnen wurde und die die Menschen in Ost und West von 1961 bis 1989 voneinander trennte. „Vor zwei Jahren war hier alles noch komplett zugewachsen“, erzählt der Landschaftsarchitekt Theseus Bappert, „nach der Wende kümmerte sich keiner mehr um diese Anlagen.“ Mit etwa 40 anderen Menschen ist er an diesem Samstag der Einladung des Ortsbeirates Groß Glienicke und des Berliner Bezirkes Spandau gefolgt, der Menschen zu gedenken, die an der DDR-Grenze ihr Leben verloren.

2014 erhielt Bappert von der Stadt Potsdam den Auftrag, die Reste der Grenzanlagen freizuräumen und sie als Gedenkstätte sichtbar zu machen. Sie sei etwas Besonderes, sagt er, weil hier gleich vier Phasen der Grenzziehung sichtbar würden und die erste Bauphase von 1961 – eine Mauer, die zu einem Kladower Wohnhaus gehört – erhalten geblieben ist. Auf diese seien später die Zäune gefolgt und erst 1970 die Betonmauer. Heute ist die Gedenkstätte Teil des 160 Kilometer langen Berliner Mauerweges.

"Viele weinten an dem Tag"

Nachdem Winfried Sträter, Ortsvorsteher von Groß Glienicke, und Helmut Kleebank, Bezirksbürgermeister von Spandau, an diesem Tag ihre Kränze niedergelegt und die Anwesenden eine Schweigeminute einlegt haben, tritt auch eine ganz in Schwarz gekleidete Frau nach vorn und legt einen Strauß roter Rosen an der Mauer ab. Es ist Trauthilde Schönbrodt-Biller, die seit 1997 in Groß Glienicke lebt. Sie erzählt: „Als die Mauer gebaut wurde, war ich zehn Jahre alt. Ich erinnere mich gut daran, dass viele an diesem Tag weinten.“ Gekommen sei sie, „weil es so wichtig ist, dass die Opfer des DDR-Regimes endlich Anerkennung erfahren haben und die Erinnerung an sie bewahrt werden muss“. Dabei spricht sie nicht nur von jenen, die an der Mauer bei einem Fluchtversuch erschossen wurden – ihr eigener Mann starb 1985 infolge einer langjährigen Haft in einem DDR-Gefängnis. Er arbeitete als Theater-Regisseur, seine Arbeit wurde als systemkritisch eingestuft. Er erhielt ein Arbeitsverbot und wurde dann wegen Arbeitsverweigerung verhaftet. 1978 schließlich kaufte die BRD ihn und seine Frau frei und sie reisten nach Westdeutschland aus. „Aber er hat sich nicht mehr erholt“, sagt sie. Nach seinem Tod lebte sie in Spandau, nach Groß Glienicke zog Schönbrodt-Biller erst 1997. Auf die Frage, wo sie sich eigentlich heimisch fühle, antwortet sie: „Meine Heimat ist immer das freie Land, egal ob Spandau oder Glienicke.“

Auch Uschi Syring-Dargies, die seit den 2000er-Jahren in Groß Glienicke lebt, hat die Tage des Mauerbaus noch gut in Erinnerung: „Mein Vater war Pfarrer und wir sind schon vor dem Mauerbau nach West-Berlin gezogen. Ich hatte am Gymnasium eine Mitschülerin aus Ost-Berlin, für die ich als 16-Jährige noch im August 1961 einen gefälschten westdeutschen Pass rüberschmuggelte – in meiner Unterhose. Wir haben es unbeschadet nach drüben geschafft“, erinnert sie sich.

Ortsvorsteher Sträter: Aktuell gebe es eine „extrem vulgäre Demokratieverachtung“

Was Freiheit eigentlich ist, und ob sie auch heute gefährdet sei, das sprach Ortsvorsteher Sträter in seiner Rede vor der Kranzniederlegung an. In der Welt gebe es aktuell eine „extrem vulgäre Demokratieverachtung“ – spürbar sei das etwa in den sozialen Netzwerken im Internet. Angesichts dessen sei es wichtig, ins Gedächtnis zu rufen, was es eigentlich bedeute, in einer Diktatur zu leben. Demokratie und Wahrheit hätten immer noch die größte Nähe zueinander, so Sträter.

Groß Glienicker, die schon zu DDR-Zeiten hier lebten, sind nicht zum Gedenken gekommen. „Viele von ihnen haben sich nach der Wende aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen“, sagt Sträter. Weil es in den 1990er-Jahren große Veränderungen im Dorf gab, viele zuzogen, es juristische Streitigkeiten um Rückübertragungen von Grundstücken gab. „Das war für viele eine brutale Erfahrung – da standen plötzlich gleich mehrere Leute in ihren Gärten und behaupteten, es wären ihre Grundstücke.“ Es gebe zwar heute gute nachbarschaftliche Beziehungen der Menschen untereinander, aber: „Ihr Dorf ist einfach nicht mehr das alte “, sagt er. Und so schön es hier auch jetzt sei: „Vielleicht gibt es noch eine innere Scheu, an diesen Platz zu kommen, weil es früher verboten war. Vielleicht sitzt das noch tief drin – das ist der lange Schatten der Geschichte.“


Zum Original