Vom Hof der Johannisberg-Schule hallen wieder Kinderrufe. Es ist das erste Schuljahr seit Pandemie-Beginn, in dem Schulen in Hessen wieder durchgehend vor Ort unterrichten können. Kehrt mit dem Präsenzunterricht auch die Normalität ein? Ein Besuch an der Johannisberg-Schule in Witzenhausen.
Falls am Morgen kein Schüler positiv getestet werde, habe er zwischen zwei Terminen Zeit für ein Telefonat, teilt Schulleiter Andreas Hilmes mit. Seit Beginn der Corona-Pandemie sind er und das Leitungsteam nicht nur Schulleiter, sondern auch Pandemie-Manager geworden.
Darin sind sie mittlerweile geübt, anders als in der Anfangszeit, die Hilmes „sein Berufsleben lang" nicht mehr vergessen wird: Die Unsicherheit, die Pressekonferenzen, die sie gebannt verfolgten, die „Freitags-Botschaften", die sich zum „Running Gag" entwickelten - Freitagabends bekamen sie Vorgaben, Montag mussten sie sie umgesetzt haben. Mittlerweile haben sie Leitfäden vom Kultusministerium und eine Routine, um neue Vorgaben umzusetzen. Das Leitungsteam liest sie, filtert heraus, was geändert werden muss, und Hilmes schreibt zunächst den Lehrern, dann den Eltern, dann einen Post für die Homepage und für Facebook. Die Corona-Tests, 1600 bis 1700 pro Woche, bestellen und melden die Sekretärinnen. Wenn es keine positiven Fälle gibt, verbringt Hilmes jede Woche 15-20 Stunden mit Pandemie-Management, schätzt er. Die größere Aufgabe für alle sei die soziale Unterstützung der Schüler. „Unser Fokus hat sich mit der Zeit verschoben", sagt Hilmes. Die Schüler kämen jetzt mit Sorgen und mit Themen, die nichts mehr mit dem Unterricht zu tun hätten: Soziale Schwierigkeiten, Unsicherheit, Ängste.
„Die Zahl der Auffälligkeiten steigt", sagt Hilmes, „und das betrifft alle Jahrgänge und Hintergründe." Viele Familien hätten sich immer sehr gut gekümmert. Zu anderen hätten sie den Kontakt verloren - obwohl die Klassenleitungen in manchen Fällen persönlich bei den Schülern geklingelt haben. Das belaste die Lehrer. „Es wird der Eindruck erweckt, wir befinden uns in einem Aufholjahr", sagt Hilmes, „das ist bei Weitem nicht der Fall."
Der Lehrer
Mit „Grusel" denkt Kamil Josef Daniek heute oft an die Zeit kurz vor dem ersten Lockdown zurück: „Da war ich in meiner Klasse, und habe mit denen eine Einheit durchgenommen, wo ich gesagt habe: ‚So, das bringt ihr euch jetzt selbst bei!'" Gut kam die Aufgabe nicht an: „Da habe ich einen Riesen-Wiederstand bekommen", sagt Daniek und erinnert sich an den Protest seiner Schüler: „'Das geht doch nicht, das werden wir erst kurz vor dem Abi brauchen, oder vielleicht im Studium, aber jetzt doch noch nicht!'"
Es kam anders. Schon wenige Wochen später waren die Schüler auf eigenverantwortliches Lernen angewiesen. Und Daniek versuchte, Wege zu finden, sie dabei zu unterstützen, ohne Nähe und persönlichen Kontakt. Dabei ging es ihm nicht nur um die Unterrichtsgestaltung. „Das allerwichtigste im Unterricht ist, dass man eine Beziehungsebene aufbaut", sagt Daniek, „sonst funktioniert der Unterricht nicht gut, und sonst fühlen sich auch die Schüler nicht wohl."
Eigentlich, erzählt Daniek bei einem Spaziergang in einer Freistunde, will er Unterricht machen, den er für modern und gut befindet: „Mit Gruppenarbeiten, mit Ausflügen, mit Nähe." Doch auch heute noch müssen er und seine Kollegen zunächst überlegen, was möglich ist, ohne gegen Regeln zu verstoßen oder die Sicherheit der Schüler zu gefährden. „Man hat jetzt immer diesen Filter vorgesetzt", sagt Daniek. Der Unterricht muss seit Beginn der Pandemie regelmäßig neu geplant werden. „Gewohnte Strukturen kann man eigentlich vergessen", resümiert der Lehrer. Man sei herausgefordert, Alternativen zu suchen.
Dementsprechend sieht auch Danieks Arbeitstag aus: Abends, nach dem Schulalltag und etwas Zeit mit seiner Familie, sitzt er oft bis 2 Uhr nachts am Rechner, um Mails zu beantworten. Seine Unterrichtsstunden plant er am Wochenende. „Ich habe einen zwiegespaltenen Blick auf die Situation", sagt er: „Man lernt unglaublich viel. Aber es kostet natürlich auch Kraft und Energie." Beklagen will er sich nicht. Die Leidtragenden der Pandemie sind in Kamil Josef Danieks Augen in erster Linie die Schüler: „Was ich sehr bedenklich finde ist, dass die Kinder und Jugendlichen einen Teil ihrer Jugend zwar nicht verpassen, aber sehr anders erleben als alle vor ihnen."
Der Gewerkschaftler
Von der Lage der Schulen erzählt Richard Maydorn am Telefon im Homeoffice. Er ist Vorsitzender im Kreisverband Witzenhausen der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). Vor seiner Pause hatte er noch schnell eine Rundmail an die Personalräte im Altkreis Witzenhausen verschickt, die 22. „GEW-Info“ seit Beginn der Pandemie, erzählt er. Damit will die Gewerkschaft den Lehrern eine Stütze sein, zum Beispiel mit Erklärungen zum aktuellen Hygieneplan. „Das Thema war gerade zu Beginn sehr gefragt, weil da wenig bekannt war“, sagt Maydorn. Die Ratlosigkeit ist heute nicht mehr das Problem. Maydorn: „Eine Kollegin sagte letztens: Wir sind schlicht am Limit!“ Wie das Limit für Lehrer aussieht, spürt Maydorn als Gewerkschaftler und Lehrer auch selbst: „Man bekommt zu den seltsamsten Zeiten noch Nachrichten von den Kollegen.“ Mit den ersten Schulschließungen hat die digitale Kommunikation zu- und nie wieder abgenommen.
Die Lehrer bekommen Mails mit Nachfragen zum Hygieneplan, mit Eltern-Anfragen zu den Hausaufgaben, von Schülern im Distanzunterricht und Schülern mit privaten Sorgen. Dazu, erzählt Maydorn, kommt für die Lehrer der Druck, Themen nachzuarbeiten: „Der Unterricht ist belastet dadurch, dass die Kinder so hohe Defizite haben und trotzdem so viel nacharbeiten müssen.“ Im November hat der GEW-Kreisverband einen offenen
Brief an das Hessische Kultusministerium geschrieben. Die Gewerkschaftler wollen nicht mehr zusehen müssen, wie ihre Kollegen täglich Überstunden machen und dafür nicht wertgeschätzt werden. Vor allem aber fordern sie einen Abbau der Bürokratie
und hohe Investitionen in Infrastruktur und Personal – nicht nur, um die Lehrer zu entlasten.
Aus durchschnittlich 25 Schülern bestand eine Klasse an hessischen Gymnasien im
Jahr 2020. Maydorn sagt: Erst, als er einmal 14 Schüler in einer Klasse hatte, konnte er jedem individuell gerecht werden und sich um jeden kümmern. Nach drei Halbjahren eingeschränktem Schulbetrieb bräuchte nun jeder Schüler individuelle Unterstützung. Aber: „Kinder sind halt keine Wähler“, stelltMaydorn fest.
Zum Original