1 Abo und 4 Abonnenten
Feature

Tödliche Berichte

Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder für Journalisten weltweit. Seit 2000 wurden 130 Medienvertreter Opfer krimineller Kartelle oder staatlicher Sicherheitskräfte. Das hat fatale Folgen für die Zivilgesellschaft.

(Foto: ProtoplasmaKid. Creative Commons)

Plötzlich war die Straße dicht. Reifen und Holzstangen versperrten den Weg. "Steigt aus, ihr Arschlöcher", hörte Sergio Ocampo einen der etwa hundert Wegelagerer schreien. Er war mit einem Journalistenteam in Tierra Caliente unterwegs, einer Region im südmexikanischen Bundesstaat Guerrero. Junge Männer, aber auch Kinder waren an dem Hinterhalt beteiligt. "Die meisten trugen Pistolen oder Gewehre", erinnert sich Ocampo. Die Kriminellen nahmen ihm und seinen sechs Kollegen alles ab, was sie bei sich trugen: Kameras, Laptops, Handys, Bargeld. Selbst seinen Jeep musste der Lokalreporter zurücklassen. Nach 15 Minuten war der Spuk vorbei. Die Beraubten konnten mit ihrem zweiten Auto weiterfahren.

Ocampo kennt diese Gegend, er ist hier aufgewachsen. Seit Jahrzehnten berichtet er von hier für die überregionale linke Tageszeitung La Jornada. Er wusste, dass jene Fahrt am 13. Mai 2017 gefährlich werden könnte. Der Krieg zwischen zwei Banden war eskaliert, Bürgerwehren versuchten, die Verbrecher von ihren Dörfern fernzuhalten, und die Regierung hatte Soldaten in den Konflikt geschickt. Ocampo erinnerte das Szenario an Kriegsbilder aus dem Irak, die er im Fernsehen gesehen hatte.

Mexiko befindet sich offiziell nicht im Krieg. Trotzdem arbeiten viele Journalistinnen und Journalisten unter Verhältnissen wie in einem bewaffneten Konflikt. Im Vergleich zu anderen Überfällen in derselben Woche ging dieser noch verhältnismäßig glimpflich aus. Zwei Tage später wurden zwei Journalisten ermordet. Kurz darauf ein Kollege entführt, wieder einen Tag später eine Reporterin von einem Bewaffneten geschlagen und mit dem Tod bedroht.

Allein 2017 starben elf Pressevertreter eines gewaltsamen ­Todes. Eine Zeitung schloss, nachdem eine Mitarbeiterin erschossen wurde. Aber auch Menschenrechtsverteidiger und ­andere Aktivisten werden bedroht, terrorisiert oder ermordet. Ausgerechnet am 10. Mai, dem mexikanischen Muttertag, töteten Kriminelle Miriam Rodríguez. Sie hatte sich jahrelang für die Aufklärung des Schicksals von Verschwundenen eingesetzt, nachdem ihre eigene Tochter 2012 verschleppt worden war.

So sieht der Alltag in einem Land aus, das zunehmend von Kriminellen kontrolliert wird und in dem sich die Politik unfähig oder unwillig zeigt, dem Terror gegen die Zivilgesellschaft Einhalt zu gebieten. In fast allen Bundesstaaten stehen Bürgermeister, Polizeichefs, Juristen und andere Beamte auf der Gehaltsliste der Mafia. Kein Strafverfolger schreitet ein, wenn die Banden von Gewerbetreibenden Schutzgeld kassieren, illegal ­Eisenerz abbauen oder Frauen zur Prostitution zwingen. Etwa 98 Prozent aller Verbrechen bleiben straflos, die organisierte Kriminalität agiert meist vollkommen freizügig.

So auch bei dem Angriff auf die Journalisten in Guerrero. "Die Anordnung für den Überfall kam von oben", ist der Foto­reporter Hans Máximo Musielik überzeugt, der ebenfalls mit der Gruppe unterwegs war. Er meint damit das Kartell La Familia Michoacana, das in der Region gegen die Tequileros um die Kontrolle von Transportrouten und Drogenanbau kämpft. Keines der Verbrechersyndikate möchte sich bei dem Geschäft stören lassen. Weder von Soldaten, noch von Journalisten.

Auch der Journalist und Schriftsteller Javier Valdez wusste, dass seine Gegner ihn im Blick hatten. Immer wieder hatte er Drohungen erhalten, doch er gab nicht klein bei. "Wenn man mit dem Tod dafür bestraft wird, über diese Hölle zu berichten, dann sollen sie uns eben alle ermorden", schrieb der 50-Jährige, nachdem im März seine Kollegin Miroslava Breach getötet wurde. Zwei Monate später traf es ihn. Mehr als zwölf Kugeln feuerten seine Mörder am 15. Mai 2017 auf ihn.

In seiner Heimat, dem Bundesstaat Sinaloa, regiert das Kartell des in den USA inhaftierten Joaquín "El Chapo" Guzmán. 2015 veröffentlichte Valdez "Narcoperiodismo", ein Buch über journalistisches Arbeiten in Zeiten des Mafiaterrors. Die von ihm gegründete Zeitung Riodoce widmet sich wie keine andere dem Treiben des Sinaloa-Kartells. Valdez zählte zu den Größen des mexikanischen Journalismus. Nach seinem Tod gingen in vielen Städten Medienschaffende auf die Straße, UN-Vertreter und selbst der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel forderten Aufklärung.

Angesichts dieses Drucks berief Präsident Enrique Peña ­Nieto nach dem Attentat eine Sondersitzung des Kabinetts ein. Erstmals trauerte er öffentlich um einen ermordeten Journalisten, obwohl mindestens 38 hingerichtet wurden, seit er 2012 das Amt übernommen hat. Seit dem Jahr 2000 starben nach Angaben der Nationalen Menschenrechtskommission 130 Medienschaffende, 2017 führte Mexiko laut Reporter ohne Grenzen die Liste ermordeter Journalisten an, vor Syrien und dem Irak.

"Wer soll darüber berichten, was im Land passiert, wenn sie uns zum Schweigen bringen", fragt die Journalistin Carmen Aristegui. Wer schreibt dann über den Kampf der Indigenen ­gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, über Folter in den Gefängnissen, den Widerstand gegen den Bergbau? Oder darüber, dass Polizisten und Kriminelle in Iguala 43 Studenten verschleppt haben? Je mehr Themen wie diese aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden, umso enger wird der Raum für demokratische, friedliche Lösungen der Konflikte.

Angesichts der korrupten Strukturen, die sich bis in hochrangige Regierungskreise ziehen, trauen viele Aktivistinnen und Journalisten den Politikern nicht über den Weg. Wer etwa über Javier Duarte, den ehemaligen Gouverneur des Bundesstaates Veracruz, kritisch berichtete, musste mit allem rechnen. Mindestens 18 Medienschaffende wurden in den vergangenen sechs Jahren in Veracruz ermordet. Vieles spricht dafür, dass Duarte mit den Kriminellen kooperierte und für einige Angriffe mit verantwortlich ist. Er floh nach Guatemala, wo er im April verhaftet wurde.

Auch eine im Juni 2017 bekannt gewordene Ausspähaktion schürt das Misstrauen. Mitarbeiter staatlicher Einrichtungen hatten Telefonate von Menschenrechtsverteidigern, Pressevertreterinnen und Antikorruptionsaktivisten abgehört oder ihre Standorte mittels ihrer Handys erfasst. Betroffen waren etwa die Journalistin Aristegui, die einen Korruptionsskandal aufgedeckt hatte, in den Peña Nieto involviert war, und auch ProDH – jene Menschenrechtsorganisation, die sich um den Fall der 43 verschwundenen Studenten kümmert und der dabei immer wieder vom Verteidigungsministerium und der Generalstaatsanwaltschaft Steine in den Weg gelegt wurden.

Auch zwei Initiativen der Regierung können nicht über diese Skandale hinwegtäuschen. 2012 wurde eine Sonderstaatsanwaltschaft für Delikte gegen die Pressefreiheit ins Leben gerufen, seither existieren auch "Mechanismen zum Schutz von Menschenrechtsverteidigern und Journalisten". Beiden Einrichtungen hatte Peña Nieto nach dem Tod von Valdez mehr Hilfe versprochen. Zwischen 2014 und 2016 ist das Budget der Staats­anwälte jedoch um die Hälfte gekürzt worden – trotz zuneh­mender Angriffe. Die Nationale Menschenrechtskommission spricht von schweren Versäumnissen: Ermittlungen würden verschleppt, Journalisten diffamiert, Beweise nicht gesichert. Vor allem, wenn Übergriffe von Polizisten, Soldaten und anderen Sicherheitskräften ausgingen.

Auch die Schutzmechanismen sind umstritten. Zwar können bedrohte Journalisten ein Nottelefon oder eine sichere Wohnung bekommen. Doch kaum ein Reporter wird sich von Polizisten auf Recherchen begleiten lassen. Nicht nur, dass 2016 die Hälfte der Morde an Pressevertretern von staatlichen Kräften verübt wurden. Auch das Vertrauen in der Bevölkerung gegen­über den Sicherheitskräften ist gleich Null. Niemand würde offen mit einem Journalisten sprechen, der mit Polizeibeamten auftaucht.

Lokalreporter Ocampo arbeitet trotzdem weiter. Sieben Wochen nach dem Überfall fährt er mit einigen Kollegen erneut nach Tierra Caliente. Denn viele müssen vor der Gewalt aus ­ihren Dörfern flüchten. Ihre Recherche führt die Journalisten auch zu einem verlassenen Hof, der den Strafverfolgern durchaus als Treffpunkt der Familia Michoacana bekannt ist. Ocampo macht eine erfreuliche Entdeckung: Vor dem Haus steht sein ­gestohlener Jeep. Den Behörden hatte er den Diebstahl damals sofort gemeldet. Aber die konnten ihm leider nicht helfen.