Alexander Völkel

Redakteur, Fotograf, SMM (IHK) und Politologe, Dortmund und Siegen

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Tödlicher Polizeieinsatz in der Nordstadt: Die Staatsanwaltschaft klagt fünf Polizist:innen an - Nordstadtblogger

Der tödliche Polizeieinsatz am 8. August 2022 in der Nordstadt, bei dem der 16-jährige Flüchtling Mouhamed Lamine Dramé erschossen wurde, hat für fünf beteiligte Polizist:innen ein juristisches Nachspiel. Nach mehr als einem halben Jahr hat die Staatsanwaltschaft Dortmund gegen sie Anklage erhoben. Der Einsatz wird als „nicht verhältnismäßig" bewertet. Die Anklage lautet auf Totschlag, gefährliche Körperverletzung und Anstiftung. Zur Erinnerung: Erzieher:innen der Jugendeinrichtung in der Nordstadt hatten die Polizei gerufen, da sie einen möglichen Suizid des 16-Jährigen befürchteten. Am Ende war der Junge tot - erschossen durch einen Polizisten.

Oberstaatsanwalt: „Ich halte den polizeilichen Einsatz für rechtswidrig"

Der Polizist, der mit einer Maschinenpistole die tödlichen Schüsse auf den Jugendlichen angegeben hatte, muss sich wegen Totschlag verantworten, drei weitere wegen Körperverletzung (u.a. für den Taser- und Pfeffersprayeinsatz) sowie der Dienstgruppenleiter wegen Anstiftung.

„Ich halte den polizeilichen Einsatz, so wie er abgelaufen ist, für rechtswidrig", sagte Oberstaatsanwalt Carsten Dombert auf Nachfrage von Nordstadtblogger. Die Verhältnismäßigkeit des Einsatzes sei nicht gegeben gewesen, die Beamt:innen hätten nicht „das mildeste Mittel" angewendet, um den Jugendlichen von einem möglichen Suizid abzuhalten.

„Die Anwendung von Reizgas ist nicht das mildeste Mittel, das man einsetzen kann", so Dombert - vom Einsatz von Tasern und Schusswaffen natürlich ganz zu schweigen. Zudem seien die Schüsse mit dem Taser nahezu gleichzeitig mit den Schüssen aus der Maschinenpistole erfolgt.

Ermittlungen erbrachten keinen Hinweis auf Notwehr oder Nothilfe

Zudem hätten die umfangreichen Ermittlungen keinen Hinweis auf einen möglichen Angriff des Sechzehnjährigen auf die Polizist:innen ergeben: „Die Ermittlungen haben bisher nicht ergeben, dass sie in Nothilfe oder Notwehr gehandelt haben. Das würde auch nur vorliegen, wenn es einen rechtswidrigen Angriff durch Mouhamed Lamine Dramé gegeben hätte."

Doch der Jugendliche habe sich lediglich aufgerichtet, „nachdem er das Reizgas an seinem Kopf gespürt hat", so Dombert. In kurzer Folge danach seien die Schüsse aus Taser und Maschinenpistole erfolgt.

Daher habe er Anklage erhoben, die vor dem Schwurgericht des Landgerichts in Dortmund verhandelt werden wird. Dombert rechnet mit einer Verfahrenseröffnung noch in diesem Jahr.

Der Oberstaatsanwalt verwehrte sich gegen Kritik, dass die Ermittlungen zu langsam erfolgt seien. Auch die Kritik, die Ermittler:innen aus Recklinghausen könnten ja nicht unvoreingenommen gegen die Dortmunder Polizei ermitteln, sei falsch.

Die Ermittlungsakte ist mittlerweile 2500 Seiten dick

„Die Ermittlungen waren sehr langwierig - es gab eine Vielzahl von Gutachten", so Dombert. Die Ermittlungsakte sei zudem mittlerweile 2500 Seiten dick - zusammengetragen von den Ermittler:innen aus Recklinghausen.

„Sie haben ganz akribisch und neutral ermittelt. Darauf basiert die Anklage. Der Vorwurf gegen sie hat mir sehr leid getan", so Dombert.

Dass ein solches Verfahren Zeit brauche, liege ja auch daran, dass die Verteidiger:innen der beschuldigten Polizeikräfte ein Recht auf Akteneinsicht hätten. Dafür müssten sie eine angemessene Frist bekommen - bei 2500 Seiten Ermittlungsakten dauere das natürlich.

„Die Anklage ist eine logische Konsequenz aus den Fakten"

Die Verkündung der Ermittlungsergebnisse wurde seit Monaten erwartet und mehrfach verschoben. Die Kritiker:innen des Polizeieinsatzes sehen sich bestätigt: „Dies werten wir als Erfolg in der Aufarbeitung tödlicher Polizeiarbeit", so Sarah Claßmann, Sprecherin des Solidaritätskreises Mouhamed.

„Die Anklage ist eine logische Konsequenz aus den Fakten, die über Mouhameds Tod bekannt sind. Wir sind jedoch davon überzeugt, dass dies auch eine Errungenschaft des zivilgesellschaftlichen Drucks ist, den wir in den letzten Monaten aufbauen konnten", so Claßmann weiter.

„Wie bereits Studien gezeigt haben, ist eine Strafverfolgung im Anschluss an Polizeigewalt eine absolute Seltenheit. Dementsprechend begrüßen wir die Ermittlungsergebnisse unter Staatsanwalt Dombert, welcher sich bereits ganz zu Beginn der Arbeit kritisch gegenüber dem Einsatz äußerte."

Öffentlicher Druck und Forderung nach unabhängiger Ermittlung

Dennoch kritisieren die Aktivist:innen, dass sich die Ergebnisse immer wieder verzögerten und nun letztendlich mehr als drei Monate nach dem ursprünglich angedachten Veröffentlichungstermin erschienen sind. Dies sei vor allem für die Familie von Mouhamed sehr belastend gewesen.

„Trotz der erfolgreichen Ermittlungsarbeit, die unter anderem auch durch massiven Druck in der Öffentlichkeit gefordert wurde, kritisieren wir immer noch die Tatsache, dass hier Polizeidienststellen gegeneinander ermitteln. Dies sind keine unabhängigen Ermittlungen. Wir halten daher unsere Forderung nach unabhängigen Ermittlungsstellen weiterhin hoch", betont die Sprecherin des Solidaritatskreises.

„Trotzdem möchten wir unterstreichen, dass die offizielle Einschätzung von Mouhameds Tod als Tötungsdelikt ein großer Schritt ist hinsichtlich einer öffentlich kritischen Wahrnehmung von tödlicher Polizeigewalt.

Bislang ist diese nahezu undenkbar in der Gesellschaft gewesen, da sie einen riesigen Riss durch das Vertrauen der Bevölkerung zieht. Dementsprechend kann dies nun als Grundlage einer Reform der Einsatzkonzepte dienen und ein weiteres kritisches Hinterfragen der Institution Polizei anschlussfähig machen."

Polizeipräsident äußert sich nach Anklageerhebung

„Der Einsatz hat auch in unserer Behörde eine tiefe Betroffenheit ausgelöst. Und ich spreche für die ganze Behörde, wenn ich sage: Es ist unser ureigenes Interesse, dass der Tod dieses jungen Mannes - und damit auch die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Maßnahmen in diesem Einsatz - lückenlos aufgeklärt wird", betont der Dortmunder Polizeipräsident Gregor Lange nach der Anklageerhebung.

Er hatte bereits kurz nach dem Einsatz Disziplinarverfahren und vorläufige Maßnahmen eingeleitet und einen beteiligten Beamten vom Dienst suspendiert sowie vier weitere Beamtinnen und Beamte in andere Tätigkeitsbereiche des Polizeipräsidiums Dortmund umgesetzt.

„Uns ist klar: Dieser Einsatz, bei dem ein 16-jähriger senegalesischer Flüchtling auf tragische Weise ums Leben kam, hat, vor allem bei Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Vertrauen beschädigt, das wir wieder herstellen müssen", so Lange.

Nicht erst seit dem Einsatz am 8. August und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Diskussion setze seine Polizeibehörde zahlreiche Maßnahmen - nach innen und nach außen - um, die eines zeigen: „Wir tolerieren keine Form des Extremismus, des Rassismus oder der Diskriminierung, gerade nicht aus unseren eigenen Reihen."

Lange verweist auf die „aktive Wertearbeit" der Dortmunder Polizei

Aus diesem Grund thematisiert das Polizeipräsidium Dortmund bereits seit Jahren immer wieder auf unterschiedliche Weise das Thema Werte - mit Veranstaltungs- und Gesprächsformaten aus verschiedenen Perspektiven. Dabei ist dem Behördenleiter auch die intensive Zusammenarbeit mit Institutionen der Stadtgesellschaft wichtig.

Seit 2012 wirkt die Polizei daher bereits beim Runden Tisch für Vielfalt, Toleranz und Demokratie in Dortmund mit. 2014 wurde ein Dialogkreis mit den muslimischen Gemeinden und Institutionen in Dortmund und Lünen ins Leben gerufen, ebenso wie eine Arbeitsgruppe zum Thema Interkulturelle Kompetenz.

Hier besteht eine Kooperation mit dem Jugendring Dortmund. Dieses Thema fließt seit 2017 auch verstärkt in interne Fortbildungen ein - unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Multikulturellen Forum in Dortmund.

Umso wichtiger ist es jetzt, die erhobenen Anschuldigungen gegen die Einsatzkräfte in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren vor Gericht umfassend und fair aufzuarbeiten", so Polizeipräsident Gregor Lange. „Fakt ist aber auch: Bis zum Ausgang dieses Gerichtsverfahrens gilt auch bei Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten die Unschuldsvermutung - genauso wie bei allen anderen Bürgerinnen und Bürgern."

Scharfe Kritik an NRW-Innenminister Herbert Reul

Der Solidaritätskreis Mouhamed ist skeptisch: Seiner Einschätzung nach müsse NRW-Innenminister Reul nun noch einmal kritisch in den Fokus gerückt werden. Bereits am Tag nach der Tat stellte sich der CDU-Politiker schützend vor die Einsatzbeamt:innen. Man habe „sich in einer Ecke verschanzt, während jemand mit einem Messer auf sie zustürmt".

Dieses Narrativ sei jedoch bereits so kurzfristig durch die Beweislage widerlegt worden, dass sich Herbert Reul selbst seither hinter der Aussage verschanze, dass er nur wiedergegeben habe, was die Polizei Dortmund ihm berichtet habe.

„Diese unreflektierte Form der Loyalität zwischen Politik und Polizei ist beispielhaft für die Probleme, welche sich durch diese Institutionen ziehen. Für uns steht es in der Verantwortung der Politik, jeder Situation gegenüber objektiv entgegenzutreten und auch eine klare Abgrenzung zwischen Legislative und Exekutive zu schaffen", betont Sarah Claßmann.

„Das ist eine Aufgabe, welcher der Innenminister klar nicht gewachsen zu sein scheint. Seine ersten Aussagen prägten das erste öffentliche Bild des Einsatzes, demzufolge Mouhamed als ein aggressiver Jugendlicher, welcher die Polizei angreift, gezeichnet wurde - ein Bild, welches Mouhameds Familie und Unterstützer:innen seitdem versuchen müssen, zu dekonstruieren."

Vorwurf: Innenminister bedient rassistische Stereotype

Welche politischen und emotionalen Auswirkungen diese Aussagen des Innenministers für die Familie hätten, schein Reul wohl nicht bewusst. „Der Innenminister bedient hier rassistische Stereotype, welche die Wahrnehmung von migrantisierten und geflüchteten Jugendlichen in NRW prägen. Eine Entschuldigung oder Reflektion dieser Tragweite folgte bislang nicht", so die Sprecherin des Initiativkreises.

„Wir werden das Prozessgeschehen eng begleiten und weiter versuchen, die Wünsche von Mouhameds Familie in jeden der Schritte einfließen zu lassen", so Sarah Claßmann.

„Wir werden weiter an Konsequenzen und Gerechtigkeit für Mouhamed arbeiten und hoffen, dass sich durch diese beispielhafte Anklage auch Täter:innen in anderen Fällen von tödlicher Polizeigewalt verantworten müssen."

Daher ruft der Solidaritätskreis am heutigen Mittwoch (15. Februar) um 19 Uhr erneut zu einer Kundgebung auf: Unter dem Motto #justice4Mouhamed wollen sie gegenüber der Wache Nord demonstrieren. Ihre zentrale Botschaft: „Die Täter:innen werden angeklagt. Wann werden endlich die Strukturen hinterfragt?"

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