Alexander Völkel

Redakteur, Fotograf, SMM (IHK) und Politologe, Dortmund und Siegen

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Artikel

Die jüdische Gemeinde in Dortmund hat mit Avigdor Nosikov einen neuen Rabbiner - Nordstadtblogger

Dortmund hat einen neuen Rabbiner - erneut. Nach mehr als sieben Monaten Vakanz hatte erst im August 2021 Shlomo Zelig Avrasin die Nachfolge von Baruch Babaev angetreten, der nach Israel zurückgekehrt war. Doch die Chemie stimmte offenbar nicht - der Geistliche zog nach Würzburg weiter und die jüdische Kultusgemeinde suchte erneut einen Rabbiner. Mittlerweile hat sie Avigdor Nosikov und seine Familie in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße willkommen geheißen.

„Das ist nicht mehr das Russland, in dem ich leben wollte"

Der 36-Jährige ist nicht allein nach Dortmund gekommen: Er hat seine drei Kinder und seine Frau mitgebracht. Nosikov war zuletzt mehr als zwölf Jahre als Rabbiner in der Region Woronisch tätig. Als Reaktion auf den Angriffskrieg hatte der Geistliche seine russische Heimat verlassen. „Das ist nicht mehr das Russland, in dem ich leben und wo ich meine Kinder aufwachsen sehen wollte", sagt er mit großem Bedauern.

Doch mehr möchte er zu dem Thema nicht sagen - auch wegen seiner Gemeinde, der er keine Probleme bereiten möchte. Denn der Rabbiner war direkt im März mit seiner Familie ins Ausland gegangen. Viele Möglichkeiten gab es nicht mehr, als alle Flüge nach Westen gestrichen wurden. „Ich bin nach Baku in Aserbaidschan gegangen - dahin konnte man noch Flüge bekommen."

Nun ist Dortmund sein neues Zuhause. Den Kontakt hatte -wie auch schon bei seinem Vor-Vorgänger Baruch Babaev - der langjährige Dortmunder Rabbiner Avichai Apel hergestellt. Dieser war nach 14 Jahren als Gemeinderabbiner im Sommer 2016 nach Frankfurt gewechselt. „Von der Bundesliga in die Champions League" wurde damals der Schritt bezeichnet. Noch bis heute pflegt Apel gute Kontakte nach Dortmund.

Der frühere Dortmunder Rabbiner Avichai Apel stellte den Kontakt her

Avichai Apel und Avigdor Nosikov kennen sich von der europäischen Rabbiner-Konferenz. Nosikov war damals Teilnehmer im Jugendprogramm und Apel so etwas wie ein Mentor. „Er erzählte von Dortmund und sagte, dass dies eine gute Gemeinde für mich ist und ich gut für die Gemeinde", berichtet er von der Anbahnung. Er hatte zunächst Vorbehalte nach Deutschland zu gehen, sah sich aber dennoch mehrere Gemeinden an. Apel hatte allerdings nicht zu viel versprochen - es passte.

In Dortmund muss Avigdor Nosikov jetzt Fuß fassen. Der Start ist geglückt - die Gemeinde hat ihn und seine Familie mit offenen Armen empfangen. Sprachlich gibt es deutlich weniger Probleme als bei seinem Vorgänger, der zwar mit den meisten der Gemeindemitglieder auf Russisch kommunizieren konnte, aber während seines kurzen Gastspiels gegenüber der Stadtgesellschaft mehr oder weniger stumm blieb. Auch nicht auf Englisch konnte er sich verständigen - von Deutsch ganz abgesehen.

Sein jüngerer Nachfolger hat da deutlich weniger Probleme: Sprachen sind so etwas wie sein Hobby. Russisch, Hebräisch, Jiddisch und Englisch spricht er gut, Arabisch auf Anfängerniveau. Deutsch kann er lesen und verstehen. „Aber nicht gut sprechen. Noch nicht", betont Avigdor Nosikov. „Aber im nächsten Jahr werde ich schon gute Reden auf Deutsch halten", ist er zuversichtlich. „Das ist ein erreichbares Ziel."

Das Gedenken am 9. November als erste öffentliche Bühne

Er hatte die deutsche Sprache bereits als Jugendlicher gelernt, um Bücher auf Deutsch lesen zu können - nur sprechen konnte er die Sprache in seiner russischen Heimat nicht. Jiddisch war ihm da deutlich vertrauter - insbesondere auch das Sprechen. In der chassidischen Schule wurde Jiddisch gesprochen. Dieses musste er intensiv lernen, als er die Chiva in Israel besuchte.

Nun also wird er intensiv Deutsch lernen. Wobei gleich zu Beginn viel Arbeit auf ihn wartete. Nicht nur, dass die Familie ein neues Zuhause für sich schaffen muss(te), der neue Rabbiner kam überdies nur wenige Tage vor den höchsten jüdischen Feiertagen in Dortmund an. Außerdem kümmert er sich noch immer um Mitglieder seiner früheren Gemeinde in Russland, die ebenfalls das Land verlassen haben.

Daher stehen die Termine in der Dortmunder Stadtgesellschaft noch aus. Lediglich mit der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit gab es ein erstes Treffen. Die weiteren Treffen mit Vertreter:innen aus Politik, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften stehen noch an. Klar ist seine Teilnahme an den Gedenkveranstaltungen zum 9. November, wo er u.a. in Dorstfeld und in Hörde sprechen und auch an der Feier am Platz der Alten Synagoge teilnehmen wird.

Gefühlslagen selbst erleben: „Ich möchte mehr zuhören als reden"

Er ist gespannt auf viele neue Kontakte: Eine große Agenda hat er nicht. Vor ihm liegt im übertragenen Sinn ein weißes Blatt Papier. Daher wollte er auch im Vorfeld gar nicht zu viel über die Gemeinde und Dortmund sowie die handelnden Akteure hören, sondern sich selbst ein Bild machen: „Ich möchte mehr zuhören als reden und die Gefühlslage selbst kennenlernen", beschreibt der 36-Jährige seine Motivation.

Er möchte selbst erleben, was in Dortmund gut funktioniert und warum. Und auch, was die Menschen möchten und brauchen. Dann will er sehen, was er ihnen anbieten kann. Zumindest sprachlich kommt er mit der Jüdischen Gemeinde gut klar: „ 95 Prozent verstehen russisch, auch in der zweiten Generation." Doch darauf will er sich nicht verlassen und ausruhen.

Perspektivisch gut Deutsch sprechen zu können, ist für ihn eine Selbstverständlichkeit. Das passt zu seinem Verständnis der Notwendigkeit von Bildung. Für ihn ist es ein Glücksfall, dass Dortmund über die nötige Infrastruktur verfügt und- wenn alles klappt - im kommenden Jahr auch über eine jüdische Schule. „Es reizt mich, eine Schule zu eröffnen", räumt der neue Rabbiner ein.

Bildung als Schlüssel für eine jüdische Zukunft nicht nur in Dortmund

Als er vor 13 Jahren nach Woronisch kam, wollte er auch ein jüdisches Bildungssystem aufbauen. Doch die Ausgangsvoraussetzungen waren gänzlich anders als in Deutschland: Durch die Zuwanderung nach Deutschland sammeln sich viele der jüdisch-stämmigen Menschen in der Gemeinde. „In Russland findet man die Jüdinnen und Juden nach 70 Jahren der Assimilation kaum", berichtet Avigdor Nosikov. Daher war es dort auch keine Option, eine Vollzeitschule aufzubauen.

So musste er sich mit Kindergarten, Kinder- und Jugendtreff sowie einer Sonntagsschule „begnügen". Doch eine reguläre öffentliche Schule sei wichtig: „Wir brauchen ein jüdisches Bildungssystem, damit sich auch eine jüdische Identität entwickelt", so der Rabbi. „Wir haben hier noch die kritische Masse, die Gemeinde für die Zukunft zu erhalten - auch für die nächste Generation."

Denn Nosikov ist sich bewusst, dass auch die Dortmunder Kultusgemeinde überaltert - ein Problem, welches auch die christlichen Kirchen betrifft. „Wir müssen die Möglichkeiten jetzt nutzen, damit das Judentum langfristig eine Zukunft hat." Eine mögliche Kritik, dass durch ein jüdisches Bildungssystem eine Parallelgesellschaft entstehen könnte, erstickt er im Keim: „Es geht um gute deutsche Staatsbürger, aber mit einer jüdischen Identität."

Social Media als Chance: „Instagram ist mein Hobby"

„Wir können nicht auf Wunder bauen, sondern müssen mit den Ressourcen arbeiten, die wir haben. Das können wir nur mit einer Vollzeitschule, die sie an die jüdischen Wurzeln erinnert", betont der 36-jährige Rabbiner. Damit rennt er bei seinem neuen Arbeitgeber offene Türen ein: „Nur die Gemeinden werden überleben, die von der Brit Mila bis zur Beerdigung alles anbieten", ist sich Gemeinde-Geschäftsführer Leonid Chraga sicher.

Um diese Zukunft zu sichern, setzt „der Neue" auf drei Säulen: Dazu gehören die jüdischen Traditionen und die dafür nötige Infrastruktur. Die zweite Säule ist für ihn die Bildung. Die dritte Säule ist für viele Mitglieder noch etwas gewöhnungsbedürftig - insbesondere für die älteren Mitglieder: „Wir brauchen Public Relations", sagt der Rabbiner.

Dabei hat er insbesondere die sozialen Netzwerke im Blick. Für ihn ist das keineswegs „Neuland": „Instagram ist mein Hobby", gesteht Avigdor Nosikov. Knapp 12.000 Follower:innen hat der Rabbiner. Dies will er noch ausbauen - und auch die Gemeinde stärker online ausrichten. Das sei nötig, um die Jüngeren zu erreichen.

„Junge Leute wollen in etwas Großes involviert werden. Doch dafür muss man Lärm machen und sichtbar werden. Das ist die Streaming-Generation. Sie müssen immer was von uns hören", ist sich der 36-Jährige sicher. Er war einer der ersten Rabbiner, der in Russland auf Instagram unterwegs war. Das ist er jetzt auch in Dortmund - doch bis er auch auf Deutsch dort unterwegs ist, wird es noch etwas dauern.

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