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Artikel

Amnesty Journal 4/23 Düstere Diagnose

von Vivien Mirzai

Mit dem Abzug der internationalen Truppen und der Übernahme ­Afghanistans durch die Taliban steht der 15. August 2021 auch als Chiffre für den rapiden Verfall des Gesundheitssystems. Die Versorgung stünde "am Rande des Zusammenbruchs", warnte in der Folge die Weltgesundheitsorganisation (WHO).

Vor der Machtübernahme der Taliban deckten internationale Hilfsgelder 75 Prozent der öffentlichen Ausgaben ab. Dieses Geld fehlt nun im Gesundheitssektor. Das National Public Radio berichtete, dass die Vereinten Nationen im September 2021 zwar Nothilfe in Höhe von 45 Millionen Dollar an Nichtregierungsorganisationen (NGO) im Land vergaben. In einem Bericht über die Gesundheitslage in Afghanistan aus dem vergangenen Jahr betont die NGO Ärzte ohne Grenzen (MSF) jedoch, dass Hilfsorganisationen nicht das gescheiterte Gesundheitssystem des Landes ersetzen können.

Hohe Mütter-und Säuglingssterblichkeitsraten

Aus dem MSF-Bericht geht auch hervor, dass viele Afghan*innen keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung haben. Der Befragung zufolge beklagen knapp 88 Prozent der Patient*innen die hohen Kosten für Behandlungen, Medikamente oder Anfahrt als ihr größtes Hindernis für den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Das sind 18 Prozent mehr als im Jahr 2021. Mehr als 45 Prozent berichten, dass sie zwar mindestens einmal im Jahr eine Gesundheitseinrichtung besuchten, aber mit der Behandlung nicht zufrieden waren. Zudem gaben knapp 63 Prozent der Befragten an, dass Ärzte Männer und Frauen nicht gleich behandelten.

Seit der Machtübernahme der Taliban dürfen sich Frauen und Mädchen nur noch eingeschränkt außer Haus bewegen. Möchten sie eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen, muss ein männlicher Verwandter sie begleiten. Darüber hinaus untersagte die afghanische Regierung im Dezember 2022 Frauen, für Hilfsorganisationen zu arbeiten. Und im Bildungs- oder Gesundheitssektor dürfen sie mittlerweile nur noch eingeschränkt arbeiten. Ohne Ärztinnen und Pflegerinnen ist eine medizinische Versorgung von Mädchen und Frauen jedoch kaum möglich, da Berichten zufolge männliches Gesundheitspersonal Frauen und Mädchen gar nicht behandeln darf.

Afghanistan hat seit vielen Jahren eine der höchsten Mütter- und Säuglingssterblichkeitsraten der Welt. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen starben im Jahr 2020 von tausend Säuglingen 45, in Deutschland waren es drei. 638 von 100.000 afghanischen Frauen starben 2017 während der Schwangerschaft oder der Geburt. In Deutschland waren es damals sieben, heute sind es drei. Eine Studie konnte ­einen engen Zusammenhang zwischen Geschlechterungleichheit und Säuglingssterblichkeitsrate nachweisen. Laut dem Weltentwicklungsbericht 2022 liegt Afghanistan auf einem der untersten Plätze des Indexes der Geschlechterungleichheit, auf Platz 167.

Milliardeninvestitionen der USA

Die Milliardeninvestitionen der USA und ihrer Verbündeten in das Gesundheitssystem Afghanistans verbesserten die medizinische Versorgung in den vergangenen Jahren deutlich. Doch die mühsam errungenen Fortschritte in der Gesundheitsversorgung von Müttern und Neugeborenen werden nach Ansicht von Ärzt*innen und internationalen Hilfsorganisationen seit der Machtübernahme der Taliban durch Unterernährung, geflüchtetes Krankenhauspersonal und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Frauen zunichte gemacht.

Aus einem Bericht der Unabhängigen Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC) aus dem Jahr 2018 geht hervor, dass damals rund 3.000 Afghan*innen jedes Jahr versuchten, sich selbst zu töten. Weltweit betrachtet begehen mehr Männer als Frauen Suizid. In Afghanistan jedoch werden schätzungsweise 80 Prozent der Suizidversuche von Frauen un­ternommen. Die Dunkelziffer ist hoch, denn in den religiös geprägten ländlichen Gebieten werden Suizidversuche verschwiegen - psychische Erkrankungen und deren Folgen sind stigmatisiert und gelten als unislamisch. Die Ursachen sind der AIHRC zufolge vielfältig und reichen von psychischen Problemen über häusliche Gewalt, Zwangsverheiratungen bis zu sozialem Druck. In einer in diesem Jahr von der US-amerikanischen National Library of Medicine veröffentlichten Studie über den psychischen Zustand von afghanischen Frauen heißt es, dass mehr als 79 Prozent der 664 Teilnehmerinnen Symptome einer Depression aufwiesen. Die Betroffenen zeichneten sich überwiegend durch folgende Merkmale aus: Sie waren mit höherer Wahrscheinlichkeit über 30 Jahre alt, lebten in ländlichen Gebieten, hatten ein niedriges Einkommen oder waren erwerbslos, waren erkrankt und hatten in den vorherigen Monaten traumatisierende Ereignisse erlebt.

Epidemie psychischer Störungen

Insgesamt seien psychische Störungen in Afghanistan alarmierend häufig, berichtet HealthNet TPO, eine der größten medizinischen NGOs des Landes. Die Verschlechterung der mentalen Gesundheit in Afghanistan ist auf viele Faktoren zurückzuführen. Konflikte, Armut und familiäre Verluste erschweren den Zugang vieler Betroffener zu qualifizierter Behandlung. Mangelnde Kenntnisse, minderwertige Ausbildung und mangelnde Ressourcen insbesondere in den ländlichen Gesundheitszentren erschweren es dem medizinischen Personal, psychische Störungen korrekt zu diagnostizieren und diese angemessen zu behandeln.

Psychische Störungen wiederum sind häufig eng mit Drogensucht verbunden. Laut dem UN-Büro für Drogen- und Verbrechensbekämpfung leben in Afghanis­tan schätzungsweise 3,5 Millionen Drogenkonsumierende. Das entspricht fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. Seit der Machtübernahme durch die Taliban haben die meisten Drogenbehandlungs- und Rehabilitationszentren des Landes aufgrund unzureichender Res­sourcen Schwierigkeiten, Drogenkonsumierende ausreichend zu versorgen. Der Mangel an Psychiater*innen führt außerdem dazu, dass falsche Diagnosen gestellt und falsche Medikamente verschrieben werden.

Zu der repressiven Gesundheitspolitik der Taliban und der desolaten medizinischen Infrastruktur des Landes kommen weitere Risikofaktoren: schlechter Ernährungszustand, geringe Impfquote sowie mangelnde Hygienestandards.

Vivien Mirzai ist freie Journalistin. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung von Amnesty International wieder.
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