Alexander Völkel

Redakteur, Fotograf, SMM (IHK) und Politologe, Dortmund und Siegen

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Das „System Amazon": So viel Ausbeutung steckt hinter der schnellen Online-Bestellung - Nordstadtblogger

Amazon baut unser Land tiefgreifend um - nicht nur im digitalen Raum, sondern mit massiven konkreten Auswirkungen im ganzen Land: für den Einzelhandel, die Innenstädte, Arbeitsverhältnisse, die Infrastruktur und die Logistik. Dabei hat Amazon ein System geschaffen, das auf Druck, Ausbeutung und Kontrolle beruht. Gemeinsam mit CORRECTIV.Lokal und weiteren Lokalredaktionen hat Nordstadtblogger recherchiert. Wer in der „Black Friday Week" seinem Online-Kaufrausch nachgehen möchte, sollte folgende HIntergründe kennen.

Logistik ist als Jobmotor eine Erfolgsgeschichte

In Dortmund wird Amazon - wie die Ansiedlung vieler anderer Logistikkonzerne- als Erfolg gefeiert. Spätestens als das Europa-Zentrallager von IKEA in Dortmund-Ellinghausen im Herbst 2007 eröffnete, hatte jedes Logistik-Unternehmen es auf dem Schirm. Seitdem sind tausende Jobs insbesondere für An- und Ungelernte entstanden.

Seit dem jahrzehntelangen Niedergang des alten Dortmunder Dreiklangs von „Kohle, Stahl und Bier" hatte kaum jemand damit gerechnet, dass diese Jobs in Dortmund noch mal in nennenswerter Zahl entstehen könnten. Doch (fast) alle Logistikunternehmen kamen - die einen früher, die anderen später. Amazon, das größte von ihnen, kam vergleichsweise spät: Vor fünf Jahren eröffnete der Standort auf der Westfalenhütte.

Der Grund: Den Standort „Dortmund" gab es schon - doch der ist in Werne. Im September 2010 eröffnete das dortige Logistikzentrum, welches seinen betriebsinternen Namen - wie alle Zentren - immer nach dem Kürzel des nächstgelegenen Flughafens bekommt. Weil also „DTM1" in Werne ist, bekam das vor gut fünf Jahren eröffnete Zentrum in Dortmund das Kürzel „DTM2".

Dortmund beliefert 34 weitere Amazon-Logistikzentren

Das „DTM2" ist ein wichtiger Baustein im System des Online-Riesen: Auf der Westfalenhütte eröffnete im Herbst 2017 daserste „Inbound Crossdock Center" in Europa. Im Klartext: Der Dortmunder Standort nimmt eine zentrale Funktion im europäischen Logistiknetzwerk ein. „Ein Inbound-Crossdock ist ein großes Umverteilungszentrum. Hier liefern Händler:innen Waren an, die dann an Logistikzentren in Deutschland und im europäischen Ausland umverteilt werden. Der Standort beliefert also keine Kund:innen, sondern 34 weitere Amazon-Logistikzentren", erklärt Unternehmenssprecher Thorsten Schwindhammer.

Fünf Jahre später ist Dortmund damit allerdings nicht mehr allein. Mittlerweile gibt es ein zweites sogenanntes Inbound-Crossdock in Deutschland mit dem Standort in Helmstedt, welches Mitte August in den Betrieb gegangen ist. Die Chefin dort kommt übrigens aus Dortmund ....

Hier in der Stadt gibt es mittlerweile mehr als „nur" das „DTM2" mit aktuell 1900 Beschäftigten in der Stammbelegschaft sowie etwa 400 Aushilfskräften für das Weihnachtsgeschäft.

Direkt daneben gibt es das „DTM3". Seit 3,5 Jahren gibt es dieses spezielle Warenlager. Hier arbeiten rund 250 Beschäftigte im Bereich „Customer Fulfillment". Konkret geht es um zu liefernde Produkte, die schwerer als 32 Kilogramm sind und von zwei Personen ausgeliefert werden müssen.

Auch eine dritte Halle ist mittlerweile fertig. Neben dem REWE-Zentrallager wird in Kürze ein Verteilzentrum seinen Dienst aufnehmen. Es ist eine Auslieferstation, wo die Bullis für die „letzte Meile" zum Endkunden beladen werden. In Dortmund gibt es eine solche Station bisher nicht - bislang werden die Lieferfahrzeuge für Dortmund in Witten, Bochum, Unna und Wuppertal bestückt. Im Zentrum selbst werden weitere 100 bis 150 Arbeitsplätze entstehen. Damit komplettiert Amazon sein Angebot in der Westfalenmetropole.

Der schnelle Kauf und der lange Weg des Amazon-Paketes

Doch wie kommt ein Amazon-Paket bis an die Haustür? Es geht dafür durch die Hände vieler Menschen, die unter prekären Umständen arbeiten. Manche Arbeiter:innen laufen fast einen Halbmarathon am Tag und haben kaum Zeit für eine Toilettenpause.

Die Menschen arbeiten zum Teil neben Robotern, überwacht von Computern. Lkw-Fahrer sind so müde, dass sie ständig damit kämpfen, nicht am Steuer einzuschlafen. Viele berichten über stetigen Druck und wie eng ihre Aufgaben getaktet sind. Sie alle müssen als Teil der großen Amazon-Maschinerie funktionieren. Wenn jemand auf „Jetzt kaufen" klickt, setzt sich die Maschine in Gang.

Schritt 1: Logistikzentrum - Hier lagern die Waren. Mitarbeitende stellen dort die bestellten Produkte zusammen, verpacken und verschicken sie.

Die Reise beginnt meist in einem der 20 Logistikzentren in Deutschland. In den riesigen fabrikähnlichen Hallen stellen Amazon-Mitarbeitende die bestellten Waren zusammen. Sie verpacken sie in Pakete, legen sie auf Fließbänder und verschicken sie.

Manche Mitarbeiter:innen gehen in einem Logistiklager enorme Strecken. 15 Kilometer sind normal, manchmal auch 20, fast ein Halbmarathon. Körperlich anstrengend ist die Arbeit auch, weil sich die Angestellten ständig bücken müssen.

Ein wiederkehrendes Thema ist der Druck, dem Mitarbeiter ausgesetzt sind, in ihrer gemessenen Arbeitsleistung gute Ergebnisse zu erzielen. Dieser ist besonders spürbar für die Beschäftigten mit befristeten Verträgen, die gute Zahlen für Anschlussverträge erreichen wollen.

Schritt 2: LKW - Die Fahrer:innen fahren für Subunternehmen. Amazon gibt die Routen und die Ankunftszeiten in den Lagerhäusern vor.

Hunderte Laster fahren jeden Tag für Amazon quer durch Deutschland. Sie transportieren die Waren zwischen den verschiedenen Amazon-Standorten hin und her. Am Steuer sitzen häufig Fahrer aus Osteuropa. Sie sind bei Subunternehmen angestellt, nicht direkt bei Amazon, sind immer auf der Straße unterwegs und meist ohne Deutschkenntnisse. Dadurch sind sie schlechten Arbeitsbedingungen ausgeliefert - Beratungsstellen oder Gewerkschaften erreichen sie nur schwer.

CORRECTIV.Lokal hat mit zehn Fahrern gesprochen, die für Amazon Waren in Deutschland transportieren oder transportiert haben. Sie berichten von knappen Zeitplänen, langen Wartezeiten und Stress bei der An- und Ablieferung an Amazon-Standorten, Druck, Übermüdung. Manche bekommen nicht einmal Urlaub oder kündigen, um frei zu bekommen.

Häufig sind die Touren nachts. In der Regel übernachten die Fahrer in ihren kleinen Führerkabinen. Manche sind mehrere Monate am Stück für Amazon unterwegs. Die meisten Fahrer, mit denen wir gesprochen haben, sehen Übermüdung am Steuer als eine große Gefahr bei ihrer Arbeit.

Schritt 3: Verteilzentrum - Hier werden die Bestellungen für die sogenannte „letzte Meile" vorbereitet, also für die Zustellung bis an die Haustür. Nachts herrscht hier Hochbetrieb.

Hier laden Amazon-Mitarbeitende Pakete auf Fließbänder: Tausende, kleine, große, der Fluss der Waren hört während einer Schicht scheinbar nie auf, die Beschäftigten scannen, kleben Aufkleber mit dem Zielort auf, zum Schluss sortieren sie die Pakete nach Straße und Postleitzahl.

Die Verteilzentren sind wesentlich kleiner als die Logistikzentren. Nur rund 100 bis 200 Menschen arbeiten in der Regel dort. Es sind kleinteilige, monotone Tätigkeiten, für die man aber hochkonzentriert sein muss.

In diesem Teil steigt in der Maschinerie noch einmal der Druck. Am nächsten Morgen sollen die Pakete zum Kunden gebracht werden. Die ersten Kuriere werden am Morgen eintreffen, um die fertig sortierten Pakete abzuholen.

Schritt 4: Transporter - Auch die Kuriere sind bei Subunternehmen angestellt. Pro Schicht liefern sie in Stoßzeiten, wie der Black-Friday Woche, teilweise mehr als 200 Pakete aus.

Tausende Kurierfahrer:innen sind an sechs Tagen in der Woche mit Transportern voller Amazon-Pakete unterwegs, auf der sogenannten „Letzten Meile", also von den Verteilzentren bis an die Haustür. Die Kurierfahrer sind nicht bei Amazon angestellt, sondern bei Subunternehmen.

Teilweise warten mehr als hundert Transporter morgens vor den Toren auf die Pakete. In Wellen getaktet halten sie an Markierungen, die an die Startlinien eines Formel-1-Rennens erinnern.

Für jede Welle sind genaue Zeiten vorgesehen. Im Verteilzentrum Nützen (Schleswig-Holstein) sind dafür zum Beispiel 15 Minuten vorgesehen. In der Zeit müssen Lieferant:innen ihre Ware aus der Lagerhalle holen, sie zu ihren Wagen tragen und sie eigenhändig verstauen.

Routen und Paketanzahl gibt die Maschine vor. Überwacht werden die Kurierfahrer:innen von Amazon und den Subunternehmen mit einer App auf dem Handy. Offiziell soll dies für mehr Verkehrssicherheit sorgen, so mache die App etwa auf zu schnelles Bremsen aufmerksam.

Schritt 5: Lieferung bis an die Haustür. Der Kurier klingelt, der Kunde bekommt das Paket übergeben.

Das „System Amazon" bedeutet prekäre Beschäftigung

Wer sind die Menschen, die für Amazon arbeiten? Vor allem auf der Straße sind das zumeist Migrant:innen. Die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, sind mehr als schwierig.

Das haben die Gespräche ergeben, die Nordstadtblogger u.a. mit den Dortmunder Beratungsstellen „Faire Mobilität", „Faire Integration", der Beratungsstelle Arbeit der AWO sowie der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di geführt hat.

„Unter Druck" - so charakterisieren alle Berater:innen die Arbeitsbedingungen. Denn gerade die Fahrer:innen sind nicht bei Amazon direkt beschäftigt, sondern bei Speditionen und Sub-unternehmen. Und am „System Amazon" gibt es ganz viel Kritik von den Menschen, die sich mit prekärer Beschäftigung und ausbeuterischen Strukturen befassen.

Die Lkw-Fahrer:innen leben auf der Straße

Nicht nur sprichwörtlich auf der Straße leben die Fahr:innen der Lkw, die die Waren von den produzierenden Unternehmen oder in Häfen abholen und zu Amazon bringen oder zwischen den verschiedenen Amazon-Zentren verteilen. Sie arbeiten für große Speditionen und Subunternehmen. Beschäftigt sind sie zumeist bei Tochterunternehmen in Polen oder im Baltikum. Dort erhalten sie den jeweils gültigen Mindestlohn.

Die meisten der Fahrer - es sind fast ausschließlich Männer - kommen häufig mit einem Wanderarbeiter-Visum. Oft werden sie aus den Herkunftsländern eingeflogen - geworben mit guten Verdienstmöglichkeiten, weiß Szabolcs Sepsi, Regionalleiter bei „Faire Mobilität", wo man sich schwerpunktmäßig mit prekärer und ausbeuterischer Beschäftigung von EU-Bürger:innen beschäftigt.

Viele der Lkw-Fahrer sind aus der Ukraine. Normalerweise leben sie für einige Wochen in ihren Fahrzeugen, bevor sie mal wieder zur Familie nach Hause kommen. Doch seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs auf die Ukraine ist das kaum mehr möglich. Daher leben sie seit Februar in ihren Wagen. „Sie haben andere Probleme, als über Arbeitsbedingungen zu sprechen. Sie wollen, dass ihre Familien zu ihnen kommen", weiß Szabolcs Sepsi aus vielen Gesprächen.

Zumindest an den Verteilzentren sollen die Fahrer:innen vernünftige Möglichkeiten vorfinden: „Um den Fahrer:innen die Wartezeit so angenehm wie möglich zu gestalten, bieten wir an allen unseren Standorten Trucker-Lounges mit Kaffeemaschinen, Essensautomaten und Toiletten an. Außerdem haben wir Toiletten, die rund um die Uhr zugänglich sind, auch von außerhalb des Geländes", teilt Amazon auf Nachfrage mit.

„Diese Maßnahmen sind übrigens bedauerlicherweise in der Logistikbranche nicht üblich oder selbstverständlich und sind Investitionen, die wir proaktiv getätigt haben, um das Arbeitsleben, den Komfort und das Wohlergehen der Fahrer:innen zu verbessern. Weil uns alle diese Ziele wichtig sind, investieren wir weiterhin in diese und viele weitere Initiativen, um sicherzustellen, dass Amazons Logistikzentren, Sortierzentren, Verteilzentren und die Arbeitsbedingungen der Fahrer:innen zu den besten der Branche gehören - und kontinuierlich verbessert werden. Das gilt sowohl für Amazon Mitarbeiter:innen als auch für die Fahrer:innen, die bei Partner-Unternehmen arbeiten", heißt es in einer Stellungnahme des Unternehmens.

Wenn geltende Rechte wie „Märchen aus Utopialand" wirken

Klar ist den Berater:innen: Viele der Fahrer sind sich ihrer Rechte nicht bewusst. Denn sie müssten viel mehr Geld verdienen. So müssten sie, wenn sie beispielsweise in Deutschland fahren, von ihren ausländischen Arbeitgebern den deutschen Mindestlohn bezahlt bekommen. Das ist bei allen Fahrer:innen so - unabhängig für wen sie fahren.

Doch die Berater:innen haben große Probleme, sich für die Menschen auf den Lkw einzusetzen. Denn die kämpfen mit vielfältigen Problemen: „Viele von ihnen haben Angst, ihre Fahrzeuge zu verlassen, weil sie Diebstähle und auch Benzindiebstähle befürchten", weiß Christiane Tenbensel vom DGB-Projekt „Support Faire Integration" aus vielen Gesprächen auf Rastplätzen und Autohöfen. Daher leben sie auf ihren Wagen.

Sich in einer solchen Situation um rechtliche Fragen zu kümmern oder gar seine Ansprüche einzuklagen, sei illusorisch. „Wir erklären ihnen, dass sie Anspruch hätten auf deutschen Mindestlohn - den müssten sie in Polen geltend machen. Das erklären wir ihnen. Aber man sieht ihnen an, dass sie es für Märchen aus Utopialand halten", sagt Tenbensel seufzend.

„Ich kenne keinen Fall, wo die Ansprüche geltend gemacht wurden"

„Die meisten, die für Amazon fahren, steigen zwar in Polen in die Lkw, fahren aber nur hier in Deutschland. Das Gesetz sagt, dass sie in jedem EU-Land den dortigen Mindestlohn bekommen müssen", erklärt Sepsi. „Eigentlich müssten sie für jedes Land eine eigene Stundenerfassung machen." Technisch sei das heute minutengenau möglich mit den elektronischen Systemen - doch eben nur in der Theorie.

Denn beschäftigt seien sie oft bei Briefkastenfirmen im Ausland. Doch dort die Ansprüche geltend zu machen sei schwierig: „Drittstaatler machen das nicht", weiß der Berater. Denn wenn sie es täten, säßen sie im nächsten Flieger nach Hause, landeten auf einer schwarzen Liste und müssten mit Druck und auch Bedrohungen rechnen. „Ich kenne keinen Fall, wo die Ansprüche geltend gemacht wurden", sagte er mit Blick auf Drittstaatler - also Menschen, die außerhalb der EU leben.

„Polen und Rumänen machen das - aber die arbeiten nicht für Amazon", berichtet Szabolcs Sepsi. Denn ähnlich wie bei den Lieferdiensten auf der „letzten Meile" gebe es auch bei den Lkw-Fahrern eine Hierarchie: „Auch Lkw-Fahrer bei Amazon sind eher am unteren Ende der Nahrungskette." Sie machten den Mund nicht auf - auch aus Sorge um die Visa, die ja an dem Job bei der Spedition hängen.

Welche Verantwortung sieht Amazon bei sich für übermüdete Fahrer? „Wir betreiben ein europaweites Netz mit einer Vielzahl von Frachtunternehmen unterschiedlicher Herkunft, darunter mehr als 600 deutsche Speditionen. Wir verlangen von allen Unternehmen in diesem Netzwerk, dass sie sich an unsere Richtlinien und alle geltenden Gesetze und Vorschriften halten, und wir überprüfen die Einhaltung von Zeit zu Zeit", heißt es dazu von Amazon. „Die Ruhepausen sind vom Gesetzgeber klar geregelt und jeder Spediteur ist für deren Einhaltung verantwortlich. Wenn wir feststellen, dass ein Unternehmen gegen die Vorschriften verstößt, handeln wir sofort."

„Je schlechter die Sprache, desto schlechter die Arbeit"

Wohl gemerkt: Sie arbeiten für Amazon, aber nicht bei Amazon. Das ist bei den Lkw-Fahrer:innen ebenso der Fall wie bei den Kurierdiensten auf der „letzten Meile". „Sie haben oft kein Gefühl dafür, dass sie ausgebeutet werden", erlebt Christiane Tenbensel von „Support Faire Integration". Das liegt vor allem auch an der Sprachbarriere: „Je schlechter die Sprache, desto schlechter die Arbeit", bringt es Szabolcs Sepsi auf einen einfachen Nenner.

„Die Menschen verstehen die Verträge nicht. Wir raten, sich vorher beraten zu lassen, bevor sie unterschreiben", betont der Berater. Doch selbst im Nachhinein ist es oft schwierig, da die Arbeitgeber den Fahrer:innen oft nichtmal Kopien oder Ausfertigungen der Verträge aushändigen. Sich dann an den Arbeitgeber zu wenden und die Ansprüche einzuklagen, sei illusorisch. „Die Ratsuchenden fühlen sich oft unsichtbar. Sie meinen, es ertragen zu müssen", ergänzt Tenbensel.

Das sei auch bei den Arbeitsbedingungen so - Pausenzeiten würden ignoriert, um die Arbeit zu schaffen. Das ist auch bei den Kurierfahrer:innen vor Ort so. 90 Prozent der Fahrer:innen auf der „letzten Meile" hätten einen arabisch-türkischen Hintergrund - es gebe aber auch „einige Afrikaner". Eins hätten sie gemeinsam: „Sie sprechen sehr schlecht deutsch und können sich nicht wehren."

Zwischen fünf und zwölf Lieferpartner arbeiten pro Standort

Warum macht Amazon die Auslieferung nicht selbst? Nordstadtblogger hat sich erklären lassen, wie der künftige Betrieb im neuen Auslieferungszentrum in Dortmund organisiert wird. Im Lager selbst werden zwischen 100 und 150 Menschen beschäftigt sein, die die Pakete an die Kurierfahrer ausgeben.

Diese sind bei sogenannten Lieferpartnern beschäftigt, die im Auftrag von Amazon dann die Auslieferung an die Endkund:innen übernehmen. Die Zahl variiert: „Das ist ganz unterschiedlich - zwischen fünf und zwölf Betrieben je nach Größe", erklärtAmazon-Unternehmenssprecher Thorsten Schwindhammer.

Lieferpartner-System sorgt für Konkurrenz - Mitbestimmung bleibt auf der Strecke

Nach Ansicht der Gewerkschaften und Beratungsstellen hat das verschiedene Gründe: „Wir gehen nicht davon aus, dass das Modell viel günstiger ist für Amazon, sondern das es um Flexibilität geht", erklärt Nonni Morisse, Amazon-Projektsekretär bei ver.di Niedersachsen. Aktuell werde wieder mehr über DHL ausgeliefert, weil die Amazon-Partner - wie andere auch - das Problem des Arbeitskräfte-Mangels hätten. „Sie wollen sich viele Wege freihalten."

Zum Thema Subunternehmen teilt Amazon mit: „Während Partner ihre eigenen Mitarbeiter:innen einstellen und betreuen, arbeiten wir mit den Lieferpartnern zusammen, um unseren Teil dazu beizutragen, dass Fahrer:innen fair und respektvoll behandelt werden. Sowohl unsere Delivery Service Partner als auch die Amazon Freight Partner verpflichten sich vertraglich, die geltenden Gesetze insbesondere im Hinblick auf Löhne, Sozialabgaben und Arbeitszeiten einzuhalten. Wir überprüfen sie regelmäßig, um sicherzustellen, dass sie die geltenden Gesetze und unsere Richtlinien einhalten, und ergreifen Maßnahmen, wenn dies nicht der Fall ist."

Doch ein Netz von kleinen und mittleren Subunternehmen statt einer eigenen Logistiksparte hat für die Gewerkschaften einen weiteren Grund: „Die Mitbestimmung fällt bei vielen kleinen Unternehmen schwerer statt bei einem großen Konzern, wo die Menschen um Tarifierung kämpfen", ergänzt Tina Morgenroth, Branchenkoordinatorin für Kurier- und Lieferdienste bei „Faire Mobilität".

Es zeigt sich in vielen Logistikzentren von Amazon, dass es immer häufiger zu Streiks kommt, weil sich die Beschäftigten für Tarifverträge einsetzen. Auch in Dortmund hat es in diesem Jahr bereits zwei Streikaktionen gegeben.

Außerdem würde durch den Einsatz von vielen kleinen Subunternehmen Konkurrenz geschaffen,um Preise langfristig zu drücken, „weil zwischen den Subunternehmen ein ungünstiges Konkurrenzverhältnis entsteht und sie mehr in Kauf nehmen, was sonst nicht akzeptiert würde", sagt Morgenroth.

Subunternehmen üben massiv Druck auf Fahrer:innen aus

Das sagt sie auch mit Blick auf die Arbeitsbedingungen. Denn die Subunternehmen hätten eine ganze eigene „Unternehmenskultur": Es zeige sich, dass die Branche einen Reiz auf Menschen ausübe, die bisher kein Unternehmen geführt hätten. Lieferpartner zu werden sei verhältnismäßig einfach. Die Gründer hätten oft kein Wissen über Rechte und Pflichten: „Daher werden oft eigene Regeln eingeführt", erlebt die Branchenkoordinatorin für Kurier- und Lieferdienste bei „Faire Mobilität".

Denn die Subunternehmen übten massiv Druck aus auf ihre Fahrer:innen. Ganz häufig gebe es Arbeitszeitüberschreitungen. Es würden zehn und mehr Stunden am Tag gearbeitet, ohne dass dies aufgezeichnet werde. Es gebe immens viel Druck und Stress. Denn war früher das Weihnachtsgeschäft der Grund für Stress und 200 Pakete, die ein Bote an einem Tag zustellen musste, ist das mittlerweile die Regel.

„200 Pakete sind keine Seltenheit. Das hängt davon ab, ob in der Stadt oder im ländlichen Raum zugestellt werde: „Wir haben auch Schilderungen von 250 Paketen gehört", weiß Tina Morgenroth. „Es wurden auch Gefährdungs-Anzeigen geschrieben, wo von 180, 200 und mehr Paketen die Rede ist."

Bei der Paketzustellung ist mittlerweile ganzjährig Weihnachten

Der Druck aus dem Weihnachtsgeschäft sei jetzt mehr und mehr der Standard und Arbeitsalltag. „Da ist man gut und gerne zehn Stunden unterwegs. Die Route wird durch den Algorithmus vorgegeben. Der passt in der Theorie. Aber nicht, wenn ich die Menschen nicht antreffe, eine Baustelle habe, das Haus suchen oder in den 5. Stock laufen muss", weiß die Branchenkoordinatorin.

Amazon weist das zurück: „Die Fahrer:innen beenden in etwa 90 Prozent der Fälle ihre Routen pünktlich oder sogar früher. Wenn Überstunden anfallen, sind unsere Partner verpflichtet, die Fahrer:innen entsprechend zu bezahlen."

Weitere Probleme, die Morgenroth benennt: Fehlende Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, fehlende Lohnabrechnungen, Teile des Lohns würden in Bar ausgezahlt, um nicht die vollen Sozialversicherungsentgelte abzuführen, nennt Morgenroth als Beispiele.

Zudem gebe es massiven psychischen Druck, weil die Fahrer:innen mit Sperrzeiten und Sanktionen für zu spät und nicht zugestellte Pakete konfrontiert würden. Wer dann mal - weil es auf den Touren keine Zeit oder Möglichkeit für Toilettenstopps gibt, vom Unternehmen beim „Wild-Pinkeln" erwischt werde, müsse mit teils lebenslangen Sperren rechnen. Auch Unfälle oder Schäden am Fahrzeug ziehen Sanktionen nach sich.

Verbot von Subunternehmen und Werkverträgen gefordert

Das Ganze habe einen Namen - das „System Amazon" - sagen die Kritiker:innen. Was sich bei den Speditionen und Sub-unternehmen abspielt, weiß Amazon. Denn das Ganze hat nach Ansicht der Gewerkschaft System. Für die Berater:innen und Gewerkschafter:innen gibt es daher klare Forderungen. Ihre Botschaft an die Politik: Wie schon bei der Fleischindustrie sollte es auch in der Paketbranche ein Verbot des Systems der Subunternehmen und Werksverträge geben. „Auch ein Verbandsklagerecht wäre gut, damit die Menschen nicht einzeln ihre Ansprüche gelten machen müssen", betont Tina Morgenroth.

„Wegen des Untergrabens der Mitbestimmung, der Betriebsratswahlen und der Tarifbindung fordern wir Schwerpunktstaatsanwaltschaften", ergänzt ver.di-Sekretär Nonni Morisse. Zudem müsse mit Blick auf transnationale Konzerne wie Amazon das Betriebsverfassungsgesetz novelliert und die Gründung von Konzernbetriebsräten auch im EU-Ausland ermöglicht werden: „Amazon behauptet, dass sie kein Konzern sind, sondern nur ein Netzwerk - jeder Standort ist formal nur eine GmbH."

Nötig sei auch ein europaweites Streikrecht - bislang weicht Amazon bei Streiks in einem Land auf Nachbarländer aus und organisiert so den Streikbruch. Auch die Berater:innen aus Dortmund haben Wünsche: „Wir brauchen eine Revision der Entsende-Richtlinie, fordert Szabolcs Sepsi. Nur dann sei es möglich, dass die Beschäftigten leichter ihre Ansprüche geltend machen können und nicht hinnehmen müssen, dass ihre Spesen auf den Mindestlohn angerechnet werden.

Weltweite Expansion: Der größte Akteur der Branche

Amazon ist der mit Abstand größte Onlinehändler in Deutschland. Es gibt hier 116 Amazon-Standorte. CORRECTIV.Lokal hat alle Lager, die in Betrieb oder geplant sind, zusammengetragen. Insgesamt gibt es 22 Logistikzentren, fünf weitere sind aktuell in Planung oder bereits im Bau.

Manchmal werden Pakete zwischen Logistikzentrum und Verteilzentrum noch in einem der neun Sortierzentren nach Bestimmungsorten sortiert und wieder auf Lkw verteilt. Ein weiteres ist aktuell in Planung. In einem der 69 Verteilzentren werden die Pakete für die „letzte Meile" vorbereitet, neun weitere Verteilzentren sind aktuell im Bau oder geplant. Zusätzlich gibt es ein Luftfrachtzentrum am Flughafen Halle-Leipzig.

Steuervermeidungstricks und Reichtum von Amazon

Amazon wies 2021 einen Gewinn in Höhe von weltweit rund 33,36 Milliarden US-Dollar aus. Amazon-Gründer Jeff Bezos liegt mit einem geschätzten Gesamtvermögen von rund 150 Milliarden US-Dollar auf dem vierten Platz der reichsten Menschen der Welt. Bezos ist seit Juli 2021 nicht mehr CEO von Amazon, sein Nachfolger ist Andy Jassy.

Deutschland ist mittlerweile gleich nach den USA der zweitgrößte Markt für Amazon. Im vergangenen Jahr ging vom gesamten Umsatz im Online-Handel ein Fünftel nur auf Amazon zurück. Vor allem zur Weihnachtszeit boomt der Onlinehandel. Der „Black Friday" sorgte in der Vergangenheit regelmäßig für einen Kaufrausch.

Die Gemeinden und der Staat profitieren davon kaum. Der US-Konzern steht wegen Steuervermeidungstricks, die über Luxemburg laufen, seit vielen Jahren in der Kritik. Im vergangenen Jahr bekam Amazon in den USA sogar eine Steuergutschrift von einer Milliarde Euro, wie das Finanzportal Bloomberg im April berichtete.

Hintergrund:

Das Netzwerk CORRECTIV.Lokal hat sieben Monate lang in verschiedenen Regionen Deutschlands recherchiert. Zu den Recherchepartnern zählen die Badischen Neuesten Nachrichten, Nürnberger Nachrichten, Nordstadtblogger, Ostfriesen-Zeitung, Nordsee-Zeitung und weitere Medien. Die Lokaljournalist:innen sind zeitgleich losgezogen und veröffentlichen parallel eigene Geschichten. Zusammen haben wir in das Getriebe des Logistik-Giganten Amazon geschaut. Wir haben mit mehr als 100 Menschen gesprochen, die in der Logistikkette von Amazon arbeiten oder Einblicke in die Abläufe hatten. Darunter Logistik-Angestellte, Lkw-Fahrer und Kuriere. Wir haben Arbeitsverträge und Dienstpläne eingesehen, Chatverläufe gelesen. Und wir haben Dokumente ausgewertet, darunter Kontrollberichte von Arbeitsschutzbehörden und Antworten von Datenschutzbehörden. Hier gibt es zur Hauptgeschichte von CORRECTIV.Lokal:
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