Alexander Völkel

Redakteur, Fotograf, SMM (IHK) und Politologe, Dortmund und Siegen

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CDU schießt gegen die neue Schauspiel-Chefin: „Es gibt nicht nur feministische und queere Leute" - Nordstadtblogger

Dortmund hat einen Theaterstreit - genauer gesagt einen Streit um die Zukunft der Schauspiel-Sparte: Die CDU hat mit Blick auf die schlechten Auslastungszahlen „ein Fass aufgemacht" - denn sie sieht die Schuld nicht in den Corona-Folgen, sondern eindeutig bei der nicht mehr ganz neuen Intendantin Julia Wissert und ihrer programmatischen Neuausrichtung. Kulturdezernent Jörg Stüdemann springt ihr massiv zur Seite - und auch im Kulturausschuss ist die CDU mit ihrer Fundamentalkritik an der Neuausrichtung (noch) relativ allein.

CDU sieht Schauspiel-Intendanz als schwächstes Glied der Theater-Kette

„Wir sind etwas entsetzt und alarmiert bei den Zahlen beim Schauspiel. Es geht nicht ums Schauspiel, sondern um die Intendanz. Wir sehen dort das schwächste Glied in der Theaterlandschaft", läutete die 3. Bürgermeisterin Ute Mais, zugleich kulturpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion, ihre Fundamentalkritik ein.

Diese hatte die CDU bereits medienwirksam im Vorfeld der Sitzung des Ausschusses für Kultur, Sport und Freizeit via Pressemitteilung und Social Media öffentlich gemacht. „Die Zahlen sind alarmierend, das Schauspiel findet anscheinend keinen Zuspruch mehr beim Publikum", schoss Mais scharf auf die neue junge Intendantin.

Der aktuell vorliegende 3. Quartalsbericht des Theater Dortmund der Spielzeit 21/22 offenbart, dass im Schauspiel die Auslastung gerade mal bei 27,44 Prozent liegt. Die Oper kommt hingegen auf 48,13 Prozent, das Ballett auf 60,99 Prozent und das Kinder- und Jugendtheater - Dank des Weihnachtsstücks - auf 70,63 Prozent.

Kritik: Schauspiel lockt die Menschen nicht im notwendigen Maße an

Der Schluss der CDU: „Man sieht deutlich, dass das Schauspiel nicht mehr die Menschen im notwendigen Maße anlockt." Es ist gewissermaßen die Retourkutsche für die Ausführungen, als sich Wissert im Mai 2020 als neue Intendantin vorstellte. Bei dieser Gelegenheit sprach sie etwas aus, was für manche wie eine Drohung klingen musste.

Sie karikierte das Konzept, wie sie sich die Ausrichtung des Schauspiel Dortmund unter ihrer Leitung vorstellt. Herauszuhören war deutlich: sie möchte zukünftig mit dem frischen Wind poststrukturalistisch-feministischer Theoriestücke im Rücken agieren.

„Also aufgepasst, liebe Männer oder Freund:innen der Glückseligkeit aus Althergebrachtem, und überhaupt alle, die privilegiert in Machtstrukturen ihr Dasein pflegen. Zukünftig wird eine Schublade geöffnet, aus der heraus so manch Liebgewonnenes hinterfragt werden dürfte", lautete ihre Botschaft seinerzeit. Corona mit seinen Lockdowns beschleunigte das.

Die CDU ist „entsetzt und alarmiert - für uns ist 5 nach 12"

Das stellte für Wissert aber einen erweiterten Chancenhorizont dar: neue Verstehenszusammenhänge zu öffnen, unterdrückte Wissensvorräte zu befreien, indem in und mit anderen Formaten künstlerisch-kreativer Umgang im weitesten Sinne gesucht wird, der alternativlos sei. Denn einen Weg zurück zum Status quo ante gebe es nicht, das habe sich rumgesprochen.

„Das Alte wird nicht mehr zurückkommen", konstatierte Wissert vor einem Jahr bei der Vorstellung des Programms für 2021/22 lakonisch. Es war also keine Frage des Durchhaltens - bis alles wieder gut ist. Denn nichts werde mehr „gut", sondern alles, mindestens vieles ungleich sein. Allein der Ausdruck „nach Corona" sei problematisch, weil er insinuiert, da wäre irgendwas vergleichbar zum Vorher.

Die CDU keilt nun zurück. Denn auch der prognostizierte Verkauf von 41 Prozent für die nächste Spielzeit ist der CDU deutlich zu wenig. „Der Anspruch muss höher sein", so Mais. „Bei aller Intention, interessante Aspekte anzunehmen, brauchen wir eine gewissen Bodenständigkeit. Anscheinend wird die nachgefragt", so die CDU-Politikerin, die auch mehr „Klassiker" anmahnte. „Entsetzt und alarmiert" sei man bei dem Quartalsbericht: „Für uns ist es 5 nach 12", so Mais.

Jörg Stüdemann: „Wir wussten, dass wir ein Risiko eingehen"

So schwarz wollte der Kulturdezernent natürlich nicht malen. Im Gegenteil. (Anm.d.Red.: Die Formulierung war mehr als unglücklich und war explizit nicht zweideutig gemeint. Wir entschuldigen uns dafür.) Neu: Der Kulturdezernent malte ein gänzlich anderes Bild: Wissert liefere inhaltlich jetzt das, was sie angekündigt habe. „Ist die Kritik angemessen, wenn ich eine neue Intendanz habe?", fragte Jörg Stüdemann rhetorisch im Gespräch mit Nordstadtblogger.

Die neue Führung habe man gemeinschaftlich ausgesucht - und Julia Wissert habe sehr deutlich gemacht, dass sie andere Themen und Fragestellungen aufrufen und andere Organisations- und Führungsstrukturen einrichten wollte. „Wir wussten, dass wir ein Risiko eingehen. Das war uns bekannt und wir haben es offen ausgesprochen", sagte Stüdemann mit Blick auf die Intention, mit neuen Themen neue Zielgruppen zu erschließen.

Er erinnert daran, dass es auch zu Beginn der Intendanz von Kay Voges „ziemliche Empörung" gegeben habe, als dieser mit Film und Digitalisierung auf die Bühne kam. „Viele fanden es nicht gut, waren empört und wollten das Alte erhalten wissen", erinnerte Stüdemann. Diese Rufe verstummten - denn letztendlich sei „der Dortmunder Weg ein sehr wichtiger und hoch beachteter Weg bis zur Institutsgründung geworden".

Mehr Zeit für Wissert: „Eine solche Manöverkritik kommt sehr früh"

Es sei zeitgemäß gewesen, das Schauspiel zu reformieren und zu reformulieren. „Ähnlich ist dasjetzt mit Wisserts Fragestellungen. Muss ich nicht in einer sich verändernden Stadtgesellschaft mit Migrationsthematiken auch andere Programme und Profile durchdeklinieren?", findet der Stadtdirektor mit Blick auf Fragestellungen zu mehr Diversität und Rassismus.

Zudem stellten sich viele Häuser die Frage, ob stark hierarchisierte und organisierte Führungen noch zeitgemäß seien. „Nein, sind sie nicht. Das können wir schon heute beantworten. Die Häuser, die das nicht angehen, leiden unter gewaltigen Eruptionen. Das haben wir in Essen erlebt - über 200 Arbeitsgerichtsverfahren gegen den autoritären Geschäftsführer", so Stüdemann.

„Kritik ist immer zulässig, aber wenn man sich gemeinsam auf ein Risiko eingelassen hat, sollte man das in der Praxis erst mal durchexerzieren und sehen, ob sich andere Kreise dafür interessieren. Die Manöverkritik der CDU kommt sehr früh", findet der Kulturdezernent - auch wenn man einfordern könne, auf das Publikum und seine Bedürfnisse und Wünsche zu achten.Allerdings beginne der erste reguläre Spielbetrieb coronabedingt erst jetzt. „Ihre ersten 100 Tage absolviert sie im Moment - das ist eine völlig aberwitzige Situation", so Stüdemann.

Grüne wollen Besucher:innen-Zahlen über einen längeren Zeitraum betrachten

Auch die Grünen mahnen im Kulturausschuss zu mehr Geduld: Man könne den Anspruch auf höhere Besucherzahlen haben. Aber die Führung habe in einer schwierigen Situation gewechselt - das habe es bei den anderen Sparten nicht gegeben, erinnert Barbara Brunsing, kulturpolitische Sprecherin der Grünen und 2. Bürgermeisterin.

„Dass Frau Wissert andere Ansprüche hat, hat sie klar gemacht. Dem müssen wir auch Rechnung tragen und sollten die Besucherzahlen über einen längeren Zeitraum betrachten", so Brunsing. Zudem müsse man berücksichtigen, dass es auch andere Veranstaltungen des Schauspiels im Stadtraum und auch online gegeben haben und gebe - das müsse man mitzählen.

„Die Theaterlandschaft ist im Umbruch. Das ist ein Ansporn. Aber wir müssen Julia Wissert ihre Ideen verwirklichen und versuchen lassen, die Besucher:innen mitzunehmen", findet die Grünen-Politikerin.

Déjà-vu bei der SPD: Auch Kay Voges wurde zuerst schlechtgeredet

Zuspruch für die neue Intendanz gibt es auch von der SPD-Fraktion: „Wir möchten sie motivieren, weiter zu machen. Sie ist bei Null angefangen und kann auch jetzt nicht auf Bewährtes zurückgreifen, wie es die anderen Sparten konnten", betont Silvya Ixkes-Henkemeier.

„Sie hat ein neues Konzept. Kunst ist und war immer eine Auseinandersetzung mit politischen Abstrusitäten. Wir haben hier oft besprochen, dass wir wollen, dass sie rausgeht - auch in die Stadtbezirke", so die SPD-Politikerin.

Sie erinnerte daran, wie ihr Vorgänger Kay Voges angefangen hat: „Da wurde er schlecht geredet. Heute wird gesagt, dass er einen guten Ruf genießt."

„Julia Wissert ist noch sehr jung und farbig. Das tut dieser Stadt gut", so Ixkes-Henkemeier. „Die Politik sollte sich aus der Programmgestaltung raushalten und nur über Zahlen sprechen und nicht der Intendanz eine künstlerische Richtung vorschreiben."

CDU fordert, mehr Menschen mitzunehmen: „Es gibt nicht nur feministische und queere Leute"

CDU-Mann Joachim Pohlmann sah die Diskussion aus einem anderen Blickwinkel: „Ich bin relativ unverdächtig, ich gehöre zur Auswahlkommission und stehe noch zu ihr - ich finde sie emphatisch und sympathisch." Doch sie habe nicht bei Null angefangen, vieles wurde von Voges vorbereitet.„Sie hatte auch einen großen Kreis von Publikum, das neugierig auf sie war."

Daher machte er darauf aufmerksam, dass es bei der CDU-Kritik nicht um die Einnahmesituation, sondern um die Auslastung gehe: „Wenn ich mit anderen Sparten vergleiche - 48 Prozent Oper, 44 Prozent bei Konzerten und sie hat nur 27,44 Prozent", so Pohlmann. „Wenn wir uns dann noch die Freikarten anschauen - da verteilt sie genauso viele Karten wie das große Haus.

Bei allem Wunsch nach Veränderung darf sie sie das Publikum nicht abschrecken, sondern muss es mitnehmen." Und es gebe nicht nur „feministische und queere Leute" - er als „alter weißer Mann" könne sich nicht mehr alles anschauen, so der sachkundige Bürger der CDU. „Wir als Betriebsausschuss müssen sagen, dass sie sich auch bemühen muss, mehr Menschen mitzunehmen." Daher sei es der „ureigenste Wunsch, zu besseren Auslastungszahlen zu kommen".

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