Leben von Tag zu Tag.
Heute ist ein schlechter Tag. Alles tut weh. Sie hat Schmerzen und die Seele ist schwer beladen. Sie fühlt sich wie das Wetter, das sie nur durch einen Blick aus dem Fenster sehen kann. Es ist grau. Einer von diesen Tagen, an denen es den ganzen Tag nicht hell wird. Grau, nebelig, kalt. Das spürt sie mit jeder Faser ihres Körpers. Raus gehen wird sie heute nicht - wie an so vielen anderen Tagen. Ihr Lebensmittelpunkt sind mittlerweile zwei Quadratmeter auf einer grauen Couch. Hier liegt Britta W. und versucht die Zeit, die ihr noch bleibt, zu leben. Wie viel das sein wird? Das kann keiner sagen. Sie weiß nur, dass ihr Körper voller Krebs ist und die Tage gezählt sind.
Den 15. Mai 2007 wird sie nie vergessen. Drei Wochen vor ihrem 40. Geburtstag zeigte sich der Krebs das erste Mal: Mamma-CA, wie es medizinisch abgekürzt heißt, Brustkrebs. Ein Schock für die lebensfrohe, bildhübsche Frau. Ihre beiden Kinder waren zu diesem Zeitpunkt elf und 15 Jahre alt. Ihr Leben gerät aus den Fugen und es beginnt eine schwere, angstvolle und schmerzhafte Zeit zwischen Therapien, Mutterdasein und Unterhaltssicherung. Eine weitere Belastungsprobe wird die Schwangerschaft ihrer Tochter. Als sie davon erzählt, weint sie das erste Mal. Die Alleinerziehende fühlt sich bis heute schuldig, dass sie sich ihrer Meinung nach, sich nicht gut um das pubertierende Mädchen gekümmert hat. Der „Unfall" ist heute sieben Jahre alt, ein zauberhaftes Kerlchen, der mit seinem fröhlichen Wesen die beste Medizin für die schwerkranke Oma ist.
Krebsjahre, Babyjahre, Omajahre. Nach diesen turbulenten Zeiten kehrt erst einmal etwas Normalität in den Alltag der nun vierköpfigen Familie. Eine trügerische Ruhe, wie sie heute weiß. Unaufhaltsam breiten sich todbringende Zellen in ihrem Körper aus und nisten sich in ihren Knochen ein. Es beginnt mit Rückenschmerzen. Vor vier Jahren die neue Diagnose: Knochenkrebs. Sie ist voller Metastasen und ihr Skelett an einigen Stellen so brüchig, dass sie sich beim Aufstehen von der Couch einen Wirbel bricht und fast mit einer Querschnittslähmung im Rollstuhl endet.
Sie wird sterben. Das weiß sie. Der letzte Weg ist hart. Die Angst, die Schmerzen, die Sorgen um ihre Kinder. Einige wenige gute Freundinnen versuchen zu helfen, wo es geht. Für den schweren Weg hat sie eine neue, wichtige Gefährtin an der Seite: Natascha Beinling, eine von sechs Palliativschwestern beim Pflegedienst Scheel. Diese Krankenschwestern haben eine besondere Ausbildung in diesem Bereich absolviert. Sie kommen täglich ins Haus und verrichten die anspruchsvolle Palliativ-Pflege ambulant.
Neben der medizinischen Versorgung steht die engmaschige menschliche Betreuung im Vordergrund. Sterbende Menschen sind im hohen Maße besonders bedürftig. Der Verlauf von Krankheiten hat viele Gesichter. Der Körper ist geschwächt, funktioniert nicht mehr vorhersehbar. Die unzähligen schweren Medikamente, Operationen, Bestrahlungen bringen zusätzliche viele Nebenwirkungen. Die Verdauung funktioniert nicht gut, der Appetit ist oft verschwunden. Neben den Schmerzen kommen Ängste, Depressionen und weitere Belastungen hinzu. Traurige Angehörige, entsetzte Kinder, finanzielle Not und Weiteres.
Häufig kommt es zu Krisen, sowohl körperlicher als auch seelischer Art. Palliativ-Care-Schwestern sind genau dafür ausgebildet - um da sein, um aufzufangen und die richtigen Entscheidungen für den Betroffenen zu treffen.
Der tägliche Besuch von Schwester Natascha ist für Britta W. wie eine Rettungsboje in stürmischer See. Sie sind eine besondere Schicksalsgemeinschaft. Eng miteinander verbunden, ohne belastet von Verwandtschaft zu sein. All ihre Traurigkeit und Angst kann die sterbenskranke Frau an Natascha Beinling abgeben. Und die, versucht für viele Nöte eine Lösung zu finden.
Gemeinsam haben sie eine ausführliche Krankenakte erstellt und ein medizinisches Warenlager im Wohnzimmer aufgebaut. 23 Tabletten sind es Minimum täglich plus Schmerzmittel nach Bedarf. Die vielen Schachteln füllen eine ganze Schublade, die anderen Pflegemittel einen kleinen Schrank. Sie weisen darauf hin, dass hier eine Schwerstkranke versorgt wird. In Griffnähe am Couchtisch die vorgezählten Pillentagesrationen. Sanft aber bestimmt fragt Natascha Beinling penibel täglich die Symptome, den Allgemeinzustand und die Befindlichkeit ab. Denn all das kann bei einem Sterbenskranken immer wieder anders sein. In der Krise muss es schnell gehen. Tag oder Nacht. Eine schnelle Einweisung ins Krankenhaus, ein Anruf beim Palliativmediziner, auf Wunsch die Verlegung ins Hospiz. Das gibt es allerdings nicht in unserer Stadt. Umso wichtiger die ambulante Nothilfe.
Nicht jede Krise bedeutet das Ende. Auch Britta W. hat es bis jetzt immer wieder in ihre kleine Schutzhöhle nach Hause zu ihrem Sohn geschafft. Die Tochter lebt mit ihrer Familie in der Nähe und kommt so oft es geht.
Natascha Beinling hat auch das Umfeld im Auge. „Wir schauen ganzheitlich auf den Menschen. Was braucht er oder sie im Moment und auf Sicht." Ihr Einsatz beschränkt sich nicht nur aufs Krankenlager. Sie spricht mit Angehörigen, Ärzten, Krankenkassen. Und scheut vor niemandem ein Machtwort zum Wohle ihrer Schützlinge. Nicht alle Patienten haben Angehörige, die sich kümmern können. Zu den gesundheitlichen Problemen kommen oft weitere „Großbaustellen". Finanzen, Kinderbetreuung, Trennungen, Arbeitslosigkeit. Das Recht und das Wissen für so einen Katastrophenfall kosten viel Kraft, die nicht jeder Mensch hat. Da wirken die Palliativ-Care-Schwestern wie Anwälte für Sterbenskranke inklusive Ritterrüstung.
Kann Sterben gut sein? Gutes Sterben heißt auf jeden Fall eine gute Schmerzmittelversorgung, die Linderung von Angst und viel menschliche Wärme. Lebensqualität braucht man auch im Sterben.
Ein guter Tag ist ein Tag ohne Schmerzen.„Ein guter Tag ist ein Tag ohne Schmerzen." Solche Tage gibt es für Britta W. nicht mehr. Da gilt es immer wieder, die Dosierung der Schmerzmittel zu justieren. Direkt gegenüber von ihrem Sofa hat sie immer einen Blick ins Wohnzimmerregal. Dort aufgereiht stehen die Bilder ihrer Liebsten, Engelsfiguren, Erinnerungsstücke. Zu sehen ist auch das Foto einer schwarzhaarigen, lebensfrohen Schönheit. Die Frau hat keine Ähnlichkeit mit der Patientin auf der Couch.
Die Krankheit hat sie gezeichnet, aber nicht jede Schönheit genommen. Sie trauert um ihre dicken, langen und glänzenden Haare. Wie eine kleine Löwenmähne umranken nun rötliche Strähnen ihr Gesicht. Schwere Medikamente machen Haare stumpf und fusselig. Sie schüttelt traurig den Kopf. Sie mochte es, sich schön zu machen, attraktiv zu sein. Sie sieht die eigene Vergänglichkeit. Der Krebs konnte ihr nicht die Würde nehmen und auch sicherlich nicht die Schönheit. Sie ist nur anders geworden. Sich gehen zu lassen, kommt für sie nicht infrage. Die Fingernägel sind dezent lackiert. Ein zartes Make-up zaubert etwas Frische ins Gesicht. Wer es nicht weiß, ahnt nicht, dass hier eine Frau um ihr Leben kämpft.
Den Kampf im Leben hat sie immer allein geführt. Allein als Mutter und Versorgerin. Verwöhnt war sie nicht. Die kleine Rente reichte auch nicht mehr für ihre geliebte Wohnung, in der sie zwölf Jahre gelebt hat. Heute teilt sie sich zwei Zimmer mit ihrem Sohn, der noch in der Ausbildung ist. Mit der Wohnung hat sie auch Freunde verloren. Zumindest die, von denen sie dachte, dass es Freunde sind.
Sie hat das Herz einer Löwin. Sie hat gekämpft. Vor allen Dingen für ihre Kinder. Sie will auf gar keinen Fall, dass ihre Kinder sie leiden sehen. Damit sie das nie vergisst, hängt direkt gegenüber ihres Sofas ein Löwenkopf aus Keramik. Sie kämpft jeden Tag. Mit den Schmerzen, mit der Angst vor dem, was kommen mag.
Tanzen war ihr liebstes Hobby. „Mein Tanzen vermisse ich unendlich." Fast immer ist sie sehr tapfer. Jetzt füllen sich ihre doch Augen mit Tränen. Die Sehnsucht nach dieser Lebendigkeit und die harte Realität zeigen sich an dieser Stelle grausam. Ihre Beerdigung hat sie geregelt. Weiße Rosen wünscht sie sich. Ganz schlicht soll es sonst sein. Früher, als sie jung und gesund war, liebte sie Reisen in die Sonne. „Manchmal spüre ich noch die Wärme auf meinem Rücken." Das ist der einzige kleine Luxus, den sie sich gönnt. Einmal in der Woche geht die Schwerkranke ins Solarium. Wärme spüren, die Sonne, das Leben. Deswegen will sie auch nach dem Tod verbrannt werden.
Vicky Leandros soll erklingen „Ich liebe das Leben". Vielleicht gibt es da, wo sie hingeht, einen Tanzsaal, Musik, Sonne und ihre Kinder. Das wünschen wir ihr.
*Name zum Schutz der Patientin gekürzt.
Hilfe, wenn das Leben endetNeumünster hat kein eigenes Haus zum Sterben. Es gibt die Hospiz-Initiative, die von einem beherzten Kreis engagierter Frauen 1995 ins Leben gerufen wurde. „Menschen brauchen Menschen - vor allen Dingen auf ihrem letzten Weg" - Ein Satz, der es auf den Punkt bringt. Gesagt hat ihn eine ehrenamtliche Mitarbeiterin der Hospiz-Initiative. Seit 1997 gibt es eine Palliativstation im Friedrich-Ebert-Krankenhaus in Neumünster - mit sechs Betten.
SAPV
Die spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) will die Lebensqualität und die Selbstbestimmung unheilbarer Kranker und Sterbender so weit wie möglich erhalten, fördern und verbessern. Die Pflege soll ein menschenwürdiges Leben bis zum Tode ermöglichen, zu Hause oder in stationären Einrichtungen. Zum Team gehören Ärzte und Pflegefachkräfte mit einer speziellen Palliativ-Care-Ausbildung sowie den ehrenamtliche Mitarbeitern der Hospiz-Initiative. Sie greifen auf ein Netzwerk von Hausärzten, Apotheken, Sanitätshäusern und Physiotherapeuten zusammen. Die Versorgung geschieht unabhängig von einer Pflegestufe und zeichnet sich neben der medizinischen Betreuung besonders durch die menschliche Zuwendung sowie die Unterstützung in Krisensituationen aus.