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Wohnungslosigkeit: "Ich sehe überhaupt keine Perspektiven"

Das Klingelschild des Frauenobdachs "Karla 51" in München: Hier bekommen wohnungslose Frauen Unterstützung. (Quelle: Karla 51)

Die Mieten in vielen Städten steigen seit Jahren. Wer sie sich nicht mehr leisten kann, zieht weg - oder findet sich in Einrichtungen wie dem Frauenobdach Karla 51 in München wieder.

Was ist das Zuhause? Der Duden definiert es als "Wohnung, in der jemand zu Hause ist", Wandtattoos umschreiben es triefend mit "Lächeln", "Liebe" und "Erinnerungen". Das Zuhause ist der Ort, an dem man Jeans gegen die zerschlissene Jogginghose eintauscht. An dem keine Maskenpflicht herrscht. Sondern die eigenen Regeln.

Für Marianne Wagner* gilt nichts davon. Marianne Wagner ist wohnungslos. Sie lebt nicht auf der Straße, ist nicht obdachlos. Und doch hat Wagner keine eigene Wohnung. Sie lebt im Frauenobdach Karla 51 des Evangelischen Hilfswerks München, einer Einrichtung für wohnungslose Frauen. Einer Einrichtung, mit der Wagner nur wenige persönliche Erinnerungen verbindet. Und in der Maskenpflicht in den Gängen und der Küche herrscht. Auf die Frage, ob das Karla ein Zuhause ist, antwortet Wagner nach einer langen Pause: "Ich fühle mich hier sicher." Das Karla 51 sei wie ein Netz, das einen auffängt.

Auf ein solches Netz sind immer mehr Menschen in Deutschland angewiesen. Genaue Statistiken gibt es nicht, doch Schätzungen bewegen sich zwischen 700.000 und 1,2 Millionen - und das in der viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt. Besonders in Städten wie München steigen die Mietpreise seit Jahren, Immobilienportale bieten Ein-Zimmer-Wohnungen zu 1.500 Euro und mehr an. Zu viel für Marianne Wagner.

30 Jahre lang hat sie im Ausland gelebt, dann kam sie zurück nach Deutschland. "Diesen Schritt habe ich nicht gerne gemacht." Doch es war Herbst 2020. Die Corona-Zahlen stiegen, Geld war knapp und "das soziale Netz dort gleich null". Wagner hat ihr Auto verkauft, um den Flug bezahlen zu können. Alles, was ihr blieb, passte in einen Koffer. In München lebt ihr Sohn und die Hoffnung auf Hilfe. "Ich habe gewartet, bis er abends von der Arbeit nach Hause kam. Aber er wollte mich nicht reinlassen. Am besten gehst du in die Bahnhofsmission, hat er gesagt."

"Die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof ist ein häufiger Anlaufpunkt für gestrandete Frauen, die nicht wissen, wo sie übernachten sollen", weiß Isabel Schmidhuber, die Leiterin des Karla 51. Seit fast 25 Jahren gibt es die Einrichtung, sie bietet 55 Zimmer für Frauen. 53 davon sind aktuell belegt. Morgen könnte das schon wieder anders sein. "Wir haben monatlich zwischen zehn und zwanzig Ein- und Auszüge", erzählt Schmidhuber. Denn das Karla ist keine Dauerlösung. Acht Wochen lang können die Frauen bleiben, 56 Tage um Hilfe anzunehmen.

Oft geht es um Hartz-4-Anträge, die Grundsicherung oder ausstehende Unterhaltszahlungen. Und natürlich um die Suche nach einer Unterkunft. "Wenn in diesen acht Wochen aber keine Weitervermittlung möglich ist, können sie auch länger in ihren Zimmern bleiben", erklärt Schmidhuber. "Und dort gilt: Was sie in ihren Zimmern machen, geht erstmal nur die Frauen selbst etwas an."

Doch streicht man dort die Wände neu? Stellt man die Möbel um und hängt Bilder auf oder gar ein Wandtattoo? Kurz: Verwandelt man so ein Zimmer in ein Zuhause? "Nein, richtig gemütlich machen kann ich es mir hier nicht", sagt Marianne Wagner. "Außer meiner Kleidung gehört mir hier nichts." Es ist noch immer derselbe Kofferinhalt, verteilt auf 15 Quadratmetern.

Seit einem halben Jahr lebt Wagner jetzt im Karla 51, in einem Zimmer mit kleinem Bad, mit Fernseher, einem Bett und etwas Privatsphäre. Zusammen mit 52 weiteren Frauen. Sie alle teilen sich drei Waschmaschinen und eine Gemeinschaftsküche pro Stockwerk. Da kommt es schon mal vor, dass Töpfe verschwinden oder die Spüle "wie ein Saustall" hinterlassen wird. "Jede hier hat ihre Geschichte. Wer in einer solchen Institution landet, hat sicher kein einfaches Leben gehabt", sagt Marianne Wagner.

Mit zwei Nachbarinnen trinkt Wagner morgens in der Küche Kaffee, mittags kochen sie zusammen. "Damit man einen Rhythmus bekommt und der Tag vorbei geht." Diese Treffen wurden verboten, des Infektionsschutzes wegen. Verlässt sie das Haus, gibt Wagner ihren Schlüssel an der Pforte ab. Mitarbeiterinnen notieren, wann die Bewohnerinnen kommen und gehen. Im Karla gibt man einen Teil der eigenen Unabhängigkeit auf, es ist ein Tausch: Versorgung gegen Regeln.

Marianne Wagner ist dankbar, dass es Einrichtungen wie Karla 51 gibt. Glücklich ist sie dort nicht. "Gesucht habe ich nach einer eigenen Wohnung, aber wie soll ich die Mietpreise bezahlen?" Wagner lebt von 450 Euro im Monat. Die Kosten für die Unterkunft im Karla übernimmt die Stadt München. "Ab und an" holt Marianne Wagner Lebensmittel von der Tafel, wenn es anders nicht geht. Und Immobilienmakler preisen Ein-Zimmer-Apartments ab 600 Euro an. "Ich sehe für mich überhaupt keine Perspektiven", sagt Wagner.

Einrichtungsleiterin Schmidhuber kennt diese Probleme. Das Karla 51 hat eine lange Warteliste. "Meistens vermitteln wir die Frauen an eine andere Einrichtung, in der sie länger bleiben können", erklärt sie. In München wird gerade eine neue Unterkunft für ältere wohnungslose Frauen gebaut. Die Bewohnerinnen werden dort so lange bleiben können, bis sie in die stationäre Altenhilfe umziehen müssen. Die wenigsten haben auf dem freien Mietmarkt eine Chance. Und geförderter Wohnraum ist rar. "Letztes Jahr haben wir von über 200 Frauen eine einzige in eine Sozialwohnung vermitteln können", sagt Isabel Schmidhuber. "Eine!"


*Name von der Redaktion geändert Zum Original