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Feature

Mexiko soll still stehen

Wenn es nach Yesenia Zamudio geht, steht Mexiko am 9. März still. "Damit sie wissen, was sie davon haben, wenn sie uns alle umbringen", sagt die 49-Jährige und blickt auf ein Bild ihrer Tochter an der Wand ihres Wohnzimmers. Vor vier Jahren wurde María de Jesús ermordet. Sie war 19 Jahre alt, als sie starb. Seither kämpft ihre Mutter dafür, dass der Täter zur Verantwortung gezogen wird.

Der kommende Montag ist deshalb für sie ein außerordentlicher Tag. Yesenia wird das Haus nicht verlassen, nicht arbeiten, nicht waschen, nicht einkaufen, nicht kochen, so wie wohl Hunderttausende weiterer Frauen, die sich dem Frauenstreik im ganzen Land anschließen wollen. "Ein Tag ohne uns", heißt der Aufruf feministischer Gruppen. Er erregt in Mexiko derzeit viel Aufsehen.

Nach den traditionellen Demonstrationen zum Weltfrauentag am 8. März wollen die Aktivistinnen mit dem Streik ein weiteres deutliches Zeichen gegen die Gewalt setzen, von der Mexikos Frauen ständig bedroht sind. El nueve ninguna se mueve! lautet das Motto: Am Neunten bewegt sich keine. "Zehn Frauen werden in Mexiko jeden Tag ermordet, die Mehrheit von ihren Liebhabern, Ex-Freunden, Männern oder anderen Angehörigen", sagt Zamudio. "Deshalb müssen wir zumindest für einen Tag die Wirtschaft des Landes stilllegen."

"Keine weitere Tote mehr!"
Forderung mexikanischer Aktivistinnen

Immer wieder hat es ähnliche Aufrufe zu Frauenstreiks gegeben. Meist blieben sie relativ bedeutungslos. Doch vieles spricht dafür, dass am Montag in Mexiko tatsächlich unzählige Frauen und Mädchen zu Hause bleiben und sich ihrer zugeschriebenen Rolle verweigern werden. Zahlreiche Märkte, Firmen und Behörden werden voraussichtlich bestenfalls mit halber Kraft arbeiten. Denn der Streik stößt auf großen Widerhall. Indigene Gemeinden und Lehrergewerkschaften unterstützen ihn ebenso wie Universitäten, Unternehmen, Behörden und hochrangige Politikerinnen, beispielsweise die Innenministerin Olga Sánchez Cordero.

Privatfirmen und staatliche Einrichtungen haben ihren Mitarbeiterinnen zugesichert, dass sie keine Konsequenzen zu befürchten haben, wenn sie nicht zur Arbeit erscheinen. "Wir alle als gesamte Gesellschaft sind unserer Verantwortung nicht gerecht geworden und haben die Verletzung der Menschenrechte von Mädchen, Jugendlichen und Frauen ignoriert", teilt der Unternehmerverband CCE vorab mit. Indigene zapatistische Rebellinnen aus dem Bundesstaat Chiapas verweisen auf die staatliche Mitverantwortung für die Femizide, also Morde an Frauen aus geschlechtsspezifischen Gründen: "Wir mobilisieren, damit die Frauen nicht vergessen werden, die unter den verschiedensten Regierungen verschwunden sind und ermordet wurden."

"Das geschah mit Erlaubnis der Regierung."
Lourdes Godínez, Journalistin

Vergangenes Jahr wurden offiziellen Angaben zufolge in Mexiko 3.788 Frauen umgebracht. Die Aktivistin María Salguero, die seit vier Jahren die Frauenmorde im Land dokumentiert, kommt auf 3.825 Fälle. Die Behörden stufen 980 der Taten als mutmaßliche Femizide ein, das sind mehr als doppelt so viele wie 2015. In den allermeisten Fällen werden die Täter nicht bestraft – oft zeigen die Frauen ihre Aggressoren gar nicht erst an, ob aus mangelndem Vertrauen in die Behörden oder Angst vor den Tätern. Und wenn ermittelt wird, geschieht das häufig nachlässig und fehlerhaft. So wie im Fall von Yesenia Zamudios Tochter María de Jesús.

Das Morden hat eine lange Geschichte. Schon in den Neunzigerjahren wurden Hunderte Frauen in der nördlichen Grenzstadt Ciudad Juárez verschleppt und später in der Wüste tot aufgefunden. "Das geschah mit Erlaubnis der Regierung. Die meisten Taten wurden nie strafrechtlich verfolgt", sagt Lourdes Godínez Leal von der feministischen Nachrichtenagentur Cimac. "Seither haben organisierte Frauen immer wieder gefordert, dass die Fälle erst genommen werden. Sie wurden aber nie gehört." Jetzt sei das Echo endlich angekommen, so Godínez.

Dafür haben zwei Morde in Mexiko-Stadt gesorgt, die durch ihre Brutalität besondere Empörung ausgelöst haben. Am 11. Februar wurde das siebenjährige Mädchen Fátima Cecilia aus der Schule entführt, wenige Tage später fand man ihre Leiche mit Spuren von Folter und Vergewaltigung in einer Plastiktüte am Straßenrand, zwischen Müllbeuteln und anderem Abfall. Ihr Ehemann habe "eine kleine Freundin" gewollt, erklärte die mit ihrem Mann festgenommene mutmaßliche Täterin. Medienberichten zufolge fürchtete sie, er könne sich an den gemeinsamen Kindern vergehen, wenn sie ihm kein anderes Mädchen bringe.

"Amor ist schuld"
Zeitungsschlagzeile über den Mord an Ingrid Escamilla

Kurz zuvor wurde die 25-jährige Ingrid Escamilla von ihrem Lebensgefährten umgebracht. Ermittler fanden ihre Leiche in ihrer Wohnung: verstümmelt, die Haut abgezogen, einige Organe im Zimmer verteilt. Am Folgetag konnte jedes Kind die Fotos am Kiosk sehen. Die Beamten hatten sie an einige Redaktionen weitergeleitet. Das Boulevardblatt Pásala setzte sie auf die Titelseite und schrieb dazu "Amor ist schuld", die Zeitung La Prensa titelte im Metzger-Slang: "Ausgenommen".
"Wir zählen in Mexiko nichts", sagt Yesenia Zamudio

"Wir zählen in Mexiko nichts", sagt Yesenia Zamudio dazu, die Mutter von María de Jesús. Nach dem Mord an Ingrid Escamilla zogen sie und ihre Mitstreiterinnen zur Redaktion von La Prensa und setzten Auslieferungsfahrzeuge in Brand. Noch immer wird die Mexikanerin ungehalten, wenn man die Aktion hinterfragt: "Die drucken unsere schönen nackten Körper als Konsumobjekte, veröffentlichen unsere toten Körper als Trophäe und regen sich darüber auf, dass wir Parolen sprühen oder ein paar ihrer Autos anzünden?"

"Seit Marichuy ermordet wurde, kann ich nicht mehr nett zu Kunden sein."
Marichuys Mutter Yesenia Zamudio

Auf dem Tisch neben ihr liegen Flugblätter mit einem Foto von Marichuy, wie sie ihre Tochter nennt. Das Bild an der Wand ist mit Blumen bemalt. In der Küche stapelt sich das Geschirr, ihre Arbeit als Finanzexpertin für Autokäufe musste Zamudio aufgeben. "Seit Marichuy ermordet wurde, habe ich keine Zeit mehr für die Arbeit", sagt sie. "Außerdem kann ich nicht mehr nett zu Kunden sein, denen ich einen Kredit besorgen soll." Sie will jungen Frauen zeigen, dass sie nicht allein sind. Und sie will endlich den Mörder ihrer Tochter hinter Gitter sehen.

Die Ingenieursstudentin Marichuy wurde am 16. Januar 2016 aus dem fünften Stock eines Hauses in Mexiko-Stadt geworfen und starb wenig später an ihren Verletzungen. Ihre Mutter ist davon überzeugt, dass einer ihrer Dozenten hinter der Tat steckt. Sie sagt, er habe Marichuy getötet, weil sie sich geweigert habe, mit ihm Sex zu haben.

"Um Gewalt gegen Frauen und Femizide einzudämmen, müssen konsequente Strafverfolgung und Achtung der Menschenrechte der Frauen auf die Prioritätenliste der politischen Agenda."
Mexikos Nationale Ombudstelle für Menschenrechte

Wie so viele Morde, Entführungen und Vergewaltigungen in Mexiko haben die Behörden auch diesen Fall noch nicht aufgeklärt. Nur sieben Prozent aller Delikte gegen Frauen werden dem Statistischen Amt zufolge juristisch verfolgt, nach Angaben der Nationalen Ombudstelle für Menschenrechte (CNDH) kommt nur jeder zehnte Femizid vor Gericht. "Um Gewalt gegen Frauen und Femizide einzudämmen, müssen konsequente Strafverfolgung und Achtung der Menschenrechte der Frauen auf die Prioritätenliste der politischen Agenda", forderte die CNDH vor wenigen Wochen.

Beim linken Präsidenten Andrés Manuel López Obrador scheint das noch nicht angekommen zu sein. Obwohl viele Politiker seiner Morena-Partei den Streik der Frauen aktiv unterstützen, lässt der Präsident an seiner Distanz keinen Zweifel. Die Femizide seien ein Erbe des Neoliberalismus, der ja mit seiner Amtsübernahme beendet worden sei, beruhigt er. Dabei hat das Morden seither noch zugenommen. Auch bat López Obrador die Feministinnen, Mauern und Denkmäler nicht mehr mit ihren Parolen zu besprühen, und er kritisierte Journalistinnen wegen der vielen Fragen, die sie ihm nach dem Mord an Ingrid Escamilla stellten. Wie meistens, wenn er kritisiert wird, vermutet der Präsident konservative Kräfte hinter den Mobilisierungen und spricht ausführlich über Staatsmänner, die in den letzten Jahrhunderten von Rechten aus dem Amt geputscht wurden.

Als höchster Repräsentant müsste der Präsident mit uns in den Dialog treten."
Julia Muriedas, Aktivistin

Tatsächlich rufen auch Konservative zum Streik auf, die sich bislang wenig um Frauenrechte kümmerten. Dennoch stößt das Verhalten des Präsidenten auf Befremden. "Als höchster Repräsentant müsste er mit uns in den Dialog treten", sagt die Aktivistin Julia Didriksson Muriedas. Sie findet López Obrador zwar nicht explizit frauenfeindlich, aber arrogant und autoritär. Dennoch ist die 24-Jährige optimistisch. Nach den Aktionen am 8. und 9. März werde der Präsident dem Problem Priorität verleihen, hofft sie. "Vielleicht nicht, weil er uns helfen will. Doch zumindest, weil er weiß, das seine Macht auch von uns abhängt."

Vor allem junge Frauen wie Muriedas sind es, die sexuelle Nötigung, Vergewaltigung und Femizide auf die gesellschaftliche Agenda gesetzt haben. Vermummt, mit den grünen Halstüchern der argentinischen Frauenbewegung oder Totenkopfmasken ziehen sie durch die Innenstädte und fordern: "Keine weitere Tote mehr!" Immer wieder blockieren sie die Eingänge von U-Bahn-Stationen, selbst am fast heiligen Unabhängigkeitsdenkmal in der Hauptstadt liest man Parolen gegen Machismus und das Patriarchat. Im Bundesstaat Oaxaca setzten Feministinnen durch, dass Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden. Und an Lateinamerikas größter Universität, der Unam in Mexiko-Stadt, besetzen Studentinnen seit vier Monaten Fakultäten, um sich gegen sexuelle Übergriffe von Professoren und anderen Hochschulmitarbeitern zu wehren.

Ich werde niemand um Erlaubnis fragen. Ich habe jedes Recht, Dinge anzuzünden und zu zerbrechen!
Yesenia Zamudio

"Die feministische Bewegung ist im Moment die wichtigste, die es in Mexiko gibt", ist Muriedas überzeugt. Nicht nur die Resonanz auf den Streikaufruf scheint das zu bestätigen. Vor drei Wochen rechtfertigte Yesenia Zamudio auf einer Kundgebung in einer emotionalen Rede, dass bei Protesten auch mal Scheiben zu Bruch gehen. "Ich werde niemand um Erlaubnis fragen", rief sie, es gehe schließlich um ihre ermordete Tochter. "Ich habe jedes Recht, Dinge anzuzünden und zu zerbrechen!" Innerhalb von drei Tagen schauten sich 1,2 Millionen User das Video von ihrem Auftritt im Netz an. Viele davon werden Zamudio wohl beipflichten.