1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Deutschlands Blick auf Flucht und Vertreibung der arabischen Juden

Im Judentum werden die Regeln und Gesetze der mündlichen Überlieferung im Talmud gedeutet. Der Talmud ist im historischen Babylonien auf dem Gebiet des heutigen Irak entstanden. Erste Erwähnungen der jüdischen Gemeinde im Irak reichen bis 586 vor Christus zurück. Sie ist die wohl älteste jüdische Gemeinde der Welt. Heute wird die Zahl ihrer Angehörigen auf fünf geschätzt. Jedes Jahr, am 30. November, wird in Israel der Flucht und Vertreibung der Juden aus den arabischen Staaten und dem Iran gedacht. Im Jahr 2014 beschloss das israelische Parlament, die Knesseth, den offiziellen Gedenktag. Israel ist der einzige Staat, der ihn begeht.

Farhud-Pogrome in der wohl ältesten jüdischen Gemeinde der Welt

Im Juni 1941 kam es in Bagdad zu den Farhud-Pogromen. Je nach Quelle wurden bei den Ausschreitungen 130 bis 180 Menschen jüdischen Glaubens ermordet. Ein Großteil der der jüdischen Gemeinde floh aus dem Irak oder wurde aus ihm vertrieben. Vor der Gründung Israels lebten in den arabischen Staaten mehr als 850 000 Menschen jüdischen Glaubens. Nach Zahlen der Jewish Virtual Library sind es heute knapp 3700. Nach Israel kamen 600 000 der Geflohenen. Heute machen sie und ihre Nachkommen die Hälfte der Staatsbürger aus.

Antisemitische Bündnisse mit Europa

Auch in Baden-Württemberg leben Menschen jüdischen Glaubens, deren Vorfahren in arabischen Ländern lebten. Auch in Deutschland ist das Wissen über diesen Teil jüdischer Geschichte rar. „Die Juden der arabischen Welt. Die verbotene Frage“ von Georges Bensoussan ist eine der wenigen auf Deutsch erschienenen Veröffentlichungen zu dem Thema. Der Historiker hat Zeugenaussagen und Dokumente aus diplomatischen und militärischen Quellen sowie arabischen, westlichen oder jüdischen Ursprungs gesichtet.

Das Ergebnis: Der Antisemitismus in den arabischen Staaten und dem Iran begann nicht erst mit der Gründung des Staates Israel, und er ging Bündnisse mit Europa ein. Bereits im Zweiten Weltkrieg arbeitete der spätere ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser als Offizier mit Agenten des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens zusammen. Auch heute noch befinden sich die schweizerische, kanadische und niederländische Botschaft in Kairo in Häusern, die einst wohlhabenden jüdischen Familien gehörten.

Antisemitismus in Ausstellung zu Palästina?

Auch Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter des Landes Baden-Württemberg, kommt zu dem Schluss, dass der Blick auf den Nah-Ost-Konflikt in Deutschland einseitig ist. In seinem ersten Bericht fordert Blume darum, die in mehreren deutschen Städten gezeigte Wanderausstellung „Die Nakba - Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“ zu überarbeiten. Sie befasst sich mit der Geschichte der geflüchteten und vertriebenen Palästinenser seit der Gründung Israels 1948. Blume betont, die Ausstellung selbst sei nicht antisemitisch: „Natürlich kann die Flucht und Vertreibung der Palästinenser dargestellt werden.“ Problematisch sei, dass die Ausstellung ein einseitiges Bild von Israel festige, „da nicht gleichermaßen über die Flucht und Vertreibung von Juden aus den arabischen Staaten berichtet wird.“ Antisemitische Stereotype würden so abgebildet und könnten gesellschaftlich befördert werden.

Für Kuratorin Ingrid Rumpf hat diese Darstellung einen Hintergrund. „Wir wollen mit der Ausstellung nicht die komplette Geschichte der Zeit um 1948 abbilden.“ Der Fokus liege auf der "Nakba" als der Erfahrung der Flucht und Vertreibung von Palästinensern. Rumpf bietet an, die Ausstellung gemeinsam mit einer anderen Ausstellung zu zeigen. So könne zwischen beiden Perspektiven ein Austausch stattfinden.

Israelbezogener Antisemitismus

Für Michel Blume greift das zu kurz: „Antisemitismus zeigt sich in der Gegenwart nicht mehr nur über klassische antisemitische Mythen, sondern in Anfeindungen, die gegen den Staat Israel gerichtet sind“, schreibt er im Antisemitismusbericht.. Oft würden judenfeindliche Traditionen hinter israelkritischen Aussagen verschleiert. Als Rechtfertigung diene dann häufig der Begriff „Israel-Kritik.“