3.345.108 Berliner gibt es. Für die meisten von ihnen ist die Stadt einfach der Ort, an dem sie leben. Der Autor Alexander Krex erzählt davon. Ein Buchauszug
Wenn es ein Berlin-Gefühl gibt, dann das: Ich werde dich nie wiedersehen, also denk von mir, was du willst. Ich schulde dir nichts, und du schuldest mir nichts. Was verbindet uns, außer dass wir in diesem Moment an diesem Ort sind? Unsere Schicksale laufen parallel, sollen sie sich doch in der Unendlichkeit treffen. Oder in der U-Bahn.
U-Bahnhof Rudow, ein Werktag, 11.17 Uhr, ich steige mittig in die gelbe Bahn, nehme den Sitz ganz vorn, nicht den Klappsitz im Türraum, sondern den Dreier quer zur Fahrtrichtung. Also U7, vierzig Stationen, sechsundfünfzig Minuten, Endstation Rathaus Spandau. Die hellblaue Linie auf dem Streckennetz, die einem fallenden Aktienkurs gleicht, inklusive kurzem Aufbäumen zwischen Yorckstraße und Mehringdamm. Noch steht der Zug, alle Türen sind offen.
Ich hätte mich natürlich auch in die U1 setzen können, dreizehn Stationen, einundzwanzig Minuten, aber da gibt es schon dieses Musical. Ich hätte mich auch in den S-Bahn-Ring setzen können, siebenundzwanzig Stationen, sechzig Minuten, aber da wäre ich am Ende wieder am Anfang gewesen. Außerdem habe ich nur in der U-Bahn, in der sie die Fenster aus reiner Gewohnheit eingebaut haben, das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft anzugehören. Um 11.18 Uhr heult das Zurückbleiben-Signal, und mit einem Zischen schließen sich die Türen. Mit dieser Linie bin ich immer zur Schule gefahren, ich habe gelernt, wer nur böse guckt und welche Turnschuhe Ärger bedeuten. Also U7.
Auf der Bank mir gegenüber sitzen zwei Jugoslawinnen. Die Mutter: schwarzer Anorak, schwarzer Lidstrich, frisch gemachte Welle im Haar. Die Tochter: blonder Zopf, dicke Backen, grünes Seidentuch. Beide stämmig. Die Mutter guckt leidend, was entweder am aufgeregten Gerede der Tochter oder der Welt im Allgemeinen liegt. Zwickauer Damm, nichts. Wutzkyallee, nichts. Doch: Ein BVG-Mann mit Schnauzer und Glatze steigt ein, er will nicht kontrollieren oder so, er will einfach irgendwohin. Wenn es wärmer wäre, hätte er die BVG-Jacke bestimmt abgelegt und in seinen Rucksack gestopft.
Mutter und Tochter steigen Lippschitzallee aus, die Tochter, das sehe ich jetzt, ist die stämmigere von beiden. Vielleicht wohnen sie in den Hochhäusern der Gropiusstadt, unter deren Kellern wir gerade stehen, Christiane F. kommt von hier, das Plattenbaumädchen aus Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Vielleicht gibt es das Buch ja auch auf Serbokroatisch, und die Mutter hat es gelesen und immer ganz viele Cevapcici gemacht, weil sie gedacht hat: Lieber eine stämmige als eine heroinsüchtige Tochter.
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