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Wie sich Rassismus wirklich anfühlt

Deutschland hat ein Rassismus-Problem – und das nicht erst seit der AfD.


Ich habe meine lockigen Haare wie immer nach hinten zu einem Zopf gebunden, die Augen umrandet mit viel zu dick aufgetragenem schwarzen Kajal, die Hüfthose sitzt fest dank Nietengürtel, der seine besten Tage schon lange gezählt hat. Es ist circa 2006 und ich scrolle über meine "selbstgebaute" Website, eine Art Instagram-Vorgänger, wenn man so will. Zu sehen sind dort neben zusammengesammelten Bildern aus dem Internet, vor allem Bilder von mir und meinen Freundinnen. Ich will nachsehen, ob ein neuer Kommentar hinterlassen wurde. Normalerweise steht da so etwas wie "Du bist meine beste Freundin. Hdgdl". Statt einem kindlich-unschuldigen Kompliment steht an diesem Tag aber unter einem meiner Bilder: "Fette N*gerlippen". Absender anonym. 


Viel öfter als mit direktem Rassismus, musste ich mit kleinen Alltagsaggressionen umgehen

Es war nicht das erste und nicht das letzte Mal, dass ich aufgrund meiner biologischen Merkmale beleidigt wurde. Viel öfter als mit derart direktem Rassismus jedoch, musste ich mit kleinen Alltagsaggressionen umgehen: Ein beiläufiger Satz hier, eine unangenehme Situation da, aber sie häufen sich an und wie ein Distelsamen, der stetig gegossen wird und immer weiter wächst, bis seine stacheligen Blüten zum Vorschein kommen, prägt sich jede vermeintliche Kleinigkeit ein, formt über Jahre das eigene Welt- und Selbstbild. Die Aggressionen werden einem von fremden Menschen entgegengebracht, ebenso wie von Menschen, die man wertschätzt. Von Fremden, die zuerst sympathisch wirkten, von Menschen, die es meist "gar nicht böse meinen”, deren rassistische Aussagen aber genau deshalb umso härter treffen. Denn es legt eine innere Überzeugung offen: Du bist anders, gehörst nicht richtig dazu. 


Wenn ich heute an diesen Moment im Jahr 2006 zurückdenke, ist die schlimmere Erinnerung nicht die Beleidigung an sich, sondern dass ich statt Wut damals nur Scham empfand. Ich schämte mich für mein Aussehen, schämte mich dafür, dass ich für mein Aussehen diskriminiert wurde. Ich hatte die rassistischen Vorurteile selbst internalisiert, vielleicht gerade, weil mich andere wegen meiner Schwarzen Merkmale nicht als deutsch akzeptierten – und das obwohl ich in Deutschland geboren bin und mein ganzes Leben bis dahin nichts anderes als deutsche Kultur erfahren hatte. Der Weg zur Selbstliebe, dahin meine Schwarzen Wurzeln als Teil von mir anzuerkennen, für den ich mich nicht schämen muss, auf den ich sogar stolz sein darf – das musste ich mir lange und hart erarbeiten. 


"Kann ich mal anfassen?"


Alltagsrassismus beginnt bei Bemerkungen über meine Schwarzen Haare, die von Friseuren wahlweise als schwierig oder wie selbstverständlich als "N*gerkrause" bezeichnet wurden; auf der anderen Seite von Fremden behandelt wurden wie das seltene Fell eines weißen Tigers. Wenn ich Glück hatte, wurde ich noch gefragt "Kann ich mal anfassen?" – In meinen Haaren landeten die fremden Finger aber so oder so. Generell wurde auf dem bayrischen Land "N*ger" nicht selten wie selbstverständlich als Synonym für Schwarze Menschen verwendet. Als prominentes Beispiel erinnere man sich an den damaligen bayrischen Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der Roberto Blanco in der Talkshow "Hart aber fair" 2015 attestierte "immer ein wunderbarer N*ger" gewesen zu sein, der "den meisten Deutschen wunderbar gefallen hat."


"Wo kommst du eigentlich her?"


Mit viel subtileren Situationen geht es weiter: Mal wurde ich für meine Deutschkenntnisse gelobt, obwohl Deutsch meine Muttersprache ist. Oder man sprach gebrochen und langsam mit mir, wie mit einem Kleinkind. Ich kann nicht zählen, wie oft ich schon gefragt wurde, woher ich eigentlich komme. Zufrieden gibt man sich erst, wenn die nicht-weiße Wurzel erfragt wurde. Auf Tinder schreibt man mir regelmäßig, ich sehe exotisch aus – ein Wort, das von mir aus gerne für die Beschreibung eines Tieres oder einer Obstsorte genutzt werden kann, sicher aber nicht für PoCs. Ich wurde in eine Schublade gedrängt, die ich selber gar nicht kannte. Mir wurden Eigenschaften zugesprochen, die mir vollkommen unbekannt waren. Mir wurde implizit untersagt, mich mit der Kultur zu identifizieren, die mir eigentlich am Nächsten lag. 


Mangelnde Identifikation mit der "deutschen Kultur"


Die Folge meiner Erfahrungen mit Alltagsrassismus: Ich habe jahrelang versucht meine Schwarzen Merkmale so gut wie möglich zu verstecken. Habe jahrelang versucht Situationen zu entgehen, von denen ich glaubte, ich könnte mit meinen Schwarzen Merkmalen anecken. Beispielsweise habe ich mich lange Zeit nicht getraut, ein Dirndl zu tragen, obwohl mir nie jemand direkt gesagt hat, ich dürfe das nicht. Ich habe mich lange Zeit nicht getraut, laut oder überhaupt bei einem Fußballspiel die deutsche Nationalhymne mitzusingen, wie meine Freunde es taten, obwohl mir nie jemand direkt gesagt hat, ich dürfe das nicht. Die Überzeugung, dass ich das nicht darf, war Produkt der Alltagsdiskriminierungen. Sie haben meine Realität geformt und ich habe meine Überzeugungen entsprechend angepasst: Habe mich von deutscher Kultur und dem Konzept von Nationalität per se entfremdet.


Absurderweise werden PoCs dann meist für ihre mangelnde Identifikation mit der "deutschen Kultur" abgestraft und diskriminiert.  Nicht wir dürfen aussuchen, wann wir auf unsere nicht-weißen Wurzeln aufmerksam machen oder stolz sein wollen – wann und wie diese zur Sprache kommen, wird von der weißen Mehrheitsgesellschaft bestimmt. Ständig wird man darauf hingewiesen, dass man "anders" ist. Wenn man als Folge dann beginnt sich von seinem Deutschsein zu distanzieren beziehungsweise über die "Andersartigkeit" zu identifizieren, wird einem wieder vorgeworfen, man integriere sich nicht ausreichend in die deutsche Gesellschaft, verbinde sich zu wenig mit den "deutschen Werten".


Ein prominentes, wenn auch nicht unproblematisches Beispiel: Mesut Özil. Der ehemalige Nationalspieler ist nach der Fußballweltmeisterschaft 2018 zurückgetreten, unter anderem wegen der rassistischen Anfeindungen, die er insbesondere nach seinem umstrittenen Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan erfahren hat. Als "Deutscher" wurde er gefeiert, solange er außerordentliche Dienste leistete und den Sieg einbrachte – sobald dieses Bild ins Wanken geriet aber, war er nur noch der "Türke", der die deutschen Werte nicht schätzt.


PoCs werden in ihren Erfahrung oft nicht ernst genommen


Dabei habe ich aufgrund meiner hellen Haut viel weniger und weniger schlimme Erfahrungen im Alltag machen müssen, als andere People of Colour: Unter dem Hashtag #metwo haben Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland ihre Erfahrungen mit Alltagsdiskriminierung auf Twitter Luft gemacht. Der benachbarte Platz, der in der vollen Bahn leer bleibt, verdachtsfreie Polizeikontrollen, Benachteiligung bei der Job- und Wohnungssuche – all das gehört noch zu den vergleichsweise harmlosen Schilderungen.


Dennoch werden PoCs in ihren Erfahrungen oft nicht ernst genommen. In Diskussionen über Alltagsrassismus oder wenn sie sich gegen diskriminierende Aussagen wehren, müssen PoCs sich oft anhören: "Hab dich nicht so", "War doch nicht böse gemeint" oder "Du bist aber sensibel". Nicht selten müssen wir uns sogar noch für unsere "Anschuldigungen" rechtfertigen. Oft mag keine böse Absicht hinter den alltagsrassistischen Aussagen stecken, das ändert aber nichts an ihrer verletzenden Natur. Gerade deshalb ist der Diskurs so wichtig.


Rassismus ist ein gesellschaftliches Problem, kein Einzelfall


Es ist auch deshalb so wichtig, weil es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern um ein gesellschaftliches Problem: Aus einer Analyse des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) von 2018 geht hervor, dass 48 Prozent der Menschen mit äußerlich erkennbarem Migrationshintergrund Diskriminierung erfahren haben. Die Zahl steigt auf 59 Prozent, für diejenigen, die zudem nicht akzentfrei deutsch sprechen. Von den Menschen mit Migrationshintergrund, die sich äußerlich nicht von der Mehrheitsbevölkerung unterscheiden, berichteten 17 Prozent von erlebter Diskriminierung.


Auch lässt sich fremdenfeindliches Gedankengut lange nicht nur am Rande der Bevölkerung finden: Laut der "Mitte"-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung von 2019 vertreten rund 19 Prozent der Deutschen fremdenfeindliche Werte, rund sieben Prozent haben rassistische Einstellungen, das heißt sie werten Menschen aufgrund ihrer biologischen Merkmale oder Abstammung ab. Eine Studie der Universität Leipzig aus dem Jahr 2018 kommt zu dem Ergebnis, dass 24 Prozent der Deutschen ausländerfeindliche Auffassungen vertreten. Die fremdenfeindlich-motivierten Straftaten stiegen 2018 nach Angaben des Bundesinnenministeriums um 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.


Die AfD macht Antisemitismus, Xenophobie und Rassismus salonfähig


Wenn die thüringische AfD, die mit Björn Höcke offiziell einen Faschisten als Vorsitzenden hat, bei der Landtagswahl 23,4 Prozent erhält, ist der Schock groß. Die Ressentiments in der Bevölkerung scheinen auf einmal weiter verbreitet als gedacht. Weniger schockierend ist das Ergebnis wohl für diejenigen, die aufgrund ihres Aussehens, ihrer Herkunft oder Religion ihr Leben lang Diskriminierung erfahren haben und wissen: Deutschland hat ein Rassismusproblem – und das nicht erst seit der AfD. Was die AfD schafft, ist Antisemitismus, Xenophobie und Rassismus salonfähig zu machen, vom Stammtisch in verrauchten Kneipen in den Deutschen Bundestag und die Mitte der deutschen Gesellschaft zu holen. In der Mitte des Lebens steht Rassismus für diejenigen Menschen in Deutschland, die irgendwie "anders" aussehen, allerdings schon lange.