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Deshalb sagen Reinickendorfer und Spandauer "Ja" zu Tegel

Der Flughafen Berlin-Tegel soll offen bleiben, fordern sogar die Anwohner in direkter Nachbarschaft

Selbst Wahlkreise in direkter Nachbarschaft zum Flughafen haben sich für die Offenhaltung ausgesprochen. Wie sie das erklären.


Das hätten sie sich nie träumen lassen. Mit „We love TXL"-Pappen hatten zwei Dutzend Menschen auf einem Trauermarsch in Tegel Abschied vom Otto-Lilienthal-Flughafen genommen. Das Ende, es schien längst besiegelt, drei Monate später sollte der Airport geräumt werden. Das war im März 2012. Nun, fünfeinhalb Jahre später, hat das Volk nach langen und emotional geführten Debatten entschieden: Tegel soll offen bleiben. Der Politik und ihren Warnungen zum Trotz. Der Volksentscheid spricht vor allem dort eine deutlich Sprache, wo Berlins Bürgermeister Michael Müller (SPD) die Menschen, wie er sagt, „entlasten" wollte - in Reinickendorf und Spandau.

Im Minutentakt donnern startende Flugzeuge über den Kurt-Schumacher-Platz. Dem Lärm, den die Flugzeuge verursachen, sind die Anwohner dort besonders ausgesetzt. Und trotzdem: 63,7 Prozent der Reinickendorfer Wähler haben dem Beschluss, in dem der Senat aufgefordert wird, die Schließungsabsichten aufzugeben, zugestimmt. Darunter auch die Wahlkreise in direkter Nachbarschaft zum Flughafen. Was zunächst verwunderlich klingt, können die Reinickendorfer gut erklären.

„Die Bilder hängen alle schief", sagt Gisela Lorenz. Wenn große Langstreckenflugzeuge über ihr Haus flögen, „dann bummert das richtig". Die Dame, die seit einigen Jahren nur wenige Hundert Meter Luftlinie von der Start- und Landebahn entfernt wohnt, hat sich nach eigenen Angaben an den Lärm gewöhnt. In Schlappen steht sie vor ihrem Gartenzaun und blickt in den Himmel, eine Air-Berlin-Maschine übertönt ihre Stimme. „Irgendwie ist es laut, aber trotzdem schön", ruft sie. Sowieso sei es schon viel leiser geworden, jetzt, wo Air Berlin nicht mehr so viel fliege. Ausschlaggebend für ihre Wahl seien die Ausbaupläne für die Stadtautobahn gewesen, die ihre Straße vom Flughafengelände trennt. „Die soll auf vier Spuren erweitert werden, das wird dann nicht besser", glaubt sie. Für Lorenz gehört der Flughafen nun mal dazu. Er mache die Gegend zu dem, was sie ist: Etwas anders, man müsse es eben mögen. Gisela Lorenz liebt es. Ein Flugzeug werde sie selbst aber wohl nicht mehr besteigen. „Ich habe Flugangst", sagt sie, dann geht sie wieder rein. Es hat angefangen zu regnen, eine Lufthansa-Maschine dröhnt, während die Gartentür schließt.

„Tegel ist ein guter Flughafen, der BER weit weg und noch nicht in Betrieb", meint Heiko Dürre. Auch er wohnt in der Einflugschneise und hat für den Weiterbetrieb von Tegel votiert. Berlin wachse schnell und brauche zwei Flughäfen, sagt er. Dass er bei offenem Fenster von großen Maschinen wach werde, nehme er in Kauf. Nachdem schon der Flughafen Tempelhof im Jahr 2008 geschlossen worden ist, solle zumindest Tegel als letzter Airport in der Stadt erhalten bleiben, so der 55-Jährige. „Auch wenn der Volksentscheid nicht bindend ist für die Politiker, so hoffe ich doch, dass sie es ernst nehmen und die Volksstimme nicht übergehen." Diese hat immerhin deutlich gesprochen, sowohl bei der Tegel-Abstimmung als auch bei der Bundestagswahl. Dürre würde das vor allem der rot-rot-grünen Koalition aus Berlin übel nehmen. Die Lärmschutz-Argumente des Regierenden Bürgermeisters hält er für albern. „Die lassen uns schon ewig damit leben."

Und nicht nur das: Da der Großflughafen BER seit 2012 nach wie vor auf seine Eröffnung warten lässt, ist das Flugaufkommen und damit der Lärm in Tegel in dieser Zeit größer geworden. Die Menschen durch den BER-Baupfusch erst fünf und mehr Jahre der Mehrbelastung auszusetzen und dann die Schließung Tegels unter Aspekten des Lärmschutzes zu fordern, könnte wie bei Dürre auch bei anderen Reinickendorfern zu der Entscheidung geführt haben, mit „Ja" zu stimmen. Denn auch Dürre sagt: „Eigentlich hätte man für die Schließung stimmen müssen, dann würde hier sicher einiges besser werden." Aber „der BER ist ein Ding aus dem Tollhaus", ärgert sich der Reinickendorfer. Hätten sich die Politiker eher um den Lärmschutz, die Sanierung Tegels und die Anwohner gekümmert, dann säßen sie diesem Schlamassel nun nicht auf, so seine Meinung.

Doch nicht nur in Reinickendorf machen sich die Menschen auch am Tag nach dem Volksentscheid noch Gedanken über die Zukunft - in vielerlei Hinsicht. In Spandau steht Ludger Arens an der Bushaltestelle Luftfracht, keine 500 Meter von der Startbahn des Flughafens Tegel entfernt. Kurz hintereinander starten dort zwei Maschinen - ein Modell von Scandinavian Airlines, das andere von Royal Jordanian. Viel zu hören ist von ihnen nicht, der Straßenverkehr der dicht befahrenen Zufahrt zum Flughafen Tegel übertönt die Triebwerke der Flugzeuge. „Die Stadt ist ohnehin sehr laut. Ich bin mir unsicher, ob der Flugverkehr da so viel Unterschied macht", sagt Ludger Arens mit lauter Stimme. Andernfalls wäre er kaum zu verstehen.

Das sieht auch Cornelia Goreth so. Sie steht neben dem Siemensdamm, dort ist aber der Straßenverkehr so laut, dass man nur vereinzelt etwas vom Flugverkehr mitbekommt. Sehen kann man die Maschinen hinter den grauen Wolkenschleiern an diesem Tag sowieso nicht. Die Spandauerin hat ebenfalls für den Erhalt von Tegel gestimmt und findet: „Die Straße hier ist lauter als die Flugzeuge." Der Verständlichkeit halber entfernt sie sich immer weiter von der Hauptstraße. Der Flughafen sei für Cornelia Goreth nicht nur Mittel zum Zweck. Im Gegenteil: Sie verbringe dort auch gern ihre Freizeit, sagt die 56-Jährige. „Wenn Besuch da ist, gehen wir oft dorthin und schauen den Flugzeugen einfach nur beim Starten und Landen zu", erzählt Cornelia Goreth. Früher habe sie in Wedding im dritten Stock gewohnt. „Da hatte man den Eindruck, die fliegen gleich ins Haus."

Am Siemensdamm ist auch die Spandauerin Eleonora Bassemir unterwegs. Die 80-Jährige lächelt, als sie nach ihrer Meinung zum Ausgang des Volksentscheides gefragt wird. Doch bei einer Schließung des Flughafens könnte das ihrer Befürchtung nach anders aussehen. „Dann kann ich bestimmt nicht mehr schlafen, weil es so leise ist", sagt die 80-Jährige mit einem leichten Grinsen. Der Flughafen Tegel, an dessen Gelände sie sogar einen Garten habe, gehöre für sie einfach zu Berlin dazu. Also alles halb so schlimm?

Das Thema Lärm stört offensichtlich nicht alle Menschen in der Nähe des Airports. Bei einer anderen Debatte ist die Sorge sogar noch größer: bei den Mieten. Viele Spandauer und Reinickendorfer befürchten, dass die noch günstigen Wohnungspreise in die Höhe schießen könnten, würde der Flugbetrieb in Tegel eingestellt. Das wäre gut für die Eigentümer, aber schlecht für Mieter wie die Reinickendorfer Michael Omakowski und Marlis Schurecht. Die 66-Jährige rechnet mit einem Aufschlag von 20 Prozent netto. „Garantiert", sagt sie. Omakowski kalkuliert ähnlich und sieht auch das Bauvorhaben der Verwaltung kritisch: „Wir haben so viele Flächen, es wäre kein Problem, die Dinge, die sie dort planen, woanders zu bauen." Seine Wahl sei daher auch ein Protest, wenngleich er wisse, dass es keine gute Lösung gebe. „Am liebsten wäre es mir, wenn der Flughafen doch geschlossen, aber nicht zugebaut wird." Wenn Mietwohnungen auf einem geräumten Flughafengelände nicht gebaut werden würden, dürfte das den Mietpreisen in den umliegenden Vierteln jedoch kaum helfen.

Geht es nach den Bürgern, dürfte diese Diskussion ohnehin nichtig sein. Sie wollen Tegel, ob mit Lärm oder nicht. Die „We love TXL"-Pappen können wieder herausgeholt werden.


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