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Der Zehner von St. Pauli

Mit 13 Jahren erblindet der Fußballer Serdal Celebi. Fast zehn Jahre dauert es, bis er sich wieder zurück auf den Rasen traut. Heute gilt er als bester Offensiv-Spieler des FC St. Pauli und kickt für Deutschland in der Blindenfußball-Nationalmannschaft.

 

Serdal Celebi vom FC St. Pauli nimmt den Pass an und läuft Richtung Strafraum. Den Ball eng am Fuß, dribbelt er den Gegenspieler aus. Noch zwölf Meter bis zum Tor. Celebi wird angegriffen und wieder setzt er sich durch. Doch diesmal stoppt der Stürmer nach gewonnenem Zweikampf und hält inne. Er könnte zu einem Mitspieler passen oder aufs Tor schießen. Doch Celebi zögert. Er lauscht den Zurufen seiner Teamkameraden und versucht sich zu orientieren. Dann nimmt er noch einmal Anlauf. Sieben Meter bis zum Tor. Er schießt – und trifft in die rechte obere Torecke.

Serdal Celebi ist blind. Fast die Hälfte seiner 31 Jahre schon kann der Stürmer nicht sehen. Dennoch kickt er nicht nur zum Zeitvertreib, sondern mit professionellem Aufwand. Serdi, wie er von allen gerufen wird, gilt als der beste und gleichzeitig gefährlichste Offensiv-Spieler unter den Hamburgern. Er ist berüchtigt für seine harten, präzisen Torschüsse. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) vergleicht ihn in einem Kurzfilm mit Robben, dem holländischen Nationalspieler. Den „Zehner von Pauli“ tauft ihn der DFB, in Anlehnung an seine Rückennummer, die zehn.

Spiele in ganz Deutschland

Dass er seiner großen Leidenschaft nachgehen kann, verdankt Celebi den Blindenfußballern des FC St. Pauli. 2006 gründete sich dort eine der ersten deutschen Mannschaften in dieser Disziplin. Heute reist das Team um Trainer Wolf Schmidt für Bundesliga-Spiele durch ganz Deutschland. Beim Blindenfußball besteht eine Mannschaft aus vier Feldspielern und einem nichtblinden Torwart. Ein Stirnband mit Schaumstoffüberzug schützt bei Zusammenstößen vor Verletzungen. Damit unter den unterschiedlich stark sehgeschädigten Fußballern bei Wettkämpfen die gleichen Bedingungen herrschen, müssen sie sich vor dem Anpfiff die Augen mit Pflastern abkleben und zusätzlich mit einer Dunkelbrille überdecken.

Dann hilft nur noch die Geräuschkulisse: die Rufe der Trainer sowie die im Ball eingeschlossenen Rasseln geben den Spielern Orientierung. Immer präsent ist auch das monotone „Voy“ (spanisch: „Ich komme“). Es ist das Signal, das jeder Spieler bei einem Positionswechsel rufen muss, um seine Mitspieler zu warnen.

Blind und Fußball? Unmöglich.

Seit 2008 spielt Celebi beim FC St. Pauli. Am letzten Spieltag der Blindenfußball-Bundesliga 2014 trifft er gleich dreimal das Tor – so oft wie kein anderer. Nach dem Spiel meldet sich der Bundestrainer bei ihm: Er will ihn für die anstehende Weltmeisterschaft in der Nationalmannschaft. Serdal Celebi, der Zehner von Pauli, der Nationalspieler. Wenn ihm jemand vor fünfzehn Jahren gesagt hätte, dass er einmal als Spieler bei einer Fußball-WM mit dabei sein würde – Serdi hätte gelacht. „Blind und Fußball war für mich unmöglich“, sagt Celebi heute.

Schon seit seiner Geburt sieht Celebi schlecht. Er wächst in Karakoçan auf, einem Dorf im nordöstlichen Teil der Türkei. Einen Kindergarten gibt es dort nicht, dafür aber Plastikbälle und leere, breite Straßen. Von früh morgens bis Sonnenuntergang sind er und seine Freunde draußen unterwegs und spielen Fußball. Seine Sehschwäche spielt für die Kinder keine Rolle. In der Schule aber bereiten ihm seine Augen Probleme. Im Unterricht sitzt Celebi vorne, doch die Schrift auf der Tafel kann er trotzdem nicht lesen. Einmal schiebt er deshalb vor Unterrichtsbeginn heimlich die Tische um einen Meter nach vorne. Als sein Lehrer die Veränderung bemerkt, wird er wütend. Er schreit den Grundschüler zusammen. Am nächsten Tag stehen die Tische wieder hinten.

Die ersten Jahre sind eine Tortur

Auch die Ärzte sind überfordert mit der Situation. Celebis Sehkraft nimmt rapide ab. Der Vater hört, dass die Medizin in Deutschland weiter sein soll. 1997 zieht die Familie deshalb nach Hamburg. Doch auch in Deutschland können die Augenspezialisten dem Jungen nicht helfen. Sie stellen nur die Diagnose: Netzhautablösung. Mit 13 Jahren erblindet Celebi vollständig. „Das war schon scheiße. Natürlich habe ich mich gefragt: Warum ich?“, sagt Celebi heute. Statt Fahrstunden muss er Mobilitätsunterricht nehmen, lernt wie man sich mit Gehör und Stock im Alltag orientiert. Den Fußball gibt er komplett auf. Auch ansonsten macht er kaum Sport. Die ersten Jahre sind für den ansonsten so energiegeladenen Sportler eine Tortur: Er geht kaum raus, möchte nicht als Blinder auf der Straße erkannt werden. Mit dem Stock gesehen zu werden, ist ihm peinlich.

Das ändert sich, als ihm mit 16 genau das passiert, wovor er sich gefürchtet hat: Er wird wegen seiner Blindheit ausgelacht. Auf dem Nachhauseweg übersieht Celebi einen Baum und läuft mit voller Wucht dagegen. Im Hintergrund hört er Stimmen lachen, eine Gruppe Jugendlicher. „Das war mir sehr peinlich. Aber das war auch der Moment, an dem ich gesagt habe: Gut, ich bin blind. Lässt sich nicht ändern. Also ziehe ich das jetzt auch durch“, sagt Celebi. Als er das nächste Mal das Haus verlässt wedelt er so breit mit seinem Blindenstock vor sich her, dass er den halben Fußweg für sich beansprucht. Entgegen seiner Befürchtungen lacht diesmal niemand. Celebi beginnt, sich mit seiner neuen Lebenssituation zu arrangieren.

Deutschland war Blindenfußball-Entwicklungsland

Nach der Schule macht er eine Ausbildung zum Masseur. Die Abschlussprüfung legt er mit Bestnoten ab, seine Lehrer empfehlen ihm eine Weiterbildung zum Physiotherapeuten. Die Idee gefällt ihm. Denn als Physiotherapeut reicht es nicht, die Schmerzen einfach weg zu massieren. Man muss zunächst die Ursache feststellen und kann erst dann eine Therapie einleiten, „genau wie ein Arzt“, sagt Celebi. Er macht die Weiterbildung und überrascht seitdem seine Patienten mit der Erkenntnis, dass blinde Physiotherapeuten überhaupt nicht sensibler sind, als Sehende. „Vielleicht kann ich eine Blockade besser ertasten, als meine Kollegen, aber um sie zu lösen, muss ich genauso grob werden“, sagt er und lacht.

 Celebi beginnt wieder Sport zu machen, geht regelmäßig laufen und sogar klettern. Nur seiner großen Leidenschaft, dem Fußball, bleibt er fern. Nicht weil er Angst vor Konfrontationen und Verletzungen hat. Sondern weil Fußball für blinde Fans in Deutschland lange Zeit nur ein passives Vergnügen sein konnte – zwangsweise. Denn ausgerechnet das Land mit den vier Sternen auf dem Trikot war bis zur Heim-WM 2006 ein Blindenfußball-Entwicklungsland. Als Südamerika, Großbritannien und Spanien längst reguläre Meisterschaften auf hohem Niveau austrugen, war in der Bundesrepublik für Blinde in der deutschen Kerndisziplin noch nicht viel los.

Das erste Mal zurück auf dem Rasen

Das änderte sich erst 2006, als Michael und Katja Löffler den Blindenfußball nach Hamburg holen. Das blinde Ehepaar gehörte zu den ersten, die eine Blindenfußball-Mannschaft in Deutschland gegründet haben. 2008 nimmt Celebi Kontakt zu den Löfflers auf. Schon beim nächsten Training steht er mit auf dem Rasen – das erste Mal nach fast zehn Jahren. Zwei Stunden lang versucht er auf dem Feld den kleinen, im Inneren mit Rasseln versehenden Fußball zu treffen – meist ohne Erfolg. „Der Ball war viel schneller als ich“, erinnert sich Celebi. Der Trainer und seine neuen Teamkameraden sprechen ihm Mut zu, das Gefühl für den Ball werde mit der Zeit schon kommen. Celebi ist nicht entmutigt – im Gegenteil. Nach dem Training fühlt er sich voller Energie, so gut wie seit Jahren nicht mehr. „Ein unbeschreibliches Gefühl! Ich bin durchgedreht!“, sagt Celebi.

 Sieben Jahre ist das her, und inzwischen ist er es, der die Teammitglieder anspornt und zum Weitermachen animiert. Seine Leidenschaft für den Verein trägt er auch nach außen. In seinem Rucksack hat Celebi immer drei, vier Werbe-Flyer seiner Mannschaft dabei. Als ihm ein Passant nach dem Training auf die Schulter tippt und lobt, drückt er ihm einen davon in die Hand.

Japan gegen Deutschland

November 2014. Japan hat Anstoß. Celebi steht in der Nähe der Haupttribüne auf Höhe der Mittellinie, um ihn herum seine Teamkameraden. Ihnen gegenüber formiert sich die gegnerische Mannschaft. Über 1000 Fans schauen von den Sitzreihen auf die Spieler herab. Anpfiff! Das Eröffnungsspiel der Blindenfußball-Weltmeisterschaft in Tokio – Japan gegen Deutschland – beginnt.

 Als „absolut geil“ beschreibt Celebi diesen Moment in einem akustischen Tagebuch, das er für den FC St. Pauli führt. Auch die bitteren Augenblicke hält er darin fest. Im Spiel gegen Brasilien wechselt ihn der Bundestrainer ein, aber Serdi ist überfordert mit der Situation, hat kaum Ballkontakt. Nach wenigen Minuten muss er das Feld wieder verlassen. Die Begegnung endet mit einer Niederlage. Als Serdi von dem Spiel berichtet, ist seine Stimme bitter. „Ich habe gemerkt, dass ich noch sehr viel lernen muss“, sagt Celebi. Am Ende belegt Deutschland bei der WM den achten Platz. Zurück in Hamburg stürzt er sich wieder ins Training. Dreimal die Woche, für jeweils drei Stunden.

Mit dem Kopf durch die Wand

Seinen Stock lässt er in der Umkleidekabine, er braucht ihn nicht. Celebi kennt jeden Stein und jeden Baum auf dem Gelände. Auf dem Trainingsplatz fühlt er sich frei – und diese Freiheit zeigt sich auch auf dem Spielfeld. Nur selten macht Serdi das, was die Menschen am Spielrand ihm zurufen. „Die Entscheidung, wohin ich laufe und wann ich schieße, liegt bei mir“, sagt Celebi. Manchmal leidet sein Trainer unter dieser Einstellung. Etwa wenn Serdi trotz Ansage beim Training zum vierten Mal zu früh aufs Tor schießt und mehrere sichere Chance verbaut. „Serdi geht oft mit dem Kopf durch die Wand. Er bringt seine Ideen im Spiel mit ein, völlig egal ob ich vor ihm stehe, oder der Bundestrainer“, sagt Schmidt. Aber im Grunde, ergänzt der Trainer, sei diese Einstellung auch das, was ihn zu so einem guten Spieler und noch besseren Teamkameraden mache.

 Auf dem Rasen hört Celebi ganz genau hin. Analysiert die Bewegungen seines Teams und der Gegenspieler, schätzt den Abstand zum Tor ab. „Voy“!“, ruft ein Mitspieler von links. „Geh rechts herum“, brüllt Schmidt, als ihm ein Verteidiger gefährlich nahe kommt. Celebi läuft links vorbei, passt zu seinem Teamkameraden – und liefert die Vorlage für das Tor.



Dieses Portrait über den Blindenfußballer Serdal Celebi entstand im Rahmen eines Seminars der Journalistischen Nachwuchsförderung der Konrad-Adenauer-Stiftung im Mai 2015.