Alexander Völkel

Redakteur, Fotograf, SMM (IHK) und Politologe, Dortmund und Siegen

1 Abo und 0 Abonnenten
Artikel

Auf der Spurensuche nach Zwangsarbeit bei den Dortmunder Verkehrsbetrieben im Fredenbaum - Nordstadtblogger

Auch nach fast 80 Jahren sind Familien von den Schicksalen ihrer Familienangehörigen während des Dritten Reichs bewegt. Dazu gehört auch Familie van Boven aus Holland. Sie machte sich auf die Suche nach Spuren ihres Onkels Izak, der als Zwangsarbeiter nach Dortmund kam und hier auch starb. Nordstadtblogger brachte die Familie nun ein ganzes Stück näher an die Hintergründe und das Schicksal des Holländers in deutscher Gefangenschaft.

In Dortmund gab es Hunderte von Zwangsarbeitslagern

Izak van Boven war - das wusste die Familie durch die Sterbeurkunde - als „Hilfsarbeiter" im Lager Fredenbaum. Am 20. April (!) 1945 starb er dort. Doch viel mehr wusste die Familie jahrzehntelang nicht. Denn über das „Lager Fredenbaum" findet sich nichts im Internet. Und auch als der Freundeskreis Fredenbaumpark und die Stadt einen „Korbiniansapfel" - dieser steht für das Gedenken an die Opfer der NS-Verbrechen und für Wachsamkeit, dass dergleichen nie wieder geschehe - im Park pflanzten, war vom Lager keine Rede.

Kein Wunder: Zwischen 400 und 700 mutmaßliche Lager allein auf Dortmunder Stadtgebiet untersucht das Stadtarchiv. Viele waren sehr klein: Fast jeder Bauernhof hatte Fremd- oder Zwangsarbeiter:innen, ebenso wie nahezu jeder Betrieb zum Ende des Zweiten Weltkriegs.

Viele von ihnen sind heute nicht mehr zu sehen oder zu finden: Selbst an das große Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager VI D auf dem Gelände der Dortmunder Westfalenhallen - hier waren von September 1939 bis August 1941 insgesamt über 70.000 Gefangene untergebracht (davon etwa 10.000 zeitgleich), die in der Schwerindustrie des Ruhrgebietes arbeiten mussten - erinnert heute nur mehr ein Gedenkstein.

Das ist in der Parkanlage im Dortmunder Norden nicht anders: „Das Lager war im alten Saalbau des Fredenbaumparks eingerichtet. Das Gebäude wurde im Krieg völlig zerstört und existiert heute nicht mehr", weiß Stadtarchiv-Mitarbeiter Arnd Lülfing zu berichten.

Nordstadtblogger hatte das Archiv um Unterstützung gebeten, um der Familie van Boven zu helfen. Weder an den Saalbau noch an die Rolle als Zwangsarbeiter-Lager wird vor Ort erinnert. Heute steht dort das „Big Tipi", die große Erlebniswelt des Jugendamtes.

59 Zwangsarbeiter:innen arbeiteten für die Verkehrsbetriebe am Fredenbaum

In dem „Zivilarbeiterlager" Fredenbaum waren 59 Personen untergebracht - nach den wenigen erhaltenen Akten handelte es sich um 28 Belgier, sieben Italiener, 18 Ostarbeiterinnen sowie sechs Holländer. Einer von ihnen war Izak van Boven. Sie waren in einem Gemeinschaftslager - einem Steingebäude mit „freier Lage ohne Stacheldraht und ohne Wachposten" untergebracht.

Doch an Flucht war kaum zu denken. Es fehlten die Papiere zum Reisen und Geld - von den Kriegswirren ganz abgesehen. Daher blieb ihnen nicht anderes übrig, als täglich acht bis zehn Stunden in Zivilkleidung zu arbeiten -die 59 Menschen aus dem Lager Fredenbaum wurden für verschiedene Reparaturarbeiten bei den Verkehrsbetrieben der Stadt Dortmund eingesetzt.

„Die Verkehrsbetriebe Dortmund hatten ein großes Straßenbahn-Depot mit Werkstätten in der Immermannstraße. Wahrscheinlich, aber nicht absolut sicher, dass Ihr Onkel dort gearbeitet hat", so Lülfing. Mehr Gewissheit gibt es nicht, da es darüber keine Akten im Stadtarchiv gibt. Auch im Kulturort Depot - hier sitzt auch die Redaktion der Nordstadtblogger - wusste man nichts über dieses dunkle Kapitel der Geschichte des Ortes.

Beim Friedhofsamt finden sich keine Unterlagen mehr zu seinem Grab

Auch die Suche bei der Friedhofsverwaltung blieb erfolglos. Izak van Boven wurde zwar laut Sterbeurkunde auf dem Hauptfriedhof beigesetzt - aber einen Grabstein oder eine Akte darüber gibt es nicht. Erhalten geblieben ist die Aussage des Straßenbahnfahrers Heinrich Schulz, der über das Lager Fredenbaum berichtete und auch den Tod von Izak van Boven bezeugte.

In seiner Aussage heißt es, dass der holländische Hilfsarbeiter am 20. April 1945 an Lungenentzündung gestorben sei und auf dem Hauptfriedhof beerdigt wurde. Das war eine Woche nach dem Einzug der Amerikaner in Dortmund. „Für uns ist es tröstlich, dass er seine letzten Tage in Freiheit verbracht hat", sagt sein Neffe Dick van Boven. Er hatte sich mit seiner Frau Yolande auf die Suche gemacht und jetzt auch Dortmund besucht.

Archiv-Mitarbeiter Arnd Lülfing und Nordstadtblogger Alexander Völkel begleiteten das Ehepaar zu verschiedenen Stellen - u.a. ins Big Tipi, ins Depot und auf den Hauptfriedhof. Dies war die letzte Station von Izak van Boven, der am 4. April 1923 in Wolphaartsdijk geboren wurde. Er war der älteste Sohn einer sehr religiösen Familie mit fünf Kindern. „Und er war der Stolz seiner Eltern", hat Dick van Boven erfahren. Er sollte das Familiengeschäft - Uhrmacherei, Gold- und Silberschmiede - übernehmen.

Der Onkel schloss sich dem Widerstand an und wurde verhaftet

Doch dazu kam es nicht: Der Sohn wollte nicht für die Deutschen arbeiten und schloss sich daher Ende 1942 dem Widerstand an. Er wurde verhaftet. Seine Verlobte besuchte ihn im Gefängnis von Arnheim. „Sie hatten ihn so misshandelt, dass sie ihn gar nicht erkannt hat", hatte Dick van Boven in Erfahrung gebracht. Es war das letzte Mal, dass jemand von der Familie ihn gesehen hatte.

Er konnte zwar damals fliehen, wurde dann aber wieder verhaftet. Dann kam er am 12.September 1944 nach Dortmund.„In Holland arbeitete er eigentlich sehr filigran. Daher konnte ich mir kaum vorstellen, dass er an Straßenbahnen gearbeitet haben sollte. Aber er war stark", hatte sein Neffe erfahren.

Viel erfuhr er nicht:„Unsere Familie sprach eigentlich nie über den Krieg - nur ein Bruder von Izak. Jedes Jahr gab es ein Gedenken - seine frühere Verlobtewar immer dabei, bis zu ihrem Tod. Sie war immer Teil der Familie", berichtet Dick van Boven. „Meine Grußmutter hatte eine tiefe Traurigkeit. Nach 1945 hat sie niemals mehr gelacht und niemals darüber gesprochen. Das ist so schade."

„Die Erinnerung an ihn war immer ein schwarzes Loch"

Doch abfinden wollte sich Dick van Boven - mittlerweile fast 60 Jahre alt - damit nicht mehr. „Die Zeit und die Erinnerung an ihn war immer ein schwarzes Loch." Seit Jahren denke er darüber nach, warum er einen Onkel habe, den er weder gekannt habe noch etwas über ihn wisse.

„Auch im Haus der Großeltern und Eltern habe ich niemals ein Foto gesehen." Niemals stimmt aber nicht ganz: Einmal habe er sich ins Schlafzimmer der Großeltern geschlichen - dort habe ein Foto gestanden - ein Familienfoto aus den 1930er Jahren.

Nun hat sich nach und nach ein Bild zusammengesetzt und ein Portraitfoto des Onkels ist im Zuge der Recherchen auch aufgetaucht. „Das hat mein Herz berührt, dass wir so viele Informationen bekommen haben", sagt Dick van Boven freudestrahlend nach seinem Besuch in Dortmund. So macht die Spurensuche auch nach fast 80 Jahren noch Sinn - und Familien glücklich(er).

Zum Original