Veronika Widmann

Journalistin//Juristin im Werden

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Albanien: Im Durchzug

Mit der Bahn! Sie können es nicht fassen. Gregor vom Hostel nicht, die Apothekerin nicht und auch nicht die Frau im Reisebüro. Warum nur mit der Bahn? Wo es doch frisch asphaltierte Straßen gibt - und Busse. Die zwar vier Mal so teuer sind, aber auch doppelt so schnell und klimatisiert.

Die Züge hingegen seien nicht mal verlässlich mit Fensterscheiben ausgestattet, sagt die Apothekerin: "Mit Ihrer Erkältung sollten Sie das lieber lassen." Und die Frau im Reisebüro warnt: "Das sind keine Züge, wie Sie sich die vorstellen. Das sind Schrotthaufen." Das beste Argument hat Gregor vom Hostel: Nur ein einziger Zug am Tag gehe von Shkoder. Kurz vor Sonnenaufgang, um 5.45 Uhr. Er sagt: "bescheuerte Uhrzeit."

Trotzdem: Bahnhöfe namens Xhyre, Golem oder Rrogozhine klingen zu sehr nach Mittelerde und Abenteuer, um mit dem Bus daran vorbeizufahren. Und die nationale Eisenbahn zu beschimpfen ist schließlich ein weltweiter Volkssport.

Also die Warnungen ignoriert, aufgestanden in der Früh und auf zum Bahnhof! Von den Minaretten Shkoders rufen die Imame zum Gebet. 220 Kilometer liegen vor uns. 12 Stunden und 31 Minuten dauert die Reise vom nördlichsten Bahnhof Albaniens zum südlichsten in Vlore, einschließlich vier Stunden Umsteigezeit am Knotenbahnhof in Durres, einer Küstenstadt in der Mitte Albaniens. Das Fahrplankonzept der Hekurudha Shqiptare, der Albanischen Eisenbahn, ist intuitiv verständlich: Von den vier Endpunkten des Streckennetzes fährt vormittags ein Zug nach Durres und nachmittags einer zurück. Der gesamte Fahrplan passt bequem auf zwei Din-A4-Seiten.

Der Bahnhof von Shkoder hat schon bessere Zeiten gesehen: Die Wartehalle ist so groß wie ein Autohaus, aber menschenleer und unbeleuchtet. In einem winzigen Kämmerchen verkauft eine alte Frau Fahrkarten. Auch draußen funzelt nur eine einzige Laterne. In ihrem Licht kniet ein Mann an der Bahnsteigkante. Es ist der Lokführer, der auf seinem Teppich gen Osten betet. Zwischen ihm und Mekka steht die Lokomotive: ein Eisenschwein, 112 Tonnen schwer, tschechisches Fabrikat aus den siebziger Jahren, winzige Fenster, durch die der Lokführer nach draußen linsen kann. Die Lok T 669 ist unförmig wie ein riesiger Legostein auf Rädern.

Deutsche Reichsbahn, Deutsche Bahn, Balkan

Dahinter stehen rote Wagen mit weißen Längsstreifen. Ein vertrauter Anblick, es ist das Corporate Design der Deutschen Bahn. Einst standen diese roten Mitteleinstiegswagen Halberstadt im Dienst der DDR-Reichsbahn. Die Deutsche Bahn lackierte sie zwar noch um, fand dann aber die Bremsen zu laut und die Wagen zu heruntergekommen, also verhökerte man sie auf den Balkan.

Geliefert wurden die Wagen auf dem Seeweg, denn Albaniens Eisenbahnnetz wurde nie erfolgreich an das seiner Nachbarn angeschlossen. Schon im 19. Jahrhundert plante Österreich-Ungarn, von Norden her Schienen ins Land zu legen. Doch die kaiserlichen Vermessungsingenieure sahen sich einem Heer von 20.000 erbosten Bauern gegenüber. Osmanische Militärs hatten den Aufstand angezettelt, indem sie verbreiteten, man wolle die Albaner enteignen. Jahrzehntelang verhinderten Intrigen und Korruption den Schienenanschluss.

Seit 1986 führen zwar Schienen nach Montenegro, und gelegentlich fährt darauf ein Güterzug, gelegentlich werden die Schienen aber auch geklaut. Deshalb wurden die ausgemusterten Loks und Wagen meist über Kroatien eingeschifft.

Als der Zug losdieselt, schaukelt er, als ob er sich an seine Zeit auf See erinnere. Im weichen Untergrund des albanischen Tieflands sind die Schienen abgesackt und verbogen. Im Zug ist es noch finsterer als auf dem Bahnsteig, die Lampen sind defekt oder nicht angeschlossen. Mit einer Taschenlampe spukt die Schaffnerin durch den Wagen und kontrolliert Fahrkarten - sie sind handgeschrieben und tragen Stempel statt eines QR-Codes.

Man wedelt mit Stullen

Nach einer halben Stunde Fahrt gleißen die ersten Sonnenstrahlen über die Berge der albanischen Alpen. Die Fenster im Mitteltürwagen Halberstadt sind zwar übersät von Rissen, Löchern und Kratzern - aber sie halten. Vom angekündigten Durchzug keine Spur. Mit uns reisen, jeweils für ein paar Stationen: eine Großfamilie, ein paar Jugendliche und alte Männer. Zwischenzeitlich ist der Zug gut gefüllt, aber wir sind die einzigen, die sich die ganze Strecke gönnen. Das Ticket kostet umgerechnet 1,15 Euro, ein guter Deal.

Einfahrt in Durres, auf dem Nebengleis kokelt vertrocknetes Gras vor sich hin, für das sich ein streunender Hund interessiert. Fahrkarten für den Anschlusszug können wir noch nicht kaufen. "Mittagspause", geben uns die beiden Damen hinter dem Schalter zu verstehen und wedeln mit der Stulle. Es ist 9.45 Uhr.

An der Wand gegenüber hängt ein Werbeplakat, darauf sieht man eine grazile Schönheit im Sonnenschein auf einen heranrauschenden Schnellzug warten. Sieht so die Zukunft der albanischen Bahn aus? Die vergangenen Jahrzehnte lassen anderes vermuten: Investiert wird gerade so viel, dass der Betrieb irgendwie weitergehen kann. 1997 wurde während eines Aufstands das Signalsystem zerstört. Bis heute gibt es kein neues.

Die Durchschnittsgeschwindigkeit auf den meisten Strecken beträgt, der alten Schienen wegen, gerade einmal 40 km/h. Gleichzeitig werden Straßen ausgebaut, immer mehr Albaner können sich ein eigenes Auto leisten. In der Folge sind die Passagierzahlen der Eisenbahn kontinuierlich gesunken - von knapp vier Millionen 1993 auf 330.000 im Jahr 2013. Was ihr an Infrastruktur fehlt, macht die Hekurudha Shqiptare aber beim Personal wieder wett. Mit 1.800 Angestellten sei sie "massiv überbesetzt", attestierte die Weltbank vor wenigen Jahren.

Keine Klimaanlage, die nicht funktioniert

Nach komfortablen vier Stunden Umsteigezeit bietet Zug Nummer zwei Sechserabteile mit Sitzen aus dunkelbraunem Kunstleder und Holzimitat an den Wänden, eine aus Hinterzimmern traditioneller Wirtshäuser vertraute Ästhetik. Es gibt viel Platz, um sich auszubreiten - außer uns sind nur eine Handvoll Passagiere an Bord.

Bei 30 Grad Außentemperatur wird es schnell warm im Abteil, ein paar verirrte Fliegen laben sich an unserem Proviant. Aber in Sachen Klimatisierung ist die albanische der deutschen Bahn einen Schritt voraus. Es gibt keine nicht funktionierende Klimaanlage, der man im hermetisch abgeriegelten ICE hilflos ausgeliefert ist. Nein, es gibt ein altmodisches Fenster, aus dem man seinen Kopf in den Fahrtwind halten könnte, würde nicht der Öffnungsmechanismus klemmen. Dafür fehlen auf der Gangseite aber sämtliche Fensterscheiben, hier herrscht nun der angekündigte Durchzug. Hin und wieder peitschen auch Äste herein, die wegen des eingeschränkten Zugverkehrs frech über die Gleise wuchern.

Pragmatisch auch die Toilette: ein simples Loch im Boden - das lässt sich schließlich leichter putzen als eine Kloschüssel. Und wer hätte in einem schwankenden Zug nicht schon mal daneben gezielt?

Geputzt wird mit größter Effizienz: Nur noch zwei Fahrgäste im Wagen? Warum dann den Feierabend darauf verschwenden! Dreißig Minuten vor dem Ziel kommt die Schaffnerin mit einem Wischmopp vorbei. Sie wedelt Staub und unsere Füße beiseite. Artig stellen wir sie hoch und handeln uns einen Schwall wütender albanischer Worte ein. Füße auf Sitzpolster geht gar nicht, das scheint länderübergreifend Konsens unter Schaffnern zu sein.

Während der kleine See auf dem Boden trocknet, zuckelt der Zug durch die Vororte von Vlore, hier ist Endstation. Die Reste des Güterbahnhofs zeugen von längst begrabenen Ambitionen: Dutzende Waggons rosten vor sich hin, manche kippen fast von den Gleisen. Ein paar Kinder winken dem Zug. Hinter ihnen qualmen Müllberge im Abendrot.

Im Zug bemüht sich die Schaffnerin weiter um Ordnung. Mit Gummihandschuhen läuft sie von Mülleimer zu Mülleimer. Greift hinein, begutachtet kurz den Inhalt und wirft ihn aus dem Fenster.

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