Verena Carl

Journalistin und Autorin, Hamburg

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Artikel

Roman Wittig: "Tiefe Beziehungen zu anderen können Risiken ausgleichen"

Jeder Mensch braucht Freundinnen und Freunde. Aber manchmal sind Freundschaften komplizierter als Beziehungen. Nämlich dann, wenn etwas aus dem Gleichgewicht gerät. Unser Schwerpunkt "Lass uns Freunde bleiben" erzählt, was sie belastet, stärkt und am Leben hält.

ZEIT ONLINE: In der Corona-Krise hatten es Freundschaften streckenweise schwer: Wir sollten alle Kontakte einschränken, nur für Kernfamilie und Partnerschaft machte die Politik Ausnahmen. Ist Freundschaft ein Luxus, eine moderne menschliche Erfindung, die in Notzeiten am ehesten verzichtbar ist?

Roman Wittig: Nein, weder noch. Man kann davon ausgehen, dass Freundschaft ein uraltes Konzept ist, das wir mit unseren engsten biologischen Verwandten gemein haben. Nimmt man Darwin und die Evolutionslehre ernst, sieht man, dass Verhaltensweisen nicht vom Himmel fallen, sondern aufeinander aufbauen, dass es Kontinuitäten über lange Zeiträume gibt, die uns mit anderen Säugetieren verbinden, vor allem mit Primaten. Und das Genom von Schimpanse und Mensch ist zu 99 Prozent identisch.

Dr. Roman Wittig

promovierte in Biologie und ist seit 2012 Direktor des "Tai-Schimpansenprojektes" an der Elfenbeinküste, einer Langzeitstudie, in der seit 40 Jahren das Verhalten von Schimpansen in ihrem besonderen Ökosystem erforscht wird. Viele Jahre arbeitete er beim Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (EVA), derzeit forscht er am CNRS Institut für kognitive Wissenschaften (Institute des Sciences Cognitives) in Bron, Frankreich.

ZEIT ONLINE: Aber was ergibt Freundschaft für einen Sinn, evolutionär gesehen? Geht es nicht ganz archaisch vor allem darum, die Konkurrenz wegzubeißen und die eigenen Gene möglichst erfolgreich weiterzugeben?

Wittig: Aber eben auch um das eigene Überleben und darum, das der eigenen Nachkommen zu sichern. Und dabei spielt Freundschaft eine wichtige Rolle. kann man sich nicht aussuchen, die muss man nehmen, wie sie kommt. Die größere soziale Gemeinschaft schützt vor Fressfeinden von außerhalb, aber es kommt auch zu Rivalitäten und Feindschaften im Inneren. Freunde hingegen kann man strategisch wählen, zur eigenen Unterstützung. Das ist ein wichtiger Vorteil, vor allem dort, wo Ressourcen knapp sind, etwa die Nahrung. Wenn sich Freunde gegenseitig unter die Arme greifen, hat das einen messbarer Effekt. Wir wissen von Pavianweibchen, dass sie und ihre Nachkommen eine höhere Lebenserwartung haben und auch ihr Nachwuchs, je mehr enge und vertraute Beziehungen sie pflegen. Aber genauso kennen wir diesen Zusammenhang aus sozialwissenschaftlichen Untersuchungen beim Menschen.

ZEIT ONLINE: Auch wir leben tendenziell länger, wenn wir gute Freunde haben?

Wittig: Tiefe Beziehungen zu anderen können sogar Risiken ausgleichen, das hat man in Meta-Studien festgestellt. Also etwa Rauchen oder übermäßigen Alkoholkonsum. Nach Datenlage könnte man den natürlich nicht ganz ernst gemeinten Rat geben: Raucht ruhig weiter, solange ihr es in Gesellschaft enger Freunde tut! ( lacht) Spaß beiseite, rauchen schadet zweifellos der Gesundheit, aber Freundschaften puffern die negativen Effekte.

ZEIT ONLINE: Schimpansen schicken sich keine Freundschaftsanfragen auf Social-Media-Plattformen, sie gehen nicht zusammen für eine Zigarette auf den Balkon und nicht auf den Tennisplatz. Woran machen Sie als Forscher fest, dass die Tiere eine innige Beziehung verbindet?

Wittig: Freundschaft funktioniert immer über Vertrauen, darüber, dass man Dinge miteinander unternimmt, die Nähe schaffen, einander hilft und unterstützt. Bei Schimpansen und anderen Primaten ist vor allem die soziale Fellpflege entscheidend, das sogenannte Grooming. Sich gegenseitig Ungeziefer aus dem Fell zu pflücken, ist ein Vertrauensbeweis, vor allem etwa dann, wenn Männchen sich dabei gegenseitig an verletzliche Stellen wie an ihre Genitalien lassen. Das Körperteil, das bei der Tötung eines anderen Affen meist als erstes abgebissen wird. Eine andere Art, Freundschaft zu zeigen, ist das Teilen von Futter. Dafür braucht es aber wohl bestimmte kognitive Voraussetzungen, wir sehen das nicht bei allen Affenarten. Dahinter muss ein Verständnis stehen: Ich verzichte dir zugunsten auf eine Energiequelle, aber später gereicht mir das zum Vorteil. Ähnliche Rituale finden sich beim Menschen: Ich finde jemanden sympathisch, also gebe ich ihm oder ihr ein Bier aus, oder lade ihn zum Essen ein. Das geht bis hinein in die christliche Symbolik beim Abendmahl - Gott teilt seinen eigenen Leib mit den Menschen, dadurch entstehen Nähe und Vertrautheit.

ZEIT ONLINE: Teilt ein Schimpanse Essen und Trinken mit seinen Artgenossen, weil das seine Freunde sind, oder ist das Teilen erst der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, wie es in "Casablanca" heißt?

Wittig: Sowohl als auch. Eine Freundschaft kann mit der gemeinsamen Mahlzeit beginnen, und später wird sie durch die soziale Fellpflege aufrechterhalten. Dabei produziert das Hirn Oxytocin, ein Hormon, das Verbindungen zwischen Individuen stärkt. Evolutionär hatte das ursprünglich den Sinn, die Bindung zwischen Mutter und Kind sicherzustellen. Aber viele hormonelle Mechanismen, die in engen familiären Beziehungen greifen, funktionieren eben auch ohne genetische Verwandtschaft.

ZEIT ONLINE: Ganz praktisch: Wie können Sie so sicher sein, ob die Tiere, die Sie beobachten, nicht doch miteinander verwandt sind?

Wittig: Zum einen beobachten wir sie über ihren gesamten Lebenszyklus und wissen deshalb sehr gut, welche Mutter welches Kind geboren hat. Über Kotproben können wir Vaterschaft feststellen, über Mitochondrien-DNA auch die Verwandtschaftsgrade der Weibchen untereinander. Bis zu Großeltern und Enkeln, Cousins und Cousinen haben wir einen guten Überblick.

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