Die Pandemie hat Kindern und Jugendlichen schwer zugesetzt: Viele haben zugenommen, einige stark an Gewicht zugelegt. Auch psychisch leiden Betroffene. Spezielle Sportprogramme sollen nun gegensteuern.
Ein elfjähriger Junge von etwa 70 Kilogramm nimmt Anlauf, springt und platscht ins Becken. Wasser spritzt bis an die Decke. An diesem Sonntagmorgen im Juni hallt Kinderlachen durch das Hallenbad im Untergeschoss des Sport-Gesundheitsparks im Berliner Stadtteil Wilmersdorf. Die Neun- bis Elfjährigen klammern sich am Beckenrand fest und schauen auf zu einem bärtigen Mann mit Brille.
Endré Puskas, 63, der auf den nassen Fliesen krabbelt und robbt, hat eine Mission. Der Sporttherapeut will den zehn Kindern helfen, ihr überschüssiges Gewicht loszuwerden. Leyla* im blauen Badeanzug ist eines dieser Kinder. Das Mädchen mit den schwarzen Haaren hat in den vergangenen zwei Jahren stark zugenommen. Aus Langeweile habe sie mehr gegessen, sagt sie und verzieht die Lippen.
Übergewicht in Kindheit und Jugend ist ein Problem, das sich in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verschärft hat. Die Corona-Pandemie mit Lockdowns und Schulschließungen hat diese Entwicklung noch befeuert. Im Kampf gegen die Pfunde der Jüngsten entwickeln Mediziner und Pädagogen neue Strategien – denn dicke Kinder leiden im Verlauf ihres Lebens unter einer Vielzahl von physischen und psychischen Folgen.
Seit Beginn der Pandemie hat jedes sechste Kind in Deutschland zugenommen, wie eine Umfrage im Auftrag der Deutschen Adipositas-Gesellschaft und des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin in Freising zeigt. Dafür hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa knapp 1000 Eltern mit Kindern im Alter von drei bis 17 Jahren befragt.
Die Ergebnisse sind alarmierend: Jedes dritte Kind zwischen zehn und zwölf Jahren ist dicker geworden. Knapp die Hälfte bewegt sich weniger als vor den Schulschließungen. Zudem isst etwa ein Viertel der Kinder und Jugendlichen mehr Süßigkeiten, und 70 Prozent verbringen mehr Zeit vor dem Fernseher, am Smartphone oder an der Konsole. Kinder aus einkommensarmen Familien haben doppelt so häufig zugenommen wie jene aus besserverdienenden Haushalten.
Die Folgen: Diabetes, Krebs und Arthrose
Was es bedeutet, wenn die Jüngsten in der Bevölkerung immer mehr an Gewicht zulegen, erklärt der Ernährungsmediziner Hans Hauner vom Else Kröner-Fresenius-Zentrum. Er lehrt an der Technischen Universität München und hat an der Studie mitgewirkt. „Das weitere Leben dieser Kinder ist negativ programmiert. Durch das starke Übergewicht sind sie anfälliger für Krankheiten.“ So steige das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Krebs und Arthrose erheblich.
Um dem entgegenzuwirken, hat Endré Puskas in Zusammenarbeit mit Medizinern das Fidelio-Adipositas-Programm des Zentrums für Sportmedizin Berlin für schwer übergewichtige Kinder und Jugendliche entwickelt. Gut 400 Heranwachsende nehmen daran teil. Mitmachen darf nur, wer ein ernsthaftes Gewichtsproblem hat. „Alle sind dick“, sagt Puskas. Das ist Teil des Konzeptes – die Kids sollen sich in der Gruppe wohlfühlen und vor Stigmatisierung geschützt werden. In Deutschland gibt es ein Dutzend ähnliche Sportangebote.
Bei Erwachsenen gilt der Body-Mass-Index (BMI) als Indikator für Übergewicht und Adipositas. Besorgniserregend wird es, wenn der Wert zwischen 25 und 30 liegt. Dann gelten die Menschen als übergewichtig. Liegt der BMI sogar darüber, ist die Rede von Adipositas. Auf den Körper von Kindern und Jugendlichen kann das jedoch nicht eins zu eins übertragen werden. Sie wachsen schließlich noch. Anhand der sogenannten BMI-Perzentilenkurve lesen Kinderärzte die Entwicklung des Gewichts nach Geschlecht und Alter ab.
Eine zunehmende Zahl von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen ist schon vor Corona zu beobachten gewesen. Das belegt die KiGGS-Langzeitstudie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit der jüngsten Generationen. Die Daten aus der zweiten Folgeerhebung von 2014 bis 2017 zeigen, dass Übergewicht und Adipositas bei Heranwachsenden mittlerweile häufig vorkommen. So sind knapp 15 Prozent der drei- bis 17-jährigen Mädchen und Jungen übergewichtig und sechs Prozent sogar adipös – gerade bei den Jugendlichen ist der Trend alarmierend. Zwischen den Geschlechtern gibt es dabei keine Unterschiede.
Puskas hat sich eine besondere Trainingsmethode für seine übergewichtigen Fidelio-Gruppen ausgedacht: „Zapping“. Das heißt, die Sportart wechselt nach wenigen Minuten. Bevor beim Basketball Langeweile aufkommt, pfeift der Trainer Brettball an. Nach Fußball kommt American Football, dann Radfahren, Krafttraining und Schwimmen. „Die Kinder sind es durch Netflix oder auch soziale Netzwerke gewohnt, schnell umzuschalten. Dieses Prinzip haben wir auf den Sport übertragen“, sagt Puskas.
Das ist nur möglich, weil es hier im Sport-Gesundheitspark neben einem Sportplatz eine Turnhalle, ein Schwimmbad und mehrere Räume mit Trainingsgeräten und Fahrrädern gibt. Im Schnitt trainieren die verschiedenen Gruppen zwei bis vier Jahre, mindestens zweimal pro Woche. In der Pandemie wurde das Angebot auf weitere Berliner Bezirke ausgeweitet – auch in Mitte und Spandau können übergewichtige junge Menschen nun nach Pukas Programm Sport treiben. „Die Wege müssen kurz sein. Die Fahrtzeit ist dann keine Hürde mehr“, sagt er. Die neueren Zentren sind allerdings weniger gut ausgestattet.
Die teilnehmenden Kinder sollen auch lernen, sich gesund zu ernähren. Vor Corona haben sie gemeinsam in der Küche des Sportzentrums gekocht, nun bekommen sie kurze Kochvideos auf das Smartphone geschickt. Nach etwa sechs Monaten wird ihr Gesundheitszustand kontrolliert. Auf einer speziellen Waage können sie ihre Fortschritte sehen. Danach sollen sie fit genug für den Vereinssport sein.
Finanziert wird das Programm von den Krankenkassen oder Bezirksämtern, denn die meisten Kinder können sich kein Fitnessstudio oder Tennisstunden leisten. Zwei Drittel von ihnen kommen aus Familien, in denen das Geld immer knapp ist, und mehr als die Hälfte hat einen Migrationshintergrund. Viele werden von Medizinern oder Lehrkräften geschickt.
Auch die Kinderärztin Susanna Wiegand vermittelt Betroffene an das Programm. Seit knapp 20 Jahren leitet sie die Adipositas-Ambulanz für Kinder und Jugendliche im Sozialpädiatrischen Zentrum der Charité Berlin. Wer zu ihr kommt, zählt wortwörtlich zu den schweren Fällen. Selbst unter 18-Jährige leiden schon an hohem Blutdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Diabetes. „Aus Kindern mit starkem Übergewicht werden in der Regel Erwachsene mit starkem Übergewicht“, sagt Wiegand. Seien sie zum Ende ihrer Entwicklung dick, hätten sie eine Chance von weniger als 20 Prozent, je wieder ein Normalgewicht zu erreichen.
Der Direktor des Else Kröner-Fresenius-Zentrums für Ernährungsmedizin Hans Hauner warnt, dass Eltern das Übergewicht ihrer Kinder oft unterschätzten oder auch ignorierten. In der Politik werde das Problem ebenfalls verschleppt. Gemeinsam mit anderen Experten fordert er deshalb eine Zuckersteuer und ein Werbeverbot für Süßigkeiten und Fast-Food. Zudem müsse Adipositas bei Kindern stärker in das öffentliche Bewusstsein rücken und entsprechende Programme bundesweit besser finanziert werden.
Die Mädchen und Jungen im Berliner Abnehmprogramm sollen vor allem durch die eigenen Erfolge motiviert werden. Bei stark übergewichtigen Kindern und Jugendlichen blieben diese oft aus, sagt Endré Puskas. Denn im Sportunterricht hätten sie Strategien entwickelt, um sich vor Hänseleien zu schützen. Wenn übergewichtige Kinder ihren Turnbeutel vergäßen oder sich vor der Stunde plötzlich krank fühlten, dann liege es oftmals nicht an Vergesslichkeit oder Faulheit. „Sie haben, überspitzt formuliert, gelernt zu überleben.“ Viele würden wegen ihrer Unsportlichkeit und ihres Gewichts gemobbt.
„Die Kinder fühlen sich zurückgesetzt und ausgegrenzt“, sagt Hans Hauner. Dieser Stress wirke sich wiederum auf ihr Essverhalten aus und könne dazu führen, dass sie weiter zunehmen. Bei Trauer, Frust oder Ablehnung verlangt der Körper nach Eis und Chips. Sogenanntes emotionales Essen wird damit zum Teufelskreis, der sich nur schwer durchbrechen lässt. In der Pandemie haben insbesondere diejenigen größere Probleme bekommen, bei denen schon vorher eine „Binge-Eating-Störung“ – Betroffene leiden unter regelrechten Essanfällen – diagnostiziert wurde.
Das zeigt eine Studie aus dem vergangenen Jahr von der Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Tübingen. Demnach hat die Häufigkeit von Essattacken und allgemeinen Symptomen von Essstörungen bei ehemaligen Erkrankten im ersten Lockdown zugenommen.
Die Gruppe aus dem Schwimmbad hüpft am Eingang der Berliner Turnhalle auf und ab. Sie wollen vom Trainer wissen, was heute noch auf dem Programm steht. Die kleine Leyla spielt am liebsten Basketball. Doch als sie hört, dass Fahrradfahren diesmal ausfällt, rutscht ihr ein enttäuschtes „Oh Mann“ raus. Puskas schmunzelt zufrieden. Vor ein paar Monaten wäre sie froh darüber gewesen.
*Um die Persönlichkeitsrechte des Kindes zu schützen, wurde der Name und Details von der Redaktion geändert.