Ich lenke den Passat über die dunkle Landstraße und überlege, wo ich Jan am besten loswerde, als er auf einmal vom Beifahrersitz aus anfängt:
„Wir sind nur zwei beschissene Typen, die jedes Jahr auf's Neue einen Riesenschiss vor Weihnachten haben und dankbar sind, wenn Dusollst uns ins Haupthaus lässt, am beschissenen Heiligabend, zum beschissenen Backgammon." Es ist das erste, was er seit etwa hundert Kilometern sagt.
Ich sage: „Hast du irgendwo ein Schild gesehen? Weißt du, ob wir überhaupt noch nach Westen fahren? Oder in welche Richtung die Schweiz ist? Der Flughafen?"
Jan sagt: „Ich hasse Backgammon. Ich hasse Weihnachten.", und dreht sich wieder zum Beifahrerfenster, guckt in die Nacht.
Ich weiß, dass ich knapp davor bin, ihn während der Fahrt rauszuwerfen, ihn aus diesem Wagen zu schmeißen, den wir in den letzten Jahren nur genommen haben, wenn wir nachts auf die dunklen Parkplätze fahren sollten.
Ok, aber ich erzähle jetzt erstmal, warum wir gerade durch völlig unbekanntes Gebiet unterwegs sind.
Jan und ich arbeiten in Dusollsts Wellnesshotel, zumindest haben wir das bis heute Morgen getan. Dusollst heißt eigentlich Ervin und kommt aus Albanien, aber Jan und ich nennen ihn nach dem Wort, das wir am Häufigsten von ihm hören: Du sollst den Passat immer in die Garage fahren, auch bei schönem Wetter. Du sollst jeden Abend das Tor an der Auffahrt schließen. Zu Jan: Du sollst den Gästen kein Yoga anbieten, hörst du? Kein Yoga, wenn du kein ausgebildeter Yogalehrer bist. Du sollst alles machen - bloß kein Yoga, verstanden?
Das Hotel liegt im absoluten Nichts, sieben Kilometer vom nächsten Ort entfernt. Hinter dem Haupthaus beginnen gleich die Berge, und der einzige Nachbar ist der Bauer, der gerade mit seinem Freund den Sommer in San Francisco verbringt, wie wir vorhin erfahren haben. Dusollst hat das Hotel mit ein bisschen neuem Geld aus Berlin in eine Goldmine verwandelt. Weil er den Gästen einfach alle Medikamente gab, die sie verlangten, also wirklich alles, und deswegen hatten Jan und ich bis heute Morgen auch nichts wirklich Herausforderndes zu tun. Außer uns gab es nur eine Putzfrau und die Köchin, die mit dem Bus aus dem Ort kamen und nie lange da waren.
Dusollst hat Jan und mir so etwas wie ein Zuhause gegeben. Er hat uns im Nebenhaus wohnen lassen, und wir durften auch an den Mahlzeiten teilnehmen. Als Gegenwert erledigten wir Aufgaben:
Unsere Haupt-Aufgabe bestand darin, zweimal im Monat mit dem unauffälligen Passat abends loszufahren, um auf einem Autobahnparkplatz nördlich von München neue Medikamente für Dusollsts Hotel abzuholen. Wir wissen: Nur aus diesem Grund duldet Dusollst zwei Spinner wie Jan und mich auf seinem Anwesen.
Das Medikamente-Besorgen erledigen Jan und ich gemeinsam. Meine persönliche Aufgabe besteht darin, dass ich dann und wann die Farbeimer aus der Garage hole und alle Flure und Gänge im Haupthaus Bahama-Beige streiche. Oder ich trage bei schönem Wetter rostige Stangen, die seit der Geburt der Zeit auf dem Anwesen liegen, von einer Ecke des Hofs in die andere. Dann ziehe ich mir das T-Shirt aus und wische mir den Schweiß von der Stirn und merke, dass Dusollst mit den Händen in den Hosentaschen hinter seinem Bürofenster steht und mir dabei zusieht, nickend, als würde ich einen größeren Plan verfolgen und die rostigen Stangen wären bloß der erste Schritt in einer verdammt riesigen Sache, vor der eines Tages die ganze Welt vor Ehrfurcht in die Knie gehen wird.
Seht ihr, und Jan kommt um diese Dödel-Aufgaben herum, weil er gleich am Anfang Dusollst gegenüber behauptet hat, Abitur zu haben. Deswegen ist er für das Kultur-Programm der Gäste zuständig. Für Jan bedeutet Kulturprogramm, am Abend im Fernsehraum die Fernbedienung in die Hand zu nehmen und so weit durch die Sender zu schalten, bis er ganz hinten bei arte und 3sat landet.
Ich weiß nicht viel über Jan. Wo er herkommt, was er vorher gemacht hat. Ich weiß, dass er Abitur hat. Ich weiß, dass er ein Problem mit Fußball-Wetten hat und irgendwo irgendwem viel Geld schuldet. Ich weiß, dass er keinen Kaffee trinken darf und dass er an mehreren Bahnhöfen Hausverbot hat. Eigentlich, wenn ich darüber nachdenke, ist das jede Menge Wissen. Eigentlich weiß ich über keinen anderen Mann so viel wie über Jan. Ich hatte ihn immer fragen wollen, wie man an Bahnhöfen Hausverbot bekam.
Die andere Aufgabe, die Jan betreut, ist der Ausflug am Sonntag: Ich trage meine rostigen Stangen über den Hof, und Jan betrachtet es als seine Arbeit, den Kopf schräg zu legen und in die Luft zu gucken, dann zu sagen: „Ich glaube, ich fahre diesen Sonntag mit den Gästen nach Neuschwanstein."
Ich sage: „Du fährst jede Woche nach Neuschwanstein."
„Ist aber auch gut.", sagt Jan.
Und am Abend betrachtet Dusollst dann Jans eselohrigen Aushang Sonntag: Neuschwanstein und kratzt sich am Kinn: „Neuschwanstein? Echt? Schon wieder?"
Jan nickt ernst.
Dusollst lächelt: „Ist aber auch gut, was?"
Jan und ich, wir hatten bis heute Morgen eine ziemlich gute work-life-balance.
Dann, vor einer Woche, hat Dusollst seine fast neunzig Jahre alte Mutter aus Albanien kommen lassen, damit sie hier bei uns den Sommer verbringt. Die Mutter im Rollstuhl, stumm, taub, rheumatisch. Dusollst hat sie von früh bis spät Huckepack durch sein Hotel getragen, hat ihr alle Räume gezeigt und gelacht und sie anschließend in die Sauna gesetzt. Das hat ihr gefallen, die Frau kaum mehr als ein kleiner Haufen Knochen, der immer friert. Dusollst war plötzlich ein anderer Mensch geworden. Dieser grimmige Typ mit den gefährlichen Freunden aus Berlin? Der Albaner mit dem Mach-bloß-keinen-Scheiß-Blick? Der war ersetzt worden durch einen, der täglich so etwas hier sagte: Das Schönste und beste, was ich habe, ist meine Mama, sagt er, Ja, meine Mama, sagt Dusollst und bekommt dabei gleich wieder diesen außerirdischen Liebesblick, den Jan und ich - wir haben es die ganzen letzten beiden Wochen lang versucht - einfach nicht nachmachen können.
Und heute Morgen, Jan und mein letzter Morgen, ist Dusollst wieder viel Bisness und wenig Liebe. Wie jeden Samstag Morgen rollt er in seinem weißen X6 über den Hof, und als er bei uns am Nebenhaus ankommt, wo ich schon wie jeden Samstag Morgen auf ihn warte, lässt er das Fenster herunter.
Er sagt zu mir: „Du sollst auf Jan aufpassen. Du sollst ihn nicht in die Spielhallen in die Stadt lassen. Du sollst den Bauern anrufen, wenn seine Tiere zu uns rüber kommen. Du sollst die Medikamente nur gegen Barzahlung rausgeben."
Ich kann mich nicht erinnern, wie oft er mit mir so geredet hat: Ich noch nicht ganz wach. Er einigermaßen gepflegt, rasiert, der dicke Mafia-Mann in Hemd und Hose, und dass er beim Reden immer geradeaus sieht, als wäre er schon längst auf der Straße, schon längst beim Fahren. Wenn ich selber Angestellte hätte, ich würde immer so mit ihnen reden: Leise, aus dem Fenster meines weißen BMW X6, den Blick nach vorne. Vergiss den dicken Schreibtisch. Das hier ist die wahre Chefposition.
„Du sollst niemals Quittungen ausstellen."
„Ja", sage ich, „Jaja."
Dusollst fährt langsam vom Hof, die Kiesel knirschen unter den Reifen, der Mann unterwegs in Richtung Wochenend-Orgie. Jeden Samstag fährt er zu einer anderen Frau, die er hier in seinem Hotel kennen gelernt hat, und verbringt dort das Wochenende. Dusollst nennt das Kundenpflege. Jan kennt ein anderes, besseres Wort dafür, irgendwas Lateinisches für Vögeln.
Ich frage mich, was ich machen soll, wenn ich schonmal wach bin. Als erstes gehe in den zweiten Stock und klopfe an die Tür von Dusollsts Mama. Dusollst hat sie vor seiner Abfahrt in einen Bademantel gehüllt, und die Frau sitzt auf dem Bett, fertig für Frühstück und Sauna. Ich packe sie mir auf den Rücken und trage sie in die Küche. Ich mache uns Eier, ein paar Scheiben Toast. Ich kann Dusollst verstehen, es macht wirklich Spaß, diesen kleinen Haufen Frau herumzutragen.
Ich sehe ihr dabei zu, wie sie ihre Eier isst, langsam, langsam, langsam.
Ich sage: „Ich mache Ihnen gleich einen schönen Zitrusaufguss. Da denken Sie, Sie hätten statt der Lungen zwei Zitronen in der Brust." Ich lächele mein bestes Lächeln.
Die alte Frau isst und hört auf zu essen und sieht mir nur stumm ins Gesicht, und ich verstehe, woher Dusollst seinen Mach-bloß-keinen-Scheiß-Blick hat.
Ich räume den Tisch ab und trage sie in den Keller in die Sauna.
Als nächstes gehe ich auf den Hof und stelle das Radio an, suche und finde Radio Gong. Ich bekomme sofort gute Laune, wegen der vielen Hits.
Jan kriecht aus seiner Dachkammer und setzt sich auf die Außentreppe zum Hof. Er hält seine Guten-Morgen-Selbsgedrehte in der Hand, tappt mit dem Fuß zu Boney M. Er verschränkt die Arme hinter dem Kopf und blinzelt in die Sonne: „Guter Tag für Yoga."
Das Sonnenlicht fällt allmählich über den ganzen Hof, alles still außer dem Radio. Hinter dem Haupthaus die Berge. Jan und ich sehen uns an. Zwei Faule im Paradies. Wir beide sehen einen weiteren Samstag voll mit Colatrinken und Sudoku.
Er legt den Kopf quer und sagt: „Weißt du was? Ich glaube, ich fahre morgen doch wieder nach Neuschwanstein."
Und dann ist die Sache passiert, wegen der wir jetzt auf der Flucht sind.
Es begann ein seltsames Kreischen, ein hoher, widerlicher Ton. Jan stand auf, ging die Treppe runter und folgte dem Geräusch über den Hof zur Garage.
Das Geräusch wurde lauter, lauter und noch höher.
Jan kam zurück und sagte: „Das musst du dir ansehen." Er lächelte.
Neben der Garage, in einem Büschel Gras, lag der fette graue Kater. Es war der fette graue Kater vom Bauern nebenan, der schon seit ein paar Wochen bei uns rumlag und alles anfauchte, was näher als zehn Meter an ihn rankam. Ein fieses, schlecht gelauntes Ding, eigentlich gar kein Tier mehr, sondern ein verdammter Panzer.
Ich mochte den Kater. Ich war der einzige, den er nicht anfauchte. Wenn ich ihn sah, gab ich ihm das thumbs-up Zeichen, und ich bildete mir ein, dass er zurück zwinkerte. Der fette Kater und ich, dachte ich, wir verstehen uns.
Der fette Kater lag ganz seltsam verdreht und maunzte ohne Unterbrechung.
„Siehst du es", sagte Jan.
„Was? Was soll ich sehen?" Ich sah den fetten Kater dabei, wie er jaulte und dann wieder sein Gefauche anfing, weil wir ihm zu nahe kamen. Und dann sah ich, dass der Kater kein Kater war - sondern eine Katze, die langsam ein Katzenbaby loswurde.
Jan sagte: „Sie hat schon zwei geworfen, und zeigte auf zwei kleine graue Knäuel hinter der Katze."
Ich sagte: „Das ganze Ding ist kein bisschen dünner geworden."
Jan sagte: „Ich will gar nicht wissen, wie viele noch da drin sind."
Und dann fing die Katze an, noch höher zu maunzen. Die Katze ging wieder in eine Art Schreien über, das überhaupt nicht schön war.
Wir standen über dem Tier und sahen ihm beim Schreien zu.
Ich ging ins Haus und suchte die Nummer von dem Bauern, dem die Katze gehörte. Ich ließ es ein paar Mal klingeln. Dann meldete sich jemand, und ich sagte, dass er die Katze abholen sollte.
Der Typ am Telefon sagte, dass der Bauer mit seinem Freund in San Francisco sei, dass er selber nur ein andere Freund sei, der die Scheune den Sommer über zum Malen nutzte, und ob wir auf einen Kaffee vorbei kommen möchten, sein neues Bild ansehen?
Ich legte auf und ging zurück auf den Hof.
Jan stand über der Katze. Das wahnsinnige Geschrei schien ihm nichts auszumachen. Er zeigte auf das Tier. Er sagte nichts.
Ich erkannte drei kleine Schleimbälle, die mittlerweile aus der Katze rausgekommen waren.
Jan sagte: „Mann, die fallen da einfach so raus."
Die Katze war immer noch genauso dick. Ich kann keine Katzengesichter deuten, aber dieser Katze ging es schlecht. Es schienen noch mehr Junge in ihr drin zu stecken. Da war ich mir sicher, weil sie zuckte und sich schüttelte und sich trotzdem keinen Fingerbreit bewegen konnte, und weil sie immer noch dieses unglaubliche Gejaule von sich gab.
Ich ging zurück ins Haus, um irgendwas zu tun. Ich wollte dem Gejaule entkommen. Aber das Gejaule kam bis ins Haus, bis zu dem hinteren Flügel. Ich wollte das Geschirr vom Frühstück abspülen, aber das Gejaule kam bis in die Küche. Das Gejaule saß wie direkt hinter meinen Augen. Als wäre das Gejaule in mir selber drin. Ich ging zu Dusollsts Arbeitszimmer, das er immer verschlossen hielt, was ich vermutlich auch getan hätte, wenn ich Leute wie Jan und ich in meinem Haus wohnen hätte.
Die Katzensirene hinter meinen Augen wurde lauter. Ich begann zu zittern.
Ich überlegte, ob ich Dusollst auf seinem Handy anrufen sollte. Neben seiner Tür zum Arbeitszimmer hing ein gelbes post-it mit seiner Nummer. Unter der Nummer stand Nur bei Notfällen, das Wort Notfällen dreimal dick unterstrichen. Ich fragte mich, was Dusollst wohl sagen würde, wenn ich ihn bei seiner Kundenpflege wegen einer Katze störte, also mitten drin in der Kundenpflege, wenn er richtig gut beim Kundenpflegen unterwegs war.
Die Katzensirene war in meinem hinteren Kopf angekommen, mir wurde kalt, meine Haut war eisig und nass und ich konnte mich nur noch langsam bewegen. Ich hatte das Gefühl, dass mir alle Haare ausfallen müssten, überall am Körper.
Ich ging zurück zu Jan, der sich keinen Millimeter bewegt hat, der immer noch über der Katze stand und auf sie zeigte, als würde er die Katze verhexen wollen und nicht auf das letzte Wort des Zauberspruchs kommen.
Ich fühlte mich, als würde sich alles in Zeitlupe bewegen. Ich selber, alles andere auch. Ich ging an ihnen vorbei und hielt mir erst gar nicht die Ohren zu. Ich sah mich selber von außen, wie ich das Radio fand, es ausschaltete. Ich sah mich in Zeitlupe über den Hof navigieren. Die Katze funkte weiter direkt in meinen Kopf hinein. Meine Augen waren nass. Im Carport nahm ich die Schlüssel des unauffälligen Passats vom Nagel, und ich fuhr rückwärts auf den Hof. Im Kofferraum fand ich die alte Sporttasche, die wir benutzten, wenn wir abends auf die Rastplätze fuhren und Medikamente besorgen sollten. Ich hielt die Sporttasche neben die Katze, die jetzt heftiger zuckte und nebenbei noch ganz rachige Laute von sich gab.
Jan schüttelte den Kopf. „Zu klein", sagte er. Dann, im nächsten Augenblick, bückte er sich, um sich zu übergeben, mitten auf einen Farbklecks Bahama-Beige auf dem Hofpflaster. Und ich sah ihm dabei zu und ich musste mich auch übergeben, direkt daneben, und als es vorbei war, fühlte ich mich noch schlechter.
Die Katze schrie weiter.
Ich fand im Schuppen eine große stabile Plastiktüte, die Sorte, in die wir jedes Jahr vor Weihnachten die Sommerreifen von Dusollsts X6 einwickeln sollen. Ich packte die mittlerweile vier schleimigen Fellknäuel in die Tüte, tütete sie einfach ein als wären sie Lunchpakete für Jans Ausflug am Sonntag. Die Katze drehte jetzt völlig durch, wollte mich angreifen, aber sie konnte nicht aufstehen, sie rutschte nur im Kreis wie ein Schiff mit kaputtem Ruder.
Und keifte dabei immer noch auf dieser wahnsinnigen Frequenz. Ich merkte, dass meine Augen tränten, dass mein Kopf nach vorne und hinten und oben und unten aufplatzen wollte.
Jan verschwand einen Moment lang im Schuppen und kam kurz darauf wieder zurück, das Gesicht ohne Ausdruck.
Für mich war es zu der Entscheidung gekommen, wer die Katze anfasste und sie zu den Knäueln in die Tüte packte. Ich hielt die Tüte auf und sagte: „Fass sie einfach in der Mitte vom Rücken an und tu sie zu den Kleinen."
Jan sah mich mit diesen seltsam leeren Augen an.
Ich schrie: „In der Mitte. Vom Rücken. Da hat sie keine Klauen. In der Mitte", schrie ich. „Vom Rücken", schrie ich. Und ich machte es ihm vor, führte meine Hände immer und immer wieder zusammen um eine unsichtbare Katze.
Die Katze war noch dicker geworden. Sie wirkte, als hätte sie sich noch einmal ein bisschen aufgebläht.
Dann hielt mir Jan einen Hammer vors Gesicht. Das war es, was er aus dem Schuppen geholt hatte. Einen Hammer.
Ich dachte: Wenn du nichts außer einem Hammer hast, sieht die ganze Welt wie ein Nagel aus.
Ich fragte: „Was willst du mit dem Ding?", obwohl ich genau verstand, was er damit wollte.
Ich sagte: „Was willst du denn damit?"
Und ich wollte, dass er es tat. Ich fragte zwar, was er damit wollte, aber ich hoffte, dass er es einfach tat, ohne darüber ein Wort zu verlieren.
Jan stand mit dem Hammer über der Katze und atmete durch den Mund. Ich sah, dass seine Augen auch nass waren, dass ihm Tränen die Backen runterliefen. Er hob den Hammer und zielte immer wieder auf den Katzenkopf, so wie ein Golfer vor dem Schlag den Schläger ein paar Mal bis knapp vor den Ball führt.
Ich sagte durch meine Zähne: „Machs. Machs einfach."
Ich sah, dass ein paar Langzeit-Gäste wach geworden waren und von hinter ihren Fensterscheiben auf unser Schauspiel hinabsahen. Geister, geweckt aus ihrem hundertjährigen Schlaf. Ich wusste, dass ein Geräusch wirklich richtig laut sein musste, wenn es diese Spuk-Menschen aus ihrem Medikamenten-Schlaf riss.
Jan hob auch den Kopf und sah zu den Fenster im zweiten Stock, hinter denen sich eine kleine Gruppe Menschen gesammelt hatte, die auf uns zeigten und die Köpfe schüttelten. Jan und ich sahen einander wieder in die Augen. Er ließ den Hammer aus der Hand fallen und trat ihn ins Gras neben der Garage.
Die Katze hatte die Krallen ausgefahren und schlug mit ihren Tatzen in Jans Richtung.
Ich sagte wieder: „In der Mitte. Greif sie in der Mitte." Ich war müde. „In der Mitte vom Rücken."
Jan sah mich an. Ich kannte diesen Blick, der sagte: Ich? Mit meinem Abitur? Dieser Blick sagte: Aus mir hätte etwas ganz anderes werden können, Bankangestellter oder Supermarktleiter, und jetzt soll ich diese gefährliche Katze anfassen? Er war schon knapp davor, seinen Mund zu öffnen.
Ich wollte Jans Geheul nicht hören, darum tat ich, was getan werden musste. Ich will die Einzelheiten hier nicht beschreiben, aber als es vorbei war, saß ich auf dem Beifahrersitz vom unauffälligen Passat und freute mich genauso auf einen Doktor wie die Katze, die in der Tüte bei ihren Jungen tobte.
Jan fand den ersten Gang und wir schlidderten die Auffahrt hinunter und auf die Landstraße. Jan, kein geübter Fahrer, rührte weiter im Getriebe, bis wir endlich Fahrt aufnahmen. Aus der Tüte roch es mächtig nach Sachen, die ich noch nie gerochen hatte und für die ich keine Worte kenne. Ich ließ alle Fenster hinunter, und der Fahrtwind schallerte mir um den Kopf, ein dumpfes, wattiges Klopfen, das einen angenehmen Druck auf die Ohren legte und einen Augenblick lang das Katzengeschrei ausblendete.
Erst im Ort fiel uns ein, dass es Samstag war. Wir fanden die Praxis vom Tierarzt, aber niemand machte auf.
Jan schüttelte den Kopf. „Der ist bestimmt beim Segeln."
„Oder bei der Kundenpflege", sagte ich.
Wir fuhren ein paar Mal die Hauptstraße hoch und runter, weil uns nichts besseres einfiel. Ich weiß, dass ich an gar nichts dachte, weil Denken unmöglich war bei dem Katzen-Geräusch. Es war eher so, als hofften wir, dass uns zufällig der Tierarzt vors Auto lief. Wir sahen die Geschäfte an, links und rechts, die Straße hoch, die Straße runter, aber nichts wollte zu unserem speziellen Problem passen.
Die Fußgänger auf dem Bürgersteig hielten an und sahen uns hinterher, fragten sich, was das für irre Musik war, die wir da hörten.
Ich sagte: „OK, gib Gas, ich habs."
Das Krankenhaus lag eine Dreiviertelstunde vom Ort entfernt. Jan fuhr die Auffahrt zur Notaufnahme hoch und ich sagte: „Lass ja den Motor laufen."
Ich packte mir die Tüte vom Rücksitz.
Ich sagte: „Lass ja diese Tür hier auf."
Jan nickte.
Ich ging durch den Eingang, in der Hand die schreiende Tüte. Die Frau am Aufnahmetresen sah neugierig über ihre Brillenränder. Ich stellte ihr die Tüte auf den Tresen und sagte: „KATZE!"
Ich rannte aus der Ambulanz und sprang zurück in den Wagen.
„Wo ist die Katze? Die Babys?", fragte Jan.
„Fahr!", rief ich. „Fahr einfach! Meine Fresse. Fahrfahrfahr einfach! Und halt nicht an."
Später saßen wir beim Bäcker in der Café-Ecke und taten etwas für unsere kaputten Mägen, jeder eine große Tasse Heiße Schokolade. Ich verband mir die zerkratzten Hände mit einer ganzen Packung Pflaster, die wir in der Apotheke besorgt hatten. Es war seltsam feierlich. Wir lächelten beide.
„Das Wunder der Geburt, was?", sagte ich nach einer Zeit.
Jan lächelte und rührte in der Tasse. Er strahlte, als hätte man ihm den Nobelpreis für Vögeln verliehen.
Ich sagte: „Heute sind wir wie Jesus."
„Nee, nicht gleich übertreiben. Vielleicht so gut wie ein halber Zehennagel von Jesus."
„Zusammen ein ganzer? Das reicht mir schon."
Vergessen die Kopfschmerzen, vergessen der Moment, in dem wir dachten, dass man der Katze nur mit einem Hammer helfen konnte.
Jan setzte seine Tasse an den Mund und spitzte die Lippen, blies auf die Schokolade wie es die feinen alten Frauen machen. Jan sagte, dass jeder Mensch so ein kleines Kätzchen brauchte, und dass dann die Welt besser wäre. Jan leckte sich die Lippen. Er sagte: „Setz mich mal an der Spielothek ab. Ich habe ein gutes Gefühl heute."
Ich schüttelte den Kopf und sagte, dass zuerst die Langzeit-Patientinnen auf Dusollsts Farm so ein Kätzchen brauchten. Kein Morphium oder andere Medikamente, sondern Kätzchen. Pures Kätzchen gegen Traurigkeit.
„Angefangen bei Dusollsts Mama", sagte Jan, und ich dachte, dass auch ein Kätzchen bei dieser Frau nichts mehr helfen würde. Ich dachte, dass kein Kätzchen es verdient hatte, von der kalten Hand gestreichelt zu werden, und ich stellte mir vor, wie es sein mochte, wenn einem diese kalte Hand über den Rücken fuhr.
Jan fragte: „Wann hast du sie in dem ganzen Chaos eigentlich aus der Sauna geholt?"
Ich lenke den Passat durch ein dunkles Waldstück und drehe mich zu ihm um, sage: „Hey, vorhin dachten wir noch, dass wir ein Stück Jesus sind, erinnerst du dich?"
Jan antwortet wieder nicht.
Wir haben überlegt und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir vor Dusollst und seinen Freunden am ehesten in der Schweiz sicher sind. Ich hatte vorgeschlagen, dass wir nach Österreich sollten, aber Jan hat gesagt: „Österreich? Spinnst du? Alles voller Jugos. Außerdem näher an Albanien, das ist so, als würdest du dem Feind mit offenen Armen entgegenrennen."
Wir sind verschiedene Länder durchgegangen, aber Europa ist ein sehr kleiner Kontinent, wenn du dich erstmal mit Albanern angelegt hast.
Wir haben lange nachgedacht, und uns ist bewusst geworden, dass uns nur zwei Tickets vom Flughafen Zürich nach Indien helfen können, für die wir kein Geld haben.
Jan sagt: „Das ist das größte Debakel seit dem Tag, an dem ich Yoga angeboten habe."
Und ich nicke, stelle mir immer wieder Dusollsts Mama als vertrocknete Menschenrosine vor.
Es ist schon lange dunkel geworden, und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es in Deutschland so ein dunkles Stück Land gibt wie das hier, durch das ich gerade fahre. Mit so viel Wald. Ich denke, dass ich Jan einen großen Gefallen tun würde, wenn ich ihn einfach hier und jetzt rauswerfe, dass dieser dunkle Wald wahrscheinlich der einzige Ort in Europa ohne Albaner ist.
Vorhin, beim Bäcker, habe ich ihm dann gesagt, dass ich die Mama gar nicht aus der Sauna geholt hätte, und Jan hat aus dem Fenster gesehen. Er hat nichts gesagt, bloß immer schneller in seiner Tasse gerührt. Dann sagte er: „Das ist schlecht."
Jan hat in seinem Leben schon viel erlebt, viel gesehen, und ich akzeptiere ihn als eine Koryphäe auf dem Gebiet von Schlecht. Also nickte ich nur. Er musste es ja wissen.
Wir saßen in der Café-Ecke beim Bäcker und hörten in der Ferne eine Sirene. Vielleicht ein Krankenwagen, vielleicht die Polizei. Ich wusste, dass Dusollst Angst vor der Polizei hatte, fast genauso viel Angst wie vor seinen Freunden in Berlin.
Wir hörten die Sirene sich entfernen und wussten nicht, in welche Richtung sie unterwegs waren, aber Jan stellte sein Rühren ein und sagte noch einmal: „Das ist schlecht."
Nach ein paar Kilometern Flucht haben wir im Hotel angerufen und es klingeln lassen. Niemand ist dran gegangen. Mittlerweile dürfte die Polizei das Anwesen durchsucht haben, dürfte Dinge entdeckt haben, die niemand finden sollte. Mittlerweile dürfte sie auch die beiden Zimmer unterm Dach im Nebenhaus aufgemacht und herausgefunden haben, wer dort lebt.
Jan fragt, ob es sinnvoll wäre, dass er sein Handy einfach wegwirft, es aus dem Fenster schmeißt, oder, noch besser, auf den Anhänger eines vorbeifahrenden Traktors, und die Polizei oder Dusollst damit auf die falsche Fährte lockt. Ich denke kurz darüber nach, aber ich bezweifele, dass unsere Dorfpolizei gleich den Spionagesatelliten in Position bringt.
Jan sagt wieder: „Ich hasse Weihnachten. Ich hasse Backgammon."
Wie immer hat Jan ein bisschen Recht. Wir sind dankbar, wenn Dusollst sich an Heiligabend erbarmt und uns einlädt, sich breitbeinig vor uns setzt und ganz entsetzlich nach Sex riecht. Wenn er es sich nach dem Essen gemütlich macht, den Backgammonkoffer holt und fragt: Na, Männer, was macht der Eros, und wir ihm sagen müssen, dass unsere Anziehungskraft auf Frauen weit schwächer ist als seine, wahrscheinlich nur sieben oder acht Prozent oder noch weniger von seiner beträgt, und dass wir vom Eros ungefähr so oft Besuch bekommen wie vom Christkind, vielen Dank auch, und selbst dann nur in Form totaler Freaks. Aber ich werde hier nicht von der Chinesin mit dem einen großen Fuß erzählen, vergesst es, keine Chance.
Ich lasse den Passat am Straßenrand ausrollen. Wir sind seit langem an keinem Ort mehr vorbeigekommen. Es ist stockfinster. Ich will erst gar keine Hoffnung aufkommen lassen.
Jan sieht mich groß an: „Was? was ist denn?"
Ich lehne mich rüber und öffne ihm die Beifahrertür.
„Was soll denn das?"
Ich warte. Aber er schließt einfach die Tür, und mir bleibt nichts anderes übrig, als weiterzufahren.
Ich denke: Ich bin gar nicht schlecht, nicht richtig schlecht. Bloß schlecht genug, dass ich eine alte Frau in der Sauna vertrocknen lasse. Zu mehr Schlecht reicht es einfach noch nicht. Ich bin hier erst ganz am Anfang.
Jan schüttelt den Kopf und sagt: „Bist du bescheuert? Du schmeißt mich hier raus und morgen ist Neuschwanstein auf dem Programm?"
Und dann, wie aus dem Nichts, wie eine Fata Morgana in der Wüste, taucht vor uns die Grenze auf, davor ein Ort, am Ortsrand ein Truckstop mit Sexshop und Spielhalle.
Jan fragt: „Wieviel Geld hast du noch?"
Ich finde das Wechselgeld vom Bäcker, das er mir auf meinen Zwanziger rausgegeben hat: Vierzehn Euro und achtzig Cent.
Jan sagt: „Warte hier." Er reibt das Geld in seinen Händen und pustet auf die zwei Fünfeuroscheine. „Lass mich meine Magie praktizieren."
„Deine Magie? Was soll das sein? Alles auf den HSV setzen?"
„Wir können natürlich auch einfach vor den nächsten Baum fahren." Er sieht in den Spiegel und fummelt sich die Haare zurecht.
„Machst du dich da etwa schön? Für wen?"
„Ich habe tausend Gesichter." Er grinst, steigt aus und ich sehe ihn in der Spielhalle verschwinden.
Es beginnt zu regnen, ich schalte das Radio ein und suche Radio Gong und schließe die Augen, höre die Tropfen auf die Windschutzscheibe prasseln. Ich fühle mich so, wie wenn es nachmittags auf Dusollsts Hof regnet und niemand erwartet, dass ich rostige Stangen herumtrage, wenn alles sich von selbst versteht und keiner keinem etwas vormachen muss. Wenn Jan anstatt Zahlen einfach schwarze Kreise in die leeren Kästchen im Sudoku-Heft malt.
Ich frage mich, ob ich von den vierzehn Euro lieber hätte tanken sollen, tanken und eine große Dose Red Bull und niemals in den Rückspiegel sehen, und ich frage mich außerdem, ob das Wettbüro einen Hinterausgang hat, durch den Jan mit meinen vierzehn Euro verschwinden kann.
Ich frage mich diese Sachen und warte weiter auf Jans Magie, als sein Telefon klingelt. Ich lasse es klingeln. Dann nehme ich doch ab. Ich höre nur zu, sage nichts.
Ich höre jemanden am anderen Ende atmen. Die Verbindung ist schlecht, es knackt und rauscht.
Eine Stimme fragt: „Mit wem von euch rede ich?"
Ich sage nichts, höre bloß zu, höre dem Regen zu, und dem Knacken im Telefon.
Die Stimme sagt: „Ich mache jetzt ein Angebot." Die Stimme sagt, dass es ihr egal ist, mit wem sie spricht. Sie sagt, dass es ihr reicht, wenn nur einer nicht wiederkommt, Auge um Auge. Bloß einer, der andere darf reinkommen. Die Stimme sagt reinkommen, als wären wir zwei beschissene Jets, die über einem beschissenen Flugzeugträger kreisen. Die Stimme will erklären, was mit der Person, die nicht reinkommt, passieren soll.
Ich frage mich, ob Jans Magie ihn jetzt retten kann, ob er vorhin auch tüchtig genug auf die beiden Fünfer gepustet hat. Ich sage: „Was genau?"
Die Stimme seufzt, holt tief Luft und atmet aus. Sie sagt: „Du sollst mir jetzt mal gut zuhören." Die Stimme seufzt noch einmal, es ist ein trauriges, langes Seufzen, ein Seufzen, wie ich es noch nie gehört habe.
Ich schließe wieder die Augen und denke: Wahnsinn. Erst passiert jahrelang gar nichts, und dann hörst du an einem einzigen Tag die unglaublichsten Geräusche.
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Erschienen in Edit 58 (Frühjahr 2012)