Andrea Lütkewitz

Freie (Online-) Redakteurin und Journalistin

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Genie und Nerd: Besuch des Synästhetikers

Besuch des Synästhetikers: Clemens J. Setz liest heute Abend in Potsdam aus “Die Stunde zwischen Frau und Gitarre”

Genial – oder endlose Qual: Im Feuilleton scheiden sich die Geister an Clemens J. Setz’ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Trotz der Tausend Seiten – vielleicht bereits eine Erklärung für das Branding „Qual“ – ist die Handlung schnell erzählt: Die junge Natalie Reinegger arbeitet in einem Heim für betreutes Wohnen und kümmert sich dort um Alexander Dorm, der im Rollstuhl sitzt. Der bekommt regelmäßig Besuch von Christopher Hollberg, doch der ist kein Freund, war er doch jahrelang das Stalking-Opfer des homosexuellen Dorn. Dieser trieb schließlich mit seinem Wahn Hollbergs Ehefrau in den Selbstmord. Natalie ist die Einzige, die bald merkt, dass hinter den Besuchen Hollbergs keine Fürsorge steckt, sondern Rache. Ein Psychospiel also, in dem die Rollen immer wieder vertauscht werden, sodass es unklar bleibt, wer eigentlich Opfer und wer Täter ist.

Die Reflexion braucht ein Koordinatensystem

So viel zum Plot. Den zu reflektieren bräuchte es jedoch einen unbegrenzten geometrischen Raum, um dort die vielen kleinen Punkte zu einem komplexen Gebilde zusammenzufügen. Denn die Figuren in einem übersichtlichen Ganzen zu zeigen, so leicht macht es Setz der Welt nicht. Allein die hypersensible ehemalige Epileptikerin Natalie zieht den Leser in ein fremdes und verstörendes Universum. So etwa, wenn sie ihre imaginäre Maus auf der Schulter balanciert, eigene Essgeräusche mit dem Smartphone aufzeichnet und für Podcasts verwendet oder unter Brücken fremden Männern Blowjobs anbietet – um anschließend die Kondome mit ihrem Sperma mit nach Hause zu nehmen. Setz schafft es aber, dass am Ende dieser Reise durch allerlei Seltsamkeiten kein Urteil über die Figuren entsteht, sondern eher die Frage aufkommt, was nun eigentlich normal und was krank ist.

Vom Nerd zum Autor

Nach Attitüde sucht man jedoch bei Setz vergeblich. Das wird verständlich, wenn man seinem Werdegang nachspürt: Bis zu seinem 16. Lebensjahr beschäftigt er sich mit Ballerspielen statt mit Büchern, ein Studium der Mathematik und Germanistik bricht er ab. Auf klassische Recherche habe er wenig Lust, erzählt er einmal, und das ist genau das, was „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ von anderen Romanen unterscheidet, ihn zu einer unmittelbaren Erzählung des Moments, der augenblicklichen Erfahrung macht. Von „Livehacks“ spricht Setz dabei selbst, das sind kleine poetische Abwandlungen des banalen Alltags, Sprachfragmente, Sequenzen, die eine neue Dimension des Bekannten zeigen. Hinzu kommt Setz’ Offenheit, wenn es um ihn persönlich geht. Er sei Synästhetiker, erzählt er in Interviews. Übersetzt heißt das, dass er mit bestimmten Tönen sofort eine Farbe, mit Wörtern Formen verbindet. „Plüsch“ etwa wölbt sich vor seinem geistigen Auge „golden nach vorne wie ein Gong“. Für viele – trotz wachsender Popularität auf der ganzen Welt – ebenfalls ungewöhnlich: Seine Empfänglichkeit für ASMR-Videos – das heißt Autonomous Sensory Meridian Response und es bedeutet, durch Geräusche wie etwa das Streifen einer Hand über ein Blatt Papier Glücksgefühle oder eine Art Rausch zu erleben.

Literaturinterpretation wird überbewertet

In Interviews weist der 33-jährige Autor gern darauf hin, dass eindeutige Interpretationen in der Literatur – aus seiner Sicht – überbewertet sind. Kompatibel mit dem Leser will der Grazer ebenfalls nicht sein: „Das Interesse liegt bei mir an der Geschichte und den Figuren. Falls eine Figur vorkommt, die einer Mehrheit der Leser andersartig oder behindert oder krank erscheint, sagt das nicht so viel über meine Motivationen, sondern zeigt das momentane Koordinatensystem, nach dem die Menschen urteilen.“

Setz lässt die Welt in seinen Texten durch seine ungewöhnlichen Wahrnehmung eindringlicher erscheinen. Eigentlich nicht schwer, beides zusammenzubringen: Das Genie und den Autor, der quälend individuelle Schmerzgrenzen überschreitet.


Der Text erschien in abgeänderter und gekürzter Form am 22. Februar 2016 in der Printausgabe der Potsdamer Neuesten Nachrichten auf Seite 21 und online hier: http://www.pnn.de/potsdam-kultur/1052442/.


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