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Wie man Stottern in den Griff bekommen kann

Viele Stotterer haben Angst vorm Sprechen und versuchen, ihr Stottern zu verstecken - das einfachste, aber schlechteste Prinzip ist, die Klappe zu halten Foto: pa

Ein Telefonat mit einer fremden Person zu führen, das war für Albert Hendlmeier jahrelang undenkbar. "Da hätte mein Herz zu stark gepumpert. Ich hätte einfach nicht abgehoben", erinnert er sich an die Aufregung.

Albert Hendlmeier war gerade einmal sechs Jahre alt, als er zu stottern begann. Über Nacht war sein Redefluss gehemmt. "Die Ärzte haben gemeint, das vergeht schon wieder. Aber es ist mir halt leider geblieben", erinnert sich der heute 72-Jährige.

Der Regensburger ist nicht allein. Auch Rowan Atkinson, besser bekannt als Mister Bean, und Bruce Willis haben in frühen Jahren gestottert. Insgesamt sind laut Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe e.V. ( BVSS) rund ein Prozent der Weltbevölkerung Stotterer. In Deutschland sind circa 800.000 Menschen davon betroffen.

Sprechen ist eine komplexe Angelegenheit. Binnen Sekundenbruchteilen müssen Atmung, Stimmgebung und Artikulation koordiniert werden. "Bei Stotterern ist das Zusammenspiel einzelner Vorgänge im Gehirn während des Sprechens gestört", erklärt Ulrike Genglawski von der BVSS. Was genau den Sprechfluss stört, ist noch nicht endgültig erforscht.

Forscher gehen von einer erblichen Disposition aus

Wissenschaftler gehen davon aus, dass es zu 70 bis 80 Prozent genetisch bedingt ist, ob ein Kind zu stottern anfängt. Es scheint ein Problem mit den langen Nervenfasern zu geben, über die alle Hirnregionen untereinander Signale austauschen, wie Forscher mit neuen bildgebenden Verfahren herausfanden.

Martin Sommer, Neurophysiologe und Vorsitzender der BVSS, vergleicht den Empfang mit einem unscharf eingestellten Radiosender, der leidet, wenn zusätzliche Störungen hinzukommen. Beim Autoradio könne dies ein Tunnel, für den Stotternden Aufregung und Stress sein. "Nicht jeder, der diese Disposition in sich trägt, ist allerdings zwingend Stotterer. Bei dem einen bricht es aus, bei dem anderen nicht", ergänzt Genglawski.

Ohne ersichtlichen Grund fangen fünf Prozent aller Drei- bis Sechsjährigen plötzlich an zu stottern. Bei mehr als 80 Prozent verschwindet das Phänomen laut Genglawski während der Pubertät wieder.

Es kann keine Vorhersage getroffen werden, bei welchen Kindern sich das Problem von allein löst. Fachärzte sind ratlos, welche Gegebenheiten dazu führen, dass manche ihr Leben lang davon betroffen sind. Schon für Zwei- bis Dreijährige könne eine spezielle Therapie sinnvoll sein, rät die BVSS.

Sprechtechniken helfen, unflüssiges Sprechen zu verhindern

Die Mehrheit der Stotterer hat seit ihrer Kindheit Probleme mit dem Sprachfluss. Bei erwachsenen Stotterern ist die Sprachvermeidung ein häufig auftretendes Phänomen. Im schlimmsten Fall kann es zum Rückzug in die eigenen vier Wände und zur Vereinsamung kommen.

Viele Betroffene schaffen es jedoch, ihr Stottern weitgehend in den Griff zu bekommen. Eine Therapie kann dabei helfen. Eine von der BVSS anerkannte Methode ist das "Fluency Shaping". Dabei werden spezielle Sprechtechniken gelehrt, die dabei helfen, das Auftreten von unflüssigem Sprechen zu verhindern. Stotterer lernen, am Anfang eines Wortes die Stimme weich einzusetzen, Vokale zu dehnen und ihre Atmung zu kontrollieren.

Anja Fuhrmann hat im Jahr 2010 diese Therapie am Institut der Kasseler Stottertherapie absolviert. Mit Erfolg: Heute spricht sie nahezu stotterfrei, arbeitet als Marketingspezialistin am Institut und gibt selbst Therapiestunden. "Mich hat der Austausch mit anderen Betroffenen enorm gestärkt und mein Selbstbewusstsein aufgebaut", sagt sie rückblickend.

Die Therapie ist sehr zeitaufwendig, gibt Fuhrmann zu bedenken. Nach einer zehntägigen Intensivtherapie, bei der der Klient täglich drei bis sechs Stunden in Einzeltherapiesitzungen mit dem weichen Stimmeinsatz vertraut gemacht wird, folgen über zehn Monate verteilt Einzel- und Gruppensitzungen.

Betroffene können nach einem Jahr stotterfrei sprechen

Um mehr Stotterer zu erreichen, bietet das Kasseler Institut auch eine Teletherapie aus der Ferne an. "Je nach Disziplin und Einsatz der Patienten können die meisten nach rund einem Jahr nahezu stotterfrei sprechen", erklärt Anja Fuhrmann.

Bei Albert Hendlmeier hat eine Therapie Anfang der 90er-Jahre nicht gefruchtet. Erst durch den Austausch mit anderen Stotterern in einer Selbsthilfegruppe hat er neues Selbstbewusstsein geschöpft und das Sprechen in den Griff bekommen. Heute weiß er: "Verstecken hilft nichts. Je mehr ich spreche, desto besser werde ich."

Von ihrem Umfeld erwarten Stotterer vor allem eines: Verständnis. Auf keinen Fall sollte man Stotterern ins Wort fallen, mit gut gemeinten Ratschlägen wie "Tief durchatmen" nur noch mehr Druck aufbauen oder gar den Blickkontakt meiden.

Für das Gespräch mit Stotternden gelten die gleichen Regeln wie für jedes höfliche Gespräch, betont der Martin Sommer. Alles andere verunsichert die Betroffenen nur noch mehr. "Was gesagt wird, ist wichtiger, als dass es flüssig ausgesprochen wird", sagt der Neurophysiologe an der Uni Göttingen, der selbst seit seiner Kindheit stottert.

Stotternde Menschen werden zudem häufig für nervös, ängstlich und gehemmt gehalten. Weitere gängige Vorurteile lauten, dass Stotterer weniger intelligent oder psychisch gestört seien. Nichts daran ist zutreffend. "In unserer westlichen Zivilisation ist das Stottern sehr negativ behaftet", sagt der Sprachtherapeut Daniel Hirschligau, Leiter des Kompetenzzentrums Stottern in Hannover. Die negativen Reaktionen könnten bei den Betroffenen soziale Gehemmtheit bis hin zu sozialen Phobien auslösen.

Am Welttag des Stotterns (22. Oktober) machen Betroffene weltweit auf ihre Bedürfnisse aufmerksam und versuchen so, Vorurteile abzubauen. Die Bundesvereinigung Stottern & Selbsthilfe (BVSS) vertritt die mehr als 800.000 stotternden Menschen in Deutschland.
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