Fast vierhundert Jahre lang lag die Ruinenstadt Teyuna verlassen im kolumbianischen Urwald. Heute nehmen immer mehr Wanderer den schweisstreibenden Marsch durch das höchste Küstengebirge der Welt auf sich, um diese verlorene Stadt zu besuchen.
Die Gruppe verlässt Machete Pelao in der karibischen Mittagshitze. Für vier Tage wird es der letzte Ort sein, den die nordamerikanischen und europäischen Wanderer passieren. Sie sind unterwegs zu den Ruinen der verlorenen Stadt von Teyuna, einst eine blühende Metropole mitten im kolumbianischen Dschungel.
Mit seinem jaulenden Gesang sorgt der Guide Bruno, ein extrovertierter Afrokolumbianer, für Laune. Die schnulzige Vallenato-Melodie untermalt das Gehen auf den roten, staubigen Wegen, die durch die zerklüftete Bauernregion im gerodeten Teil der Sierra Nevada de Santa Marta führen. Wenn Bruno nicht jault, redet er. Und das auch fliessend auf Englisch. «Das habe ich in Miami gelernt», erzählt der Enddreissiger schelmisch aus seiner Vergangenheit, in der er als Drogenkurier ein mit Kokain beladenes Motorboot bis Puerto Rico hätte fahren sollen. 100 000 US-Dollar hätte er dafür bekommen sollen. Doch die US-Küstenwache erwischte ihn, und er landete für ein paar Jahre in einem Gefängnis in Florida.
In der Kokaregion
Der andere Guide, Saul, ist ein schüchterner Mestize mit kantigem Gesicht. Er zuckt mit den Schultern: Früher hätten alle Bauern in der Region Koka angebaut. «Sie nahmen viermal so viel ein wie mit Viehzucht. Alle zwei Monate konnte man die Blätter vom Strauch rupfen.» Der Vierzigjährige war früher einer dieser sogenannten Raspachines. Es ging ihnen gut, bis Ende der neunziger Jahre Paramilitärs die Preise drückten und diktierten, an wen die Kokablätter zu verkaufen seien. «Wer versuchte, anderweitig bessere Preise zu erzielen, wurde erschossen.» Auch in seinem Geburtsort Machete Pelao, der ein Umschlagplatz des Kokahandels war. «Dann verschwanden die Paramilitärs, es gab Substitutionsprogramme für uns Bauern, und seit die Kogi-Indigenen den Pfad freigegeben haben, kommen immer mehr Touristen . . .» Saul unterbricht sich selbst: «Eine Mapaná!», ruft er laut. Seine Augen haben am Wegesrand eine Schlange entdeckt, eine Bothrops atrox – die giftigste Viper der Region. Aber dieses Exemplar ist bereits tot.
Dicke Wolken drücken Mücken und Vögel die steilen Hänge hinunter. Vor dem Regen erreicht die Gruppe die Unterkunft: ein Bauernhaus, das in einer tiefen, schattigen Schlucht liegt. Hortensien, Helikonien und Engelstrompeten schmücken die feucht-grüne Umgebung. Marihuana, Papaya und Maniok wuchern im Garten am Hang. Die Reisenden planschen in einem Naturbecken im Fluss. Über 300 Familien leben in dieser Gegend vom Wandertourismus. Agenturen vermitteln, ehemalige Kokabauern liefern Verpflegung, vier Camps mit je 150 Schlafplätzen sowie ein Dutzend Kioske bilden die Infrastruktur am Weg.
Nach
dem Frühstück tauchen die Wanderer ein in die Magie des Urwaldes. Um
sechs Uhr setzt das flache, kräftige Sonnenlicht Spinnennetze und
quadratmetergrosse Blätter im Frühnebel in Szene, bunte Trupiale
zwitschern in den Bäumen. Bei dem flotten Schritt ist es allerdings nur
en passant möglich, Vögel zu beobachten. Eine Obstpause markiert den
Eintritt in das Gebiet der Kogi-Indigenen. «Der Staat hat erkannt, dass
es für gewisse Ökosysteme keine besseren Wächter als die Naturvölker
selbst gibt», sagt Bruno. Die Kogi sind eine von vier Ethnien, die heute
über die heiligen Gipfel der Fünftausender der Sierra Nevada wachen.
Ihre Vorfahren waren die Tairona, ein präkolumbisches Volk, das sich
nach der Ankunft der Spanier im 16. Jahrhundert in die Berge zurückzog.
Nach zahlreichen Bürgerkriegen waren die Guerilla, Paramilitärs und der Drogenhandel einige der Gründe, warum das Volk der Kogi weiterhin auf Distanz ging. In den letzten Jahren jedoch haben die Indigenen Vertrauen zu den fremden Menschen gefasst, die sie in ihrer Sprache als «kleine Geschwister» bezeichnen. Heute pflegen sie den Umgang mit Sozialarbeitern, Schulen und anderen staatlichen Institutionen. Ihre Bevölkerung wächst. Doch wenn sie flinken Schrittes über die Waldwege flitzen, würdigen sie die Touristen in ihren vor Schweiss triefenden Multifunktions-Shirts keines Blickes. Die Wanderer ihrerseits sind irritiert, weil die Kogi nicht ihren Vorstellungen vom «edlen Wilden» entsprechen: Sie tragen auch einmal eine Stihl-Kettensäge über der Schulter oder pinkfarbene Crocs an den Füssen. Diese Zeugen der westlichen Kultur des 21. Jahrhunderts wollen so gar nicht zu den geknüpften Taschen aus Agavenfasern passen, welche die Kogi stets mit sich führen. Und dass ihre vermeintlich traditionellen weissen Gewänder auf europäische Missionare zurückgehen, ist ein lebendiges Beispiel für die Dynamik von Kultur.
Der Tourismus bringt den Kogi Einnahmen. «Früher schulterten sie als Lastenträger über 30 Kilo, jetzt haben viele von ihnen Maultiere gekauft.» Bruno scherzt augenzwinkernd mit einem jungen Kogi, der seine langen schwarzen Haare unter einer Mütze hochgesteckt hat und gerade im Mittagscamp Proviantsäcke verpackt. Sein Grinsen bringt schwarz-grün umrandete Zähne zum Vorschein: das Resultat des ständigen Kauens und Lutschens von Kokablättern. Diese völkerübergreifende Tradition in weiten Teilen Südamerikas hat nichts mit der Droge Kokain zu tun und ist Männern vorbehalten. Kokablätter sollen beleben, den Hunger stillen und gegen Höhenkrankheit wirken – aber erst wenn man ihnen etwas Muschelkalk hinzufügt.
Zeit für einen Kurswechsel
Am dritten Morgen steht der finale Aufstieg zur Ruinenstadt an. Als die Wanderer durch den reissenden Río Buritaca waten, tritt unversehens ein Trio junger Soldaten aus dem Gestrüpp. Ihre Maschinengewehre in die Höhe gereckt, durchqueren sie in voller Montur den Fluss. Das Militär sichert für die Touristen die verlorene Stadt.
Die Ciudad Perdida ist nach Hunderten von unregelmässigen Steinstufen endlich erreicht. Sie ist grösser als erwartet. Auf mehreren Hektaren zeugen Steinterrassen von einer Siedlung für über 4000 Menschen. Vor 800 nach Christus entstanden, soll sie bis zur Ankunft der Spanier ein Zentrum der Tairona-Kultur gewesen sein. Erst 1976 wurde sie wiederentdeckt. Die Kogi nennen den Ort Teyuna, «heilig». Ein Wasserfall stürzt tosend in die Tiefe, rote Papageien flattern von Geäst zu Geäst, und der dichte Wald schillert in Hunderten von Grüntönen. In der Nebensaison gibt es kaum Menschen auf dieser historischen Lichtung.
Am
letzten Abend trifft sich die Gruppe mit einem älteren Kogi. Fermín, so
sein spanischer Zweitname, spricht gut Spanisch und erläutert den
«kleinen Geschwistern» gern die Spiritualität seiner Gemeinschaft. Er
sagt, dass die langen Haare der Kogi die Lianen und Flüsse der Sierra
Nevada repräsentierten. Das Gespräch streift auch die Klimaerwärmung,
die – so wird befürchtet – die heilige Doppelspitze der Sierra Nevada in
den kommenden zwanzig Jahren ihrer markanten Eiskuppe berauben wird.
«Noch ist Zeit für einen Kurswechsel», sagt Fermín. «Sind denn die Kogi
glücklich über die Tausenden Besucher jeden Monat?», fragt ihn jemand
aus der Gruppe. «Es ist eine Chance», antwortet Fermín. «Eine Chance,
die wir unseren ‹kleinen Geschwistern› geben. Sie sollen die Natur
kennenlernen, um sie endlich zu schützen.»
Quelle: www.nzz.ch
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