Nonstop klickt der Auslöser einer Kamera, als Jocelyn (Lily-Rose Depp) für ihr neuestes Albumcover nach Ansage des Fotografen mal "Puren Sex", mal "Verletzlichkeit" vor der Linse verkörpern soll. Was das Publikum durch den Fokus auf ihr Gesicht bis dahin noch nicht gesehen hat, ist die wild agierende Menschenschar aus Assistentin Leia (Rachel Sennott), ihrem Kreativdirektor Xander (Troye Sivan) und ihrem Manager Chaim (Hank Azaria) sowie einem Intimitätskoordinator am Set. Der spielt gleich eine wichtige Rolle, denn mittlerweile ist der Bademantel des Popstars so weit von den Schultern gerutscht, dass ihre halbe Brust freiliegt. Da müsste eigentlich eine Klausel in ihrem Nacktheitsvertrag geändert werden, merkt dieser an. Das wiederum dauere mindestens 48 Stunden, um sicherzugehen, dass sich Joss nicht von Forderungen unter Druck gesetzt fühlt.
Damit heimst sich der Koordinator allerdings den Ärger aller Anwesenden ein, denn Joss will ihre Brüste nun mal zeigen und das Team, darunter die Plattenlabel-Chefin Nikki (Jane Adams), weiß natürlich: "Sex sells". Deshalb wird der Intimitätskoordinator kurzerhand im Klo eingesperrt. Problem gelöst. Ähnlich rigoros wird die nächste Hürde angegangen - denn wie sich herausstellt, hat die Sängerin kürzlich ihre Mutter verloren und daraufhin einen mentalen Zusammenbruch erlitten. Statt das zu verstecken, verpasst Nikki dem Starlet ein gefaktes Psychiatrie-Bändchen für die Fotos. Xander protestiert erst noch, aber Nikki erklärt, als wäre es die logistische Sache der Welt: "Psychisch gestört zu sein, ist sexy". Jungs aus der Kleinstadt, die einem Mädchen wie Joss im echten Leben nie begegnen, hätten nur dann das Gefühl, eine Chance bei ihr zu haben, wenn sie nicht ganz zurechnungsfähig sei. Verquere Hollywood-Hobbypsychologie, wie man es sich vorstellt. Doch dann taucht Destiny (Da'Vine Joy Randolph), eine weitere Managerin auf. Sie hat eine kompromittierende Aufnahme von Joss im Netz entdeckt. Erneut Aufruhr, aber Joss wird es erst gesagt, als sie die Tanz-Proben erfolgreich absolviert hat. Die Show muss weitergehen.
So beginnt die neue, lang erwartete HBO-Serie "The Idol", die vom Macher des Teenie-Hit-Dramas "Euphoria", Sam Levinson, dem Sänger Abel Tesfaye - besser bekannt als The Weeknd - und dem Produzenten und Drehbuchautoren Rez Fahim erdacht wurde. Seit Anfang der Woche ist die erste Folge auf Sky abrufbar. Geworben wurde mit dem Versprechen, einen Blick auf die dunkle Seite im Pop-Geschäft zu werfen und quasi eine noch skandalträchtigere Version von "Euphoria" ohne Teenie-Inhalt zu produzieren. Mit einem echten Musikstar an Bord stieg die Erwartungshaltung. In den ersten 15 Minuten geben die Nebenfiguren auch alles, um eine unbarmherzige Plastik-Welt mit Profitgeiern zu erschaffen. Jedoch braucht es dafür auch eine interessante Hauptfigur, die auf diesen Irrsinn um sie herum reagiert. Doch selbst als Joss ihr Handy von ihrem Team entwendet wird - ihre Privatsphäre - passiert nichts, noch nicht mal ein kleiner Wutanfall.
Immer harte NippelDiese Superstar-Figur, die ihren Einfluss gar nicht einsetzt - schließlich besitzt sie die Villa, sie zahlt das Personal und alle Rechnungen -, erscheint lächerlich. Die Eigenschaften, die ihr zugestanden werden, sind an einer Hand abzuzählen: Joss ist kälteresistent, hat aber komischerweise immer harte Nippel und raucht Kette. Nur Lily-Rose Depps Schauspieltalent gibt der Figur genug Mysteriöses, um Joss als Künstlerin mit Star-Qualitäten überhaupt wahrzunehmen.
Wenn ihre scharfzüngige Gefolgschaft zwischen Joss und Pop-Prinzessin Britney Spears Parallelen zieht, dann ist das anscheinend ein Überbleibsel der Intentionen, die die ursprüngliche Regisseurin Amy Seimetz ("Atlanta") mal hatte. Spears stand lange unter der Vormundschaft ihres Vaters, konnte nach eigenen Aussagen viel in ihrem eigenen Leben nicht mehr entscheiden. Das Erwartete, nämlich einen tiefen Blick in die Psyche eines internationalen Superstars zu geben, der plötzlich abhängig von anderen ist, kann "The Idol" auch nach dem Einblick in nur eine Episode nicht bieten. Denn auch die Figur von Tedros (Abel Tesfaye) bleibt hinter den Erwartungen. Welche Bedrohung von dem schmierigen Guru und Clubbesitzer mit Rattenschwanz-Frisur ausgeht, kommt bezeichnenderweise nur durch eine Szene aus einem anderen Film rüber. Als Tedros am Tor der Villa klingelt, gucken Joss und Leia gerade "Basic Instinct" (1992). Als er hineintritt, spricht die berühmte Filmfigur Cathrine Tramell (Sharon Stone) gerade von Mord. Aha.
Weibliche Perspektive unerwünschtNach Tesfayes alias The Weeknds Geschmack war die Version von Seimetz zu sehr auf eine weibliche Perspektive ausgerichtet, berichtet das Branchenmagazin "Deadline" unter Berufung auf nicht namentlich genannte Quellen, stattdessen musste der "Euphoria"-Schöpfer her. Demnach wollte der Sänger den Kult-Aspekt in der Serie ebenso weniger prominent haben. Genau diese Entscheidungen sind der Sargnagel für "The Idol". Zwar gibt sich Tesfaye Mühe, den Mann mit "Vergewaltiger-Vibe", wie ihn Leia beschreibt, möglichst schmierig und abstoßend zu spielen. Dafür geht aber auch wirklich jede Anziehung zwischen ihm und Joss flöten. Und zwar genau deshalb, weil seine Gegenspielerin so eindimensional konzipiert ist. Ein Guru verführt und beeinflusst, doch das muss Tedros nicht. Eine Durchsage im Club mit dem Megafon und schon kann er Joss in einer dunklen Ecke seines Establishments befummeln. Selbst als es um härtere Sex-Praktiken mit einer Vorliebe fürs Würgen geht, muss Tedros nur den Eiswürfel herausholen und schon kann er Joss an die Gurgel gehen.
Sex, Drugs und Rock'n'Roll in der Musikbranche ziehen filmisch eigentlich immer. Und die Ausgangssituation "Berühmter Popstar, der einem undurchsichtigen Kult-Führer verfällt" auch. Nur schafft es "The Idol", einem Superstar jede Führungsrolle und Selbstbestimmung zu nehmen und ihn als Ja-Sagerin verblassen zu lassen. Zudem wird die Figur des Gurus zum lustlosen Sonderling mit alten Rollenbildern. Das muss man auch erst mal hinbekommen. Da kann man getrost nochmal "Euphoria" gucken und auf bessere Zeiten hoffen.
Quelle: ntv.de
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