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Wissenschaft vs. Tatort: Morden Pfleger aus Mitleid?

Hohe Arbeitsbelastung, schlechte Personalsituation: Im neuen "Tatort" aus Stuttgart kommen die Arbeitsbedingungen in der Pflege schlecht weg. Begünstigt ein solches Arbeitsklima, dass es zu Tötungen von Patienten durch Pflegepersonal kommt?

apl.-Prof. Dr. Karl Beine (Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke):

Ein solches Arbeitsklima begünstigt zumindest hohe Opferzahlen und lange Tatzeiträume. Es macht fehleranfällig, denn es ist gekennzeichnet durch großes Gehetztsein. Es lässt einen als Pfleger natürlich auch an der Wertschätzung der eigenen Arbeit zweifeln. Das gilt auch für die ambulante Pflege. Es ist zudem eine wenig bekannte Tatsache, dass Deutschlands Krankenhäuser zu wenig Pflegepersonal haben. 1000 Patienten werden in deutschen Kliniken von 19 Pflegekräften versorgt, während es in Norwegen 40 sind. Die Arbeitsbelastung der Pflege in deutschen Krankenhäusern wird von den Pflegeverantwortlichen seit mindestens 20 Jahren sehenden Auges in Kauf genommen und niemand hat bis vor relativ kurzer Zeit darauf reagiert. Jetzt gibt es immerhin die Personaluntergrenzen.

Warum kommt es zu Tötungen von Patienten durch Pflegepersonal?

Niemand wird aufgrund von hoher Arbeitsbelastung zum Mörder. Eine Pflegerin, die überlastet ist, muss nicht töten, sondern könnte sich Hilfe holen oder den Beruf wechseln. Es handelt sich immer um eine Vielzahl von persönlichen Gegebenheiten. Bei Personen, die in der Pflege arbeiten und später zu Tätern werden, ist oft ein besonders hohes Maß an Selbstunsicherheit vorhanden. Diese Personen sind meist auf Anerkennung von außen angewiesen und die Sehnsucht nach Anerkennung liegt vor. Man könnte sagen, viele narzisstisch veranlagte Personen werden in diesem Metier zu Tätern.

Pflegerin Anne Werner gibt bei ihrem Geständnis an, Patient*innen durch Mord von ihrem Leiden zu erlösen. Wann erscheint Motivation durch Mitleid überzeugend?

Dieses Mitleid, das von vielen Tätern behauptet wird, ist kein wirkliches Motiv. Anne gehört zu dem Typen, die das eigene Leiden nicht mehr als solches identifizieren, sondern in das Leiden der Patienten projizieren. Sie befreien sich nicht aus dieser Situation, wählen also keine erwachsene Lösung des Konfliktes, sondern erlösen Personen von „ihrem" Leiden, ohne, dass diese darum gebeten hätten. Das behauptete Mitleid der meisten Täter ist ein verschobenes Selbstmitleid, nicht aber ein wirkliches Mitleid oder begleitendes Leiden mit dem Patienten.

Welche Warnzeichen im Arbeiten von Angestellten werden von Pflegedienstleitungen übersehen?

Hinweise sind etwa überfällig häufige Sterbefälle in Anwesenheit eines Pflegemitarbeiters. Die Rate der Todesfälle in einer Pflegesituation weicht bei den Tätern stark ab. Außerdem ist es wichtig, Persönlichkeitsänderungen, sozusagen den Täterwerdungsprozess, zu erkennen. Dazu gehören ein zunehmender Rückzug der Person, so wie eine Verrohung der Sprache. Die Forschung zeigt, dass oft nicht mehr von „Sterben" sondern „Abkratzen" die Rede ist. Distanziert kühles Verhalten unter Kollegen, ebenso wie Flapsigkeiten oder zynische Verbitterung sind ebenfalls Warnzeichen. Anne Werner arbeitet ja nicht in einem Team, sondern pflegt ihre Patienten alleine ambulant. Hier müssten Veränderungen im Dokumentationsstil beachtet werden. Normalerweise verläuft eine Dokumentation knapp und beschränkt sich auf das Sachliche. Man sollte hellhörig werden, wenn diese besonders anschaulich und ausführlich und somit als vorweggenommene Verteidigungsschrift zwischen den Zeilen formuliert wird. Auffällige Prognosen, wie etwa „der Patient wird den heutigen Abend nicht mehr erleben", sollte man ernst nehmen. Es geht hier also darum, die eigene künftige Tat durch diese Art von Dokumentation zu kaschieren.

Gibt es einen Mangel an institutionellen Kontrollmechanismen, die Tötungsdelikte begünstigen?

Im Hinblick auf die Qualität der ambulanten Pflege gibt es deutliche Defizite. In München gibt es gerade einen Prozess gegen einen Krankenpfleger, der in Verdacht steht, mehrere Patienten getötet zu haben. Bei ihm gab es keine Kontrolle, die Medikamentenvergabe wurde nicht näher kontrolliert, seine Qualifikation nicht hinreichend geprüft. Es liegt insgesamt eine sehr unzureichende Kontrolle in der ambulanten Pflege vor.

Was wären Präventionsmaßnahmen, um Patiententötung durch Pflegepersonal zu verhindern?

Eine Aufdeckungsbarriere ist, dass die Krankenpflege einen Berufsstand ausmacht, von dem wir Tötungen am allerwenigstens erwarten. Die „Täter" gehören ja einer Berufsgruppe an, von der wir meinen, dort würde der Geist von Florence Nightingale weitergelebt. Wir halten es für unmöglich, dass Menschen mit Helferberufen töten. Ein erster wichtiger Schritt ist, dass wir solche Tötungsdelikte auch in dieser Profession für möglich halten. Wenn wir verantwortungsbewusst damit umgehen und hartnäckige Anzeichen nicht ignorieren, sind wir einen kleinen Schritt weiter. Außerdem muss man in den Medikamentenverbrauch gemeinsam mit Hausärzten engmaschig kontrollieren. Diese Kontrollmechanismen alleine werden aber nicht ausreichen. Es wird erst dann zu einer deutlichen Risikominimierung kommen, wenn die Vorgesetzten und Kollegen in den Pflegediensten durch regelmäßigen Kontakt mit ihren Mitarbeitern erkennen, wenn Veränderungen stattfinden, sich Dokumentationsstile und Rückmeldungen der Patienten ändern. Wenn das nicht in regelmäßigen Mitarbeitergesprächen bearbeitet wird, werden wir nicht erleben, dass es zu einer Reduzierung dieses Risikos kommt.

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