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Ulrich Vilmar lebt seit 60 Jahren in Schweden - und kommt jedes Jahr zurück

Witzenhausen - Ulrich Vilmar möchte nicht gesiezt werden. Er sei der Ulli und mit allen per Du, stellt er klar. Im Schwedischen gebe es nur das Du. Und daran ist er gewöhnt, schließlich ist Schweden seit 60 Jahren seine Heimat. Und seine zwanglosen Umgangsformen, seine dunkelblaue Weste, sein Kennzeichen - ULLI - , alles schwedisch. Nur er nicht. „Ich bin Witzenhäuser", darauf besteht er, auch wenn alles dagegenspricht. Keine zehn Jahre hat er in Witzenhausen gelebt. Heute verbinden ihn nur noch seine Besuche mit der Stadt, zwei Mal im Jahr fährt er die 1272 Kilometer vom schwedischen Haninge nach Witzenhausen, um die Familie zu besuchen, bis auch die Tante wegzog. „Und auf einmal ist keiner mehr da", sagt er. „Da ist nur einer, wenn ich komme."


Die Familie war Jahrhunderte in der Stadt

Als Ulrich Vilmar Anfang 1945 nach Witzenhausen kam - er wurde als kleines Kind im Krieg zu den Großeltern geschickt -, war noch alles anders. „Da waren viele Vilmars hier. Der Name ist hier aufgetaucht im 16. Jahrhundert", erinnert er sich. Für den damals gerade vierjährigen Vilmar wurde die Stadt schnell zum Zuhause. Wenn er heute durch Witzenhausen streift, vorbei an den Häusern, in denen die Familie lebte - von der Walburger Straße zur Nordbahnhofstraße, über den Felsenweg und die Straße Auf der Kluse -, sprudelt es aus ihm heraus: „Ich erinnere mich an alles hier, überall haben wir gespielt." Am Kiosk am Nordbahnhof haben er und seine Freunde Süßes gekauft, unten an der Werra haben sie sich versteckt und Kirschen gegessen, auf der Mauer vor dem Haus haben sie Karten gespielt, während die Schwestern auf den Treppen saßen. Jede Ecke ist mit einer Erinnerung verbunden. „Deswegen ist das hier mein Zuhause."


Scheidung der Eltern bedeutet Abschied von Witzenhausen

Und es ist sein Zuhause geblieben, auch wenn Witzenhausen es bald nicht mehr war. Ende der 1940er-Jahre lassen die Eltern sich scheiden. Vilmars Vater verlässt die Stadt, seine Mutter bleibt in Armut - und sieht nur eine Chance, sich zu befreien. „Meine Mama hat sich selbst das Leben gerettet", sagt Vilmar über ihre Entscheidung, nach Schweden zu gehen und als Haushälterin bei Wohlhabenden zu arbeiten. Für Vilmar und seine beiden Schwestern geht es in ein Kinderheim. Das entscheidet sein Vater. Auch, dass Ulrich Vilmar mit 14 Jahren die Schule verlässt. „Ich hätte ja noch zwei Jahre in der Mittelschule sein können", sagt er. „Aber Vater meinte, ich sei gut genug." Der Vater fährt ihn zur Berufsberatung. Dort wird ihm ein Werbefilm für die Bergarbeit im Ruhrgebiet gezeigt. „Wie schön das ist, wie frei das ist, das hat er mir gezeigt, und das hat mir gefallen", berichtet Vilmar. „Natürlich, das hat jedem gefallen, insbesondere wenn man aus einfachen Verhältnissen kam, wo man nichts hatte."


Ausbildung „am Pütt"

Fünf Jahre hat Vilmar dieses schöne, freie Leben „am Pütt", als Berglehrling in Castrop-Rauxel, geführt. 1956 kommt er an. Eine Prüfung und zwei Unfälle später beschließt er bei einem Besuch seiner Mutter, mit ihr zu gehen, wie auch seine Schwestern vor ihm. Beim Personalbüro fragt man ihn, wann er denn aufhören wolle. „Da habe ich gesagt: heute", sagt Vilmar und grinst. Am 5. Oktober 1961 um 10.20 Uhr läuft der Zug im Stockholmer Hauptbahnhof ein - mit Vilmar an Bord. Er habe sich gefreut, seine Familie wiederzusehen, sagt er, besonders seine Schwestern: „Wir drei haben uns versprochen, dass wir zusammenhalten, egal was kommt."


 Der letzte Vilmar in Witzenhausen

Den Rest seiner Familie besuchte Vilmar weiterhin in Witzenhausen. Tante Gertrud habe im April Geburtstag, Onkel Friedel im September und immer kam Vilmar zu Besuch, berichtet er. Heute ist der Onkel tot, die Tante lebt in Hessisch Lichtenau. Sie waren die letzten Vilmars in Witzenhausen, das letzte Kapitel einer fast 500-jährigen Familiengeschichte in der Stadt.

Seine Besuche setzt Ulrich Vilmar trotzdem fort. Trifft manche alten Freunde, besucht andere auf dem Friedhof und genießt die Natur. „Als ich jünger war, da habe ich mich auf eine Wiese geworfen, denn die Gräser sind in Witzenhausen dicker als woanders", schwärmt er.


Warum die Stadt so besonders für ihn ist? Über die Frage schmunzelt er und sagt dann sicher: „In Witzenhausen wohnt meine Seele. Das Herz wohnt bei mir. Und manchmal müssen die sich treffen."


Von Alina Andraczek
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