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Deutsch-Türken über das Präsidialsystem: "Erdogan hat das Land kaputtgemacht!"

Von Verena Niepel

Wird Erdogan zum allmächtigen Präsidenten? Im Frühjahr sollen nicht nur die Türken in der Türkei in einem Referendum darüber abstimmen, sondern auch die Türken in Deutschland. Ein Stimmungsbild.

Fängt Selim erst einmal an, über die Verhältnisse in der Türkei zu reden, kann er so schnell nicht mehr aufhören. Anfangs sitzt er noch entspannt im kalten Neonlicht bei einem türkischen Friseur nahe dem Görlitzer Bahnhof in Berlin. Während ihm der Mann mit einer Klinge die Kehle rasiert, beginnt Selim erst zögernd, dann immer erhitzter über sein zweites Heimatland zu reden.

"Das Land ist gespalten, manche sind dafür, manche dagegen und manche gegen alles", sagt er über das geplante Präsidialsystem. Staatschef Recep Tayyip Erdogan will die Türken im April darüber abstimmen lassen, ob sein Amt um neue, tief in die demokratischen Strukturen wirkenden Befugnissen erweitert werden soll. "Die Opposition hatte lange genug Zeit, um das auszudiskutieren, aber sie war immer nur gegen alles!", sagt Selim, "Deswegen ist es erst so weit gekommen. In den Anfangsjahren der Regierung, da waren noch alle Optionen offen!"

Selim ist in Berlin-Kreuzberg geboren. Doch da er einen türkischem Pass hat, ist auch seine Stimme beim Referendum gefragt. "Ich bin ehrlich gesagt unentschieden, was einige Punkte betrifft", sagt er. "Ich finde, die Justiz braucht eine Hintertür." Die geplante Reform sieht unter anderem vor, dass der Präsident einen großen Teil der höchsten Richter des Landes ernennt. Damit würde auch sein Einfluss auf den Hakimler ve Savcılar Yüksek Kurulu, den Hohen Justizrat, steigen. Der regelt den Zugang zum Richter- und Anwaltsberuf. Selim ist skeptisch.

Mehr als skeptisch ist der Taxifahrer Halil: "Erdogan hat das Land kaputtgemacht! Er lässt keine andere Religion zu", sagt er wütend. "Ich bin ein politischer Mensch, deswegen bin ich aus der Türkei weggegangen, dabei würde ich gerne wieder zurück!"

Erdogans Plan ist nicht neu

Bereits seit mehreren Jahren strebt Erdogan mit seiner Regierungspartei AKP das Präsidialsystem an. Erst als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsidenten, weitete er seine Befugnisse stetig aus. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 herrscht in der Türkei zudem der Ausnahmezustand, der Erdogan auch ohne Präsidialsystem weitreichende Befugnisse beschert.

"Seit der Verhängung des Ausnahmezustandes regiert Erdogan per Dekret am Parlament vorbei. Diese ohnehin faktisch existierende Machtposition würde nach einem erfolgreichen Referendum endgültig erweitert und gefestigt werden", so Gülistan Gürbey, Politologin an der Freien Universität Berlin. Sollte Erdogan reüssieren, würde das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft und das Parlament entmachtet. Präsident Erdogan wäre offiziell Staatsoberhaupt und Regierungschef in Personalunion und könnte theoretisch bis 2034 in diesem Amt bleiben.

Erdogan propagiert den Freiheitskampf

Damit sich das Präsidialsystem bei dem Referendum im Frühjahr durchsetzt, müssen mehr als 50 Prozent der Bevölkerung dafür stimmen. Von Deutschland aus beobachten rund drei Millionen Türkeistämmige die geplanten Reformen. Bei den Parlamentswahlen 2015 stimmten sie ungefähr so ab wie die Türken in der Türkei.

"Wahrscheinlich wird es mehr Gegenstimmen geben als in der Türkei, dennoch ist zu erwarten, dass die Mehrheit dem Referendum zustimmt", sagt Gürbey. "Das Referendum geht einher mit der Person des Staatspräsidenten und die ist sehr beliebt."

In der Türkei steht die Mehrheit der Bevölkerung hinter der AKP-Regierung. Gürbey erklärt sich diese Stimmung auch so: "Kritische Medien gibt es kaum noch. Der Großteil argumentiert für die Regierung und den Verfassungsentwurf." Zudem würden Regierungsmitglieder die Sicherheitsbedrohung und den Freiheitskampf der Türkei propagieren. "In den Augen der AKP und des Staatspräsidenten befindet sich die Türkei in einem neuen Befreiungskrieg und damit in einer existenziellen Bedrohung durch äußere und innere Mächte, die das Land schwächen und zersplittern wollen. Dazu zählt der Terror, aber auch der Westen, womit die USA und die EU gemeint sind. Nur eine starke Führung könne sich dagegen behaupten", so die Hauptargumentation, die bei den meisten AKP-Wählern und Nationalisten schlichtweg gut ankommt.

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Der Präsident der Türkischen Gemeinde zu Berlin, Bekir Yilmaz, scheint sich dagegen nicht ganz so sicher zu sein, dass sich der türkische Staatschef durchsetzt: "Es ist ja nicht so, dass Erdogan erst seit gestern in der Türkei die Macht hat, sondern schon seit 13 Jahren", sagt er. "Man kann feststellen, dass vieles nicht so gut gelaufen ist in letzter Zeit." Er selbst würde das Präsidialsystem nicht unterstützen. Das ist durchaus bemerkenswert: Der Türkischen Gemeinde zu Berlin wurde wiederholt vorgeworfen, allzu offensichtlich Partei für den türkischen Staatschef und seine AKP zu ergreifen. Geht das Präsidialsystem selbst Erdogan-Anhängern zu weit? Beim Blick auf die jüngsten Umfragen, kann sich Erdogan zumindest nicht sicher sein, zu gewinnen. Einige Institute prognostizieren ein Ja, andere ein Nein zum Referendum. Die Erfahrung spricht allerdings für Erdogan. Der hat bisher schließlich fast alle bedeutsamen Wahlen für sich entschieden. Ein Grund dafür war stets auch sein Gespür für die Stimmungen im Volk.

Quelle: n-tv.de

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