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Warum riecht es hier nach Schwefel? Eine Annäherung an die Hassfigur Martin Shkreli

Meine Güte, wie der nervt. Da ist dieser blasse, zu dünne Typ, der im Livestream zusammenhangloses Zeug schlaumeiert. Das macht er mit dieser leichten Jungmänner-Asperger-Arroganz der Ultraerfolgreichen, die aus Algorithmen frische Vermögen pressen. Der dünne Typ im Livestream macht zwar in Pharma statt in Code, aber er ähnelt den Valley-Unternehmern: selfmade-superreich, mit 33 noch einigermaßen jung, haut gerne zusammenhangslos wichtige Meinungen zu so ziemlich allen Dingen des Lebens raus. Schlimm. Schlimmer: Jetzt holt er auch noch eine Gitarre ran und arpeggiert e-Moll und G-Dur. Echt: Martin Shkreli nervt fürchterlich.

Unten an der Videoleiste sieht man, dass Tausende ihm dabei zusehen. Das -Video läuft seit über vier Stunden, ein Abend im Januar 2016. Warum nicht Netflix starten? Wieso tun sich Leute diesen Typen an? Eine Erklärung: Weil er es geschafft hat, sich als Figur zu stilisieren, die vor allem auf Leinwänden und Bildschirmen anzutreffen ist und die in der Schlussviertelstunde dem Helden unterliegt. Andere Erklärung: Weil man ausschließlich auf diese Weise zumindest ein bisschen an ihn herankommt und in seinen Kosmos eintauchen kann, und, wer weiß, vielleicht geschieht hier die nächste Beleidigung, wird hier die nächste Runde Hohn über wen auch immer gegossen. Vielleicht sorgt Martin Shkreli gleich für den nächsten Skandal, für noch einen.

Dass man dem Pharmaunternehmer Shkreli derart an den Lippen hängt, dass man ihm auch beim unkonzentrierten Plappern zusieht, dafür hat er allein im vergangenen Jahr ausreichend gesorgt.

Aber von Anfang an.

Pharma-Wunderkind

Shkreli, der Mensch, der im Jahr 2016 als „der meistgehasste Mann im Internet" gilt, wächst in Brooklyn auf, Nachfahre von aus Kroatien und Albanien eingewanderten Familien, die Eltern sind das, was man heute als „Gebäudemanager" euphemisieren würde. Er schafft es auf eine gute Highschool in Manhattan, mit 17 bekommt er ein Praktikum bei Jim Cramers Investmentfonds. Dort beeindruckt er mit seinen Aktienpicks. Bloomberg wird später -schreiben: „Zuerst war er ein Beweis für den amerikanischen Traum. Dann hat er ihn verulkt." Er baut seinen eigenen Fonds auf, und nachdem er am Baruch College in New York sein BWL-Diplom erhalten hat, fängt er an, ernsthaft in Biotech zu investieren. Interessant: Schon früh, Anfang der Nullerjahre, fast noch als Milchbart, macht er sich öffentlich über jene Unternehmen lustig, die er leerverkauft und von deren Scheitern er auf diese Weise profitiert. Soll heißen: aus einer Position der Stärke gegen zumindest vorübergehend Indisponierte nach unten treten.

Wer will, kann darin schon ansatzweise ein Vorfühlen für jene Entscheidung erkennen, die Shkreli Anfang 2015 schlagartig weltweit berühmt-berüchtigt machen soll: Als CEO des von ihm gegründeten Pharmaunternehmens Turing Pharmaceuticals hebt er den Preis für ein Medikament quasi über Nacht um 5 500 Prozent an. Eine einzige Pille des Medikaments Daraprim, die am Abend zuvor noch 13,50 Dollar gekostet hat, wird jetzt zu 750 Dollar angeboten. Besonders perfide: Daraprim hatte schon über 60 Jahre auf dem Buckel, Turing hat lediglich die Lizenz zur Herstellung erworben und damit de facto ein Monopol auf den Wirkstoff. Denn obwohl es keinen Patentschutz mehr auf Daraprim gibt, würde es andere Pharmaunternehmen Jahre kosten, bis Herstellung und Vertrieb auf den Weg gebracht sind.

Überall Entsetzen. Daraprim wird zur Behandlung von Toxoplasmose eingesetzt, Menschen mit Immunschwächen sind dringend darauf angewiesen, vor allem an Aids Erkrankte. Wer so unmenschlich handelt, so ist überall zu hören und zu lesen, hat Blut an den Händen.

Und Shkreli, der mit dem Blut an den Händen? Lächelt. Lächelt sein feines, überlegenes, klirrkaltes Lächeln. Es ist dies die Geburtsstunde von „Pharma Bro", dem Mann, der das Gesundheitswesen mit zynischen Wall-Street-Taktiken infiziert hat, dem Mann, der seitdem keine Gelegenheit auslässt, um sich als Bösewicht zu inszenieren, dem Mann, den man hassen darf, vielleicht sogar soll. „Dieser Mann ist der Teufel", steht immer und immer wieder in den Kommentaren unter den vielen Artikeln, die über ihn erscheinen.

Pharma Bro verweist auf blanke Zahlen, darauf, dass er seinen Anlegern gegenüber die Aufgabe hätte, den Wert des Unternehmens zu erhöhen. Ein Preis, erklärt er, ist eine arbiträre Zahl. Niemand hat das Recht, den Wert einer Sache festzulegen, außer der Anbieter selbst. Experten werden einberufen, um darüber zu diskutieren, ob die Anhebung gerechtfertigt ist. Man kommt zu dem Schluss, dass sie es nicht ist, was aber nichts ändert.

Es ist ein alter, müde machender Konflikt, der in den USA alle paar Jahre mal wieder hochkommt, allerdings nie so -extrem auf eine einzige Person konzentriert wie bei Shkreli. Denn betreibt der nicht einfach nur reinen, puren, unverfälschten Kapitalismus? Kapitalismus-Crack? Hat ein CEO tatsächlich moralische Verpflichtungen der Gesellschaft und ihrer schwächeren Glieder gegenüber, oder muss er sich bloß gegenüber den Aktionären verantworten? Eigentlich schon zu Fords Zeiten kaputt verhandeltes Hin und Her, und doch ist es dieses Mal etwas anders: Selbst Hardcore-Polohemdenträger finden es schwierig, Shkrelis Handeln zu verteidigen. Zu brutal ist dessen Vorgehen, zu wenig Empathie ist bei Shkreli zu spüren. Er hat keine Fürsprecher, bloß Leute, die von ihm abgestoßen, gleichzeitig fasziniert sind.

Shkreli selber malt ein verklärendes Bild, das er genervt die Augen verdrehend vorträgt: Die frischen Profite, die er über den Preisanstieg reinholt, will er in die Forschung stecken, um noch effektivere Wirkstoffe zu entwickeln, er will das Heute für das Morgen opfern. Klar, oder? Ob er das so den Patienten und deren Angehörigen erklären möchte, wird er gefragt. Shkreli lächelt.

Zu seinem Plan passt seine Geschichte, nach der er früher als Kind dafür ausgelacht wurde, dass er sich für Aktien interessierte. „Ich erzählte den anderen Jungs, dass sich das eines Tages noch einmal auszahlen wird", sagt er einer Reporterin von „Vice". Shkreli verweist auf seine Vergangenheit als Wall-Street-Wunderkind, dann schweigt er zufrieden: Den Dreisatz soll man bitte selber zu Ende denken. Mit anderen Worten: Lasst mich mal machen. Ich weiß, was ich tue. Ihr versteht das nicht. Spielt doch lieber noch ein bisschen weiter, während ich das hier rocke. Shkreli, Unternehmer in einer angestaubten Branche, reiht sich damit ein in die Parade von optimistischen Valley-Brains, die derzeit anscheinend vor allem damit beschäftigt sind, einem eine neue Welt und Wirtschaft zu ihren Bedingungen verkaufen zu wollen, weiße Jungs mit grandiosen Plänen, die einem gerne zu verstehen geben, dass man nicht mündig genug ist, um mitentscheiden zu dürfen oder überhaupt nur Bedenken anzumelden. Immerhin: Auch dank Shkreli wird 2015 erneut die Diskussion darüber geführt, welche Menschen in der Wirtschaft in Entscheiderpositionen sitzen und ob die da so gut aufgehoben sind. Dank ihm bekommt man einen Einblick in eine Zukunft, in der Tech-Jungs die traditionellen Sparten der Wirtschaft für sich entdecken und dort den Laden auseinandernehmen.

Pharma Bro, der einerseits wegen der tollen Profite, andererseits wegen seiner schönen Zukunftsvision auf Rückendeckung aus der Branche gehofft hat, verzockt sich. Die Kollegen wollen von -Shkreli und Turing Pharmaceuticals nichts wissen. George Scangos, der scheidende CEO von Biogen Inc., schäumt: „Turing hat mit einem auf ernsthafter Forschung basierenden Unternehmen in etwa so viel zu tun wie ein Kredithai mit einer anständigen Bank." Noch ärger für alle im Biz: Hillary Clinton verkündete als Reaktion auf das Drama um Daraprim, dass man die Preise für Medikamente für chronisch kranke Patienten bei 250 Dollar begrenzen müsse. Resultat: In den USA fielen daraufhin die Aktienpreise für Biotechfirmen, Pharma Bros Kollegen bekamen schnell Hitzeflecken. Shkreli ist auch für seine Branchenkumpels eine tiefdunkle Wolke, die sich über ihren schönen Villen in den Hamptons abregnet. (Clinton versuchte es später noch einmal über Twitter, wo sie sein Angebot, die Preise ein bisschen senken zu wollen, kommentierte: „A 10 % price reduction is insulting." Seine Antwort: ein Ein-Wort-Tweet mit dem Inhalt „lol".)

Hat er die Schmähung der Branche nicht verkraftet? Denn spätestens seit Mitte vergangenen Jahres gefällt sich Shkreli in der Rolle des Gehassten. Er bedient sie, oft und gerne, und er macht es gut. Seine öffentlichen Äußerungen werden noch giftiger. Über seinen Hauptkanal Twitter sendet er Beleidigungen und Anfeindungen raus, Rechtfertigungen, weiht seine Follower aber auch in persönliche Pläne ein: „Ich glaube, ich mache bald mal Mixed Martial Arts. Ich lege ganz gut Muskeln zu." Donald Trump, der in Shkreli wohl die nächste Eskalationsstufe seiner selbst spürt, schaltet sich ein und nennt das Einwandererkind aus einfachen Verhältnissen einen „verzogenen Bengel". „Fuck him", twittert Shkreli mit rauchendem Colt zurück. Es bleibt dabei, dass jede öffentliche Aussage derart kalkuliert scheint, dass eine möglichst große Zahl an Menschen sich auf den Fuß getreten fühlt.

Was ist mit dem los?

Je mehr man sich in seine darauffolgenden Taten einliest, je weiter man das Gegenwartsphänomen Pharma Bro betrachtet, desto ratloser bleibt man zurück. Früher wandte sich der Mensch bei heftiger Ratlosigkeit ja meistens an die Religion. Insofern ist es zu verstehen, dass in den Kommentarspalten in Artikeln immer wieder die Rede vom Teufel ist, vom Gehörnten. Kein Witz: Ist Shkreli vielleicht wirklich der Teufel?

Nach den meisten Überlieferungen wird dieser stets als Niedertracht in Person dargestellt, dessen Langeweile Verheerung bringt, der seine immensen Kräfte lediglich dazu einsetzt, sich den Menschen in einer Sekunde zu offenbaren, in der es kein Zurück mehr gibt, in der der Mensch ganz ihm gehört. Der Teufel, versteht man, hat vor allem Lust an der ungeteilten Aufmerksamkeit. Was wiederum zu Shkreli führt, der keine Situation ungenutzt lässt, um diese zu erlangen.

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