Fassaden aus dunkelgrauem Beton dominieren die Aussicht der Wohnung von Esteban Velázquez von Wilhelm. Wirft der Künstler einen Blick aus einem der maroden Fenster seiner Dresdner Plattenbauwohnung, sieht er auf der anderen Straßenseite noch mehr dicke Betonwände aus DDR-Zeiten. Seit über zwei Jahren steht das neue Zuhause des venezolanischen Asylbewerbers sinnbildlich für den radikalen Umbruch im Leben des Künstlers. „Noch vor zehn Jahren hätte ich niemals gedacht, dass mein Leben heute so aussehen würde", sagt der 39-Jährige, dessen Wohnung zahlreiche von ihm angefertigte Kunstwerke beherbergt.
Der Werdegang des Südamerikaners mit Augenklappe über dem rechten Auge erzählt eine außergewöhnliche Geschichte, die ihn 2016 dazu bewegt, in Deutschland Asyl zu beantragen.
Deutsche Wurzeln des ausgewanderten UrgroßvatersDen deutschen Familiennamen hat der Geflüchtete seinem Urgroßvater Georg Ludwig von Wilhelm zu verdanken, der aus Rheinland-Pfalz auswanderte und im Jahr 1867 zum Konsul des Norddeutschen Bundes in Venezuela ernannt wurde. In der wohlhabenden Stadt Maracaibo sitzt der junge Esteban folglich von Kindesbeinen an am Esstisch mit deutschen Botschaftern und ist fasziniert von französischen Gemälden an fremden Wohnzimmerwänden.
Heute teilt sich der Künstler eine Drei-Zimmer-Wohnung mit zwei weiteren Asylbewerbern aus Venezuela. „Einer der beiden ist fast nie zu Hause. Deshalb kann ich sein Zimmer als Lagerort für meine Bilder verwenden", erzählt Esteban Velázquez von Wilhelm gut gelaunt, während er bei klassischer Musik im Hintergrund durch sein ausgefallenes Atelier führt.
Schon als Jugendlicher merkt er schnell, dass er eine extrovertierte Leidenschaft für Mode und Kunst hegt: Mit 18 Jahren zieht er nach Meinungsverschiedenheiten mit seiner konservativen Mutter zu seiner Großtante und ehemaligen Künstlerin Angelina, die er als eine Frau aus der „Belle Époque" beschreibt. Ihre gemeinsame Wohnung nennt er aufgrund der Größe und Einrichtung in Anlehnung an die französische Palastanlage „Versailles". Großtante Angelina unterstützt ihn tatkräftig in seinem künstlerischen Handeln, während er gleichzeitig Geschichte studiert und beginnt, Kolumnen in der örtlichen Tageszeitung „Panorama" zu veröffentlichen. „Ich fing an, mich voller Euphorie selbst zu verwirklichen und hatte große Träume", erinnert sich Esteban Velázquez von Wilhelm mit leuchtenden Augen zurück. Mit gerade einmal 23 Jahren gründet er sein eigenes Magazin für Lifestyle und Kunst mit dem Namen „Wilhelm", das bereits nach wenigen Jahren eine beachtliche Leserschaft in Venezuela und Südamerika besitzt. Die Zeitschrift trifft mit toleranten und liberalen Ansichten im katholisch-sozialistischen Venezuela auf Zustimmung und Ablehnung. „In Venezuela ist Homophobie immer noch weit verbreitet", betont Esteban Velázquez von Wilhelm.
Unabhängige Journalisten bedroht und eingeschüchtertWährend der aufstrebende Herausgeber den deutschen Promifriseur Udo Walz oder Schauspieler Mario Adorf interviewt, spitzt sich die politische Lage in Venezuela zeitgleich zu. Der sozialistische Präsident Hugo Chávez droht Oppositionellen öffentlich - Redaktionen müssen schließen und kritische Journalisten verschwinden spurlos: „Du siehst zwar die Nachrichten, aber glaubst in dem Moment nicht daran, dass dir etwas ähnliches passieren kann." In seinem Magazin schlägt sich Esteban Velázquez von Wilhelm auf die Seite von Manuel Rosales. Der damalige Gouverneur des westlichen Bundesstaates Zulia steht der Chávez-Regierung kritisch gegenüber und beteiligt sich an einem misslungenen Putschversuch. Esteban Velázquez von Wilhelm wiegt sich dennoch in Sicherheit: „Ich habe keine politischen Nachrichten verbreitet, eher unterschwellige Kritik an der Regierung formuliert." Trotz Drohbriefen macht der junge Verleger weiter - mit Erfolg. Die Auflagenzahl von „Wilhelm" verdreifacht sich und die Redaktion bezieht ein neues Büro, eingerichtet im pompösen Barockstil.
Knapp am Tod vorbeigeschrammtAn einem gewöhnlichen Samstagnachmittag ist Esteban Velázquez von Wilhelm der letzte Verbliebene in den neuen Redaktionsräumen, als er plötzlich Geräusche aus dem Erdgeschoss wahrnimmt. Unten angekommen, überraschen ihn drei maskierte Männer. Sie drücken ihm ein Tuch mit Flüssigkeit ins Gesicht, er verliert sein Bewusstsein. Auf dem Teppich im oberen Stock kommt er wieder zu sich, doch die Angreifer sind gerade dabei, die Redaktion auszuräumen und traktieren sein Gesicht mit einem Hammer. Dabei verliert er sein rechtes Augenlicht und überlebt den Angriff nur mit Glück, fühlt sich in Venezuela fortan nicht mehr sicher. Das Gefühl verstärkt sich, als zwei Polizisten im Krankenhaus ihm beim Aufgeben der Anzeige mit dem Verlust seines zweiten Auges drohen. „In diesem Moment wurde mir klar, dass ich das Land früher oder später verlassen muss", berichtet der Venezolaner. Bis heute ist nicht aufgeklärt, wer genau für die lebensgefährliche Attacke verantwortlich ist.
Über München unfreiwillig nach DresdenNach zwei dreimonatigen Besuchen in München entscheidet er sich am Ende seines dritten Besuchs 2016 dazu, dauerhaft in Deutschland zu bleiben. Präsident Chávez ist mittlerweile tot, doch sein Nachfolger Nicolás Maduro stürzt das Land bis heute in Chaos. Ohne böse Vorahnung möchte er in einer bayrischen Erstaufnahmestelle Asyl beantragen. Doch bereits seine Herkunft sorgt dort für Verwirrung: „Ich glaube, ich war der erste venezolanische Asylbewerber in München", lacht er heute in Erinnerung an das ungläubige Gesicht der damaligen Beamtin. Genauso verdutzt ist Esteban Velázquez von Wilhelm, als er erfährt, dass er ab heute in der Aufnahmeeinrichtung nächtigen muss und in wenigen Tagen der Freistaat Sachsen aufgrund des Verteilungssystems für seine Unterbringung zuständig ist. „Ich hatte keine Ahnung, wo oder was Sachsen ist. Ich bin fest davon ausgegangen, einfach in München bei meinen Freunden bleiben zu können", erzählt der studierte Historiker. Sein ausgeprägtes Interesse an der deutschen Geschichte sowie seine Leidenschaft zu Kunst lassen ihn München aber schnell vergessen: „In München war ich besessen vom Sonnenkönig Ludwig. Mittlerweile sind es die sächsischen Kurfürsten und Könige", erklärt der Asylbewerber. Seine Wohnung ist der Beweis: Zahlreiche detailgetreue Tonfiguren der ehemaligen Kurfürsten und Könige hängen an Ketten von der Decke und im Wohnzimmer entstehen abstrakte Porträts der sächsischen Adeligen.
Dabei ist die Kunst eigentlich nur seine zweite Leidenschaft: „Mein Ziel ist es, das Magazin 'Wilhelm' auch in Deutschland zu veröffentlichen. Ich muss - die Zeitschrift ist mein Leben", gibt sich der Venezolaner selbstbewusst. Aktuell fokussiere er sich auf seine Kunst, da seine durchaus beachtlichen Deutschkenntnisse noch nicht gut genug für einen journalistischen Text in deutscher Sprache seien. Das Gelingen seines Vorhabens hängt vor allem davon ab, ob die Asylberechtigung des 39-Jährigen anerkannt wird: Bis jetzt ist noch keine endgültige Entscheidung gefallen. Zumindest die Rückkehr nach Venezuela ist auch bei einer Ablehnung durch die deutschen Behörden für Esteban Velázquez von Wilhelm ausgeschlossen. Daran ändert auch die wehmütige Erinnerung an „Versailles" bei einem Blick aus seinem Fenster nichts.