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Tomaten und Toilettenpapier von der Mafia

Schmuggelpfade sind dicht, aus China kommt kein Nachschub: Deshalb verlieren Mexikos Kartelle während der Corona-Pandemie viel Geld. Doch sie wissen die Krise zu nutzen.

Bohnen, Tomaten, Speiseöl, Klopapier – die Mitarbeiterinnen der Modefirma El Chapo 701 hatten einiges zu bieten, als sie jüngst ein Armenviertel in der mexikanischen Großstadt Guadalajara besuchten. Geschützt mit Masken, die das Konterfei des Mafiachefs Joaquín "El Chapo" Guzmán zeigten, verteilten sie mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln gefüllte Kartons, auf denen ebenfalls das Gesicht des Kriminellen zu sehen war. Kaum geschehen, standen die Bilder auf Facebook. "Wir wollen darüber informieren, dass die Chapo-Vorratspakete 701 erfolgreich an alle unsere älteren Mitbürger übergeben wurden", hieß es da.

Mit den Päckchen helfe man denen, die von niemandem unterstützt würden und vom Covid-19-Virus betroffen seien, erklärte Firmeninhaberin Alejandrina Guzmán, die Tochter des in den USA inhaftierten Chefs des Sinaloa-Kartells. In normalen Zeiten verkauft die 36-Jährige T-Shirts und Hemden mit dem Firmenlogo, das ihren Vater zeigt. Kurz nach der Aktion in Guadalajara nahm Facebook die Seite von El Chapo 701 vom Netz.

Vorher hatten sich bereits mehrere kriminelle Organisationen in Mexiko als vermeintliche Wohltäter hervorgetan. Die Zetas, die Familia Michoacana und das derzeit am stärksten präsente Kartell Jalisco Nueva Generación (CNGJ) verteilten in den von ihnen kontrollierten Regionen Essen, Toilettenartikel und Reinigungsmittel. Schwer bewaffnete, vermummte Männer in Kampfanzügen verschenkten Kartons, auf denen das Golf-Kartell grüßen ließ. Im Bundesstaat Jalisco, wo das CNGJ seine Vormacht verteidigen muss, zierte ein Satz des Kartellchefs "El Mencho" die gefüllten Nahrungsmitteltüten: Er stehe auf der Seite des Volkes, stand da.

Es sind nicht die besten Zeiten für Narcos, wie die organisierten Verbrecher in Mexiko genannt werden. Die legale Wirtschaft liegt darnieder, und darunter leidet auch das kriminelle Geschäft. Geschlossene Grenzen verhindern, dass Drogen in die USA gebracht werden. Menschenhandel, Waffenschmuggel, der Raubkopienmarkt – fast alles stagniert. Dennoch seien die Kartelle derzeit sehr erfolgreich, sagt der Sicherheitsexperte Edgardo Buscaglia. Mit Care-Paketen und anderen Wohltaten würden sie sich zunehmend in verarmten Regionen etablieren, in denen staatliche Hilfe nicht ankomme: "In Notstandsituationen wie der Coronakrise hat die organisierte Kriminalität leichtes Spiel", denn wenn die Menschen vom Staat nichts zu erwarten hätten, setzten sie auf das kleinere Übel, sagt der Wissenschaftler. Die Kriminellen böten sozialen Schutz, Auskommen und Medizin. Zugleich seien sich die Menschen "darüber bewusst, dass mit El Mencho die Drogensucht zunimmt und ihre Söhne sterben könnten".

Buscaglia lehrt an der US-amerikanischen Columbia-Universität und in Turin. Doch häufig ist er dort unterwegs, wo Verbrecherbanden das gesellschaftliche Leben dominieren. Im mexikanischen Bundesstaat Sinaloa, wo das gleichnamige Kartell von El Chapo Guzmán beheimatet ist, hat er in diesen Tagen beobachtet, wie die Kriminellen die Pandemie für ihre Zwecke nutzen. "Verglichen mit legalen Unternehmen kann sich die Mafia besser auf veränderte Bedingungen einstellen", sagt er. Organisationen wie das Sinaloa-Kartell sorgten nicht nur dafür, dass die Menschen versorgt würden und die nötige soziale Distanz einhielten. Sie handelten auch mit Schutzmasken, Arztkleidung und Medikamenten. Zudem böten sie günstige Kredite für Menschen, die unter der Krise litten.

Die Hilfen für die Verarmten sind Ausdruck der Kämpfe um territoriale Kontrolle – und diese Kämpfe werden nicht nur mit Bohnen, Seife und Klopapier ausgefochten. Das CJNG-Kartell liefert sich derzeit blutige Schlachten mit den Gegnern aus Sinaloa. Eine Bande mit dem Namen Las Viagras bekriegt sich mit der Familia Michoacana. Die Folge: Im März wurden staatlichen Angaben zufolge 3.000 Menschen ermordet, über 200 mehr als im Februar, als das Virus noch nicht in Mexiko angekommen war. Allein am vergangenen Sonntag starben 105 Personen eines gewaltsamen Todes. Es war der gewalttätigste Tag des Jahres – trotz der Quarantäne.

Den Rechtsexperten Jacobo Dayán vom Iberoamerikanischen Institut in Mexiko-Stadt wundert das nicht: "Die Menschen, die in diesen Konfrontationen sterben, kümmern sich nicht um Quarantäne", sagt er. Dayán kritisiert die Regierung des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, da sie nicht konsequent gegen die Kriminellen vorgehe. Der Präsident sei mit verantwortlich dafür, dass 98 bis 99 Prozent aller schweren Delikte straflos blieben.

Dabei war der Linkspolitiker López Obrador mit dem Ziel angetreten, die Gewalt einzudämmen und hatte mit Menschenrechtlern wie Dayán zusammengearbeitet. Mit Sozialprogrammen wollte der Präsident der Mafia den Wind aus den Segeln nehmen. Doch nun, während der Coronakrise, verteidigt der Staatschef eine Austeritätspolitik, die nur wenig Ausgaben zulässt. Zwar hat er Maßnahmen angekündigt, um die prekäre Lage der etwa 50 Prozent Armen zu verbessern. Doch zugleich hält er trotz knapper Kassen an Projekten wie einem Touristenzug und einer Raffinerie fest. Zugleich verspricht er, zwei Millionen Arbeitsplätze zu schaffen – während in den ersten drei Wochen nach dem Ausbruch der Pandemie Mitte März 346.000 Stellen weggebrochen sind.
"Wen wollen sie schon entführen, wenn niemand auf der Straße ist?"

Es dürfte erst der Anfang der sozialen Krise sein, zumal viele Mexikaner von der Hand in den Mund leben. Können sie heute wegen der Einschränkungen keine Tortilla verkaufen, haben sie morgen nichts zu essen. "Das Monster ist hier nicht der Narco, sondern die Armut", sagt Abel Barrera, der sich im Bundesstaat Guerrero für Menschenrechte einsetzt. Dort hat die Mafia schon jetzt in vielen Regionen das Sagen. "Häufig arbeitet sie eng mit der Polizei, dem Militär, Politikern und Behörden zusammen", sagt Barrera. Die Kooperation könnte jetzt noch gewinnbringender werden. Etwa, wenn es um die Gesundheits- und Lebensmittelversorgung geht.

Doch obwohl manche Experten dem organisierten Verbrechen rosige Zeiten prognostizieren, ist die Mafia mit großen Problemen konfrontiert. So hat das Jalisco-Kartell große Schwierigkeiten, die für die Herstellung der synthetischen Droge Fentanyl nötigen Chemikalien aus China zu importieren. Wie Mexikos Generalstaatsanwaltschaft mitteilt, können die chinesischen Verbündeten der Mafia nicht liefern, weil die Grenzen dicht sind – und Fentanyl gehört aus der Sicht des Kartells zu den wichtigsten Waren im Schmuggel in die USA. Weil aber auch die Grenzen in Richtung Norden kaum noch durchlässig sind, schaffen die Kartelle wesentlich weniger Kokain, Heroin, Fentanyl oder Marihuana auf die andere Seite des Rio Bravo als früher. Und weil das öffentliche Leben in Los Angeles, New York und Houston still steht, ist zugleich der Konsum in den USA eingebrochen.
Kein Nachschub mehr aus China

Große Einbußen verzeichnet auch der Handel mit gefälschten Markenjeans, Turnschuhen oder Schmuck. Die Händler auf dem Markt in Tepito, dem größten Umschlagplatz von Raubkopien in Mexiko-Stadt, klagen über fehlenden Nachschub. Der Grund: Seit die chinesischen Zulieferer der Unión Tepito wegen der Krise ihre Fabriken schließen mussten, kann das Kartell seine Kunden nicht mehr mit Waren versorgen. Nun weigern sich die Händler, Schutzgeld für ihre Stände zu zahlen, informiert die Stiftung "Insight Crime", die zu kriminellen Strukturen in Lateinamerika arbeitet.

Insight Crime zufolge steht das Geschäft auch aus anderen Gründen still: Früher seien die Marcopolos, eine der Unión Tepito zugehörige Gruppe, regelmäßig mit Zehntausenden von US-Dollars nach China gereist, um gefälschte Waren zu kaufen. Das sei jetzt genauso wenig möglich wie andere Aktivitäten: Erpressungen, Entführungen, Raubüberfälle. "Wen wollen sie schon entführen, wenn niemand auf der Straße ist?" fragt Kommentator Alejandro Hope in der Tageszeitung El Universal.

Dennoch gehen Fachleute davon aus, dass zumindest die Großen des Geschäfts über genügend finanzielle Reserven verfügen, um die schwierige Zeit zu überstehen. Danach werden sie den Menschen vermutlich schneller Arbeit anbieten können als der Staat und die privaten Unternehmen.

Die kriminelle Flexibilität der Kartelle könnte sich auch in anderen Sphären auszeichnen. Wie der damalige Leiter der UN-Antidrogenbehörde UNODC Antonio María Costa erklärte, waren es schnell abrufbare Mafiagelder, die während der Finanzkrise 2008 so manche Bank vor der Pleite retteten. "In vielen Fällen sind Drogengelder das einzige liquide Investmentkapital", erklärte Costa 2009 der Nachrichtenagentur Reuters.

Für den Kriminalitätsexperten Buscaglia besteht kein Zweifel: "Das organisierte Verbrechen wird politisch und sozial gestärkt aus der Krise hervorgehen." Befremdet ist er über Mexikos Präsidenten. In López Obradors täglichen Pressekonferenzen spielt die Mafia kaum eine Rolle. Nachdem Bilder der Carepakete durch die Medien gingen, wandte er sich jüngst an die Kriminellen: "Schränkt das besser ein und denkt an eure Familien." Kurz zuvor hatte er auf einer Reise nach Sinaloa in aller Freundlichkeit die Mutter von "El Chapo" Guzmán begrüßt. Es sei kein Verbrechen, der Mutter eines Mannes die Hand zu geben, der Zehntausende auf dem Gewissen habe, sagt Buscaglia. "Aber es ist eine politische Botschaft: Er verleiht dem Kartell soziale Legitimität."

https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-04/mexiko-mafia-coronavirus-unterstuetzung-el-chapo-joaquin-guzman/komplettansicht