Wyrin wähnt sich in Sicherheit: anderer Name, neue Papiere, sein Äußeres mit dem Skalpell verändert. Drei Jahrzehnte sind vergangen, seit der ehemalige sowjetische Agent die Seiten gewechselt und in einem anderen Land ein neues Leben begonnen hat. Doch der Panzer, den diese zweite Identität um ihn errichtet, ist zerbrechlich. Denn in der alten Heimat lagert noch seine Akte, der Beweis für seinen Verrat, eine "Voodoo-Puppe, in die ein Hexenmeister jederzeit seine Nadeln stechen" kann. Ein solcher Stich wird ihm schließlich zum Verhängnis: Hinter dem plötzlichen Schmerz im Nacken vermutet Wyrin zunächst eine Wespe. Doch als er nur wenige Momente später entkräftet zusammenbricht, begreift er seinen Irrtum.
Das tödliche Attentat markiert nicht nur den Ausgangspunkt von Sergej Lebedews neuem Romans "Das perfekte Gift", sondern auch den Beginn einer nervenaufreibenden Verfolgungsjagd. Um bei der Aufklärung des Falls zu helfen, wird der russische Chemie-Professor Kalitin einberufen. Unter Stalin hat er an Nervenkampfstoffen für das russische Militär geforscht und das unnachweisbare Gift entwickelt, das Wyrin injiziert wurde. Kalitin ist der Einzige, der die unsichtbare Spur erkennt, die sein Werk hinterlässt, und die geradewegs nach Russland führt. Somit ist er nicht nur ein mächtiger Mann, sondern auch in Gefahr: Denn ein von der Regierung eingesetzter Agent ist Kalitin auf den Fersen, um ihn gewaltsam an seiner Spurensuche zu hindern.
Lebedew reichert seinen Roman zu einem spannungsgeladenen, brisanten und brandaktuellen Thriller an, der - ebenso wie Wyrins Identitäten - Wahres und Erfundenes, Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen lässt. Beim Lesen drängen sich die Namen Alexej Nawalny und Sergej Skripal förmlich auf, die selbst Opfer von Giftanschlägen wurden und deren Biografien fast überdeutlich denen von Lebedews Figuren ähneln. Figuren, die die Staatsmacht kritisieren und vor ihr flüchten müssen; die dem Kreml zu unbequem werden und deshalb beseitigt werden sollen.
Lebedew selbst ist nicht nur ein besonderer Kenner der russischen Geschichte, sondern vor allem auch ein prominenter Putin-Kritiker. Während dessen erneuter Wahl im März 2018 bezeichnete der Autor und Journalist Russlands Gesellschaft als von staatlicher Propaganda vergiftet. Ein Bild, das er in seinem jüngsten Werk aufgreift und verdichtet. Denn das "perfekte Gift" existiert nicht in Form von Formeln und Substanzen. Selbst das im Buch beschriebene - und in seinen Eigenschaften stark an den Nervenkampfstoff Nowitschok erinnernde - Gift ist nur nahezu perfekt. Zwar verflüchtigt es sich nach dem Einsatz in wenigen Augenblicken, "verliert sich in der Astralebene zwischen Atomen und Molekülen, löst sich sofort in Luft auf" und ist so nur schwer nachweisbar. Doch ist es so tödlich, dass sogenannte Kollateralschäden kaum vermeidbar sind. Längst hat sich dieses spurlose Mordwerkzeug der Kontrolle der Menschen entzogen.
Ohne jemals zu explizit zu werden, gewährt Lebedew einen tiefen und genauen Einblick in die Arbeit von Geheimdiensten und militärischen Chemie-Laboren, entlarvt ein System, das Menschen zu Versuchsobjekten macht und eine frei denkende Gesellschaft als Bedrohung wahrnimmt. Um dieser vermeintlichen Gefahr habhaft zu werden, um das lebensfeindliche System aufrechtzuerhalten und die eigene Macht um jeden Preis zu wahren, kommt das tatsächlich perfekte Gift zum Einsatz: Angst.
Wo im Labor entwickelte Stoffe an ihre praktischen Grenzen stoßen, kommt sie ins Spiel und offenbart ihre wahre Vollkommenheit. Ähnlich wie Nowitschok breitet sich die Angst klammheimlich aus, hat sowohl Lebedews Figuren als auch die Lesenden im Griff. Sie lähmt, lässt den Atem stocken und füllt selbst die lichten Momente der Geschichte aus. Bisweilen wirkt dieses paranoide Narrativ etwas zu dicht und beinahe überladen mit Spannung. Nichts bleibt unbeobachtet und vor allem nicht unvergolten, und so leben Lebedews Charaktere in permanenter Angst. Schließlich wissen sie, mit wem sie es zu tun haben, waren sie doch selbst lange Teil des Systems, stützten es als Professoren in geheimen Bunkern, als staatlich beauftragte Killer, als Informationsquellen und Aktenwälzer.
Seine eigene Akte, in die er einst selbst Einblick bekam, beschreibt der ehemalige Agent Wyrin zu Beginn des Buches als einen "paranoiden Roman": Jeder Schritt, selbst der Gang zur Bäckerei und die Anzahl der gekauften Brote würden erfasst. Hier scheinen Fiktion und Realität ineinander überzugehen. Denn die Einsicht Wyrins darf man sicherlich auch als Kommentar Lebedews lesen, der sich selbst darüber im Klaren sein wird, wie ihn seine herrschaftskritische literarische Arbeit in den Fokus der Regierung rückten dürfte.
Die Motive der Überwachung und der staatlichen Menschenjagd scheinen derzeit aktueller denn je. Skripal, Nawalny oder der jüngst verhaftete belarussische Blogger Raman Protassewitsch: Sie alle legten sich mit einer "irren Gedächtnismaschine, einer unheilvollen Macht" an, wie der Erzähler in Lebedewes Roman beschreibt. Und so liest sich "Das perfekte Gift" in der Übersetzung von Franziska Zwerg nicht nur wie ein spannungsgeladener Spionage-Thriller. Lebedew entwirft vielmehr eine machtkritische Geschichte, die den Blick für die aktuelle politische Situation in Russland schärft; ein Buch, das auch weit über die letzte Seite hinaus nicht beabsichtigt zu enden.
Quelle: ntv.de