Verena Carl

Journalistin und Autorin, Hamburg

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Krieg: Die Angst einer Mutter

Nun überschlagen sich die Ereignisse, dort wie hier. Wie ein Schneeball, der auf dem Weg den Hang hinab Fahrt aufnimmt, Volumen gewinnt und schließlich alles überrollt. In und Charkiw sind es die Menschen, ihr Leben, ihre Freiheitsrechte, die davon erstickt werden. In Berlin und Hamburg ersticken wir nur die Zweifel und das Unbehagen. Von einem Tag auf den anderen befürworten wir mehrheitlich Milliardenpakete für die Bundeswehr, Waffenlieferungen, Unterstützung. Wir fühlen uns auf der richtigen, der gerechten Seite, und die Angst legt mir ihre kalten Finger in den Nacken. Was wird das für meinen Sohn bedeuten, nicht heute, aber vielleicht eines Tages, wenn das nur der Anfang einer neuen, unkontrollierbaren Kriegszeit ist? Was wäre schlimmer, demokratische Werte zu verlieren, den Wohlstand - oder ein Kind? Was ist ein Leben wert?

Darüber denke ich nach, zwei Wochen nach Putins Überfall, und schäme mich dafür. Ukrainische Eltern würden meine theoretischen Überlegungen sofort gegen ihre konkrete Angst tauschen, hätten sie die Wahl. In Deutschland sitzen wir warm und trocken. Keiner, der uns auffordert, Molotowcocktails zu bauen und Schützengräben auszuheben. Dort kämpft nicht nur die Armee, auch männliche Zivilisten zwischen 18 und 60 Jahren dürfen nicht mehr das Land verlassen, weil sie zur Verteidigung gebraucht werden. Ich kann verstehen, was sie treibt, bewundere ihren Mut. Und frage mich gleichzeitig: Hätte ich einen Sohn in Kiew oder Charkiw, riete ich ihm, sich einem übermächtigen Angreifer entgegenzustellen? Oder würde ich sagen: Renn weg, versteck dich, rette dich? Ich kann auf alles verzichten, Redefreiheit, Demokratie, aber nicht auf dich? Was, wenn der Regierungschef die Parole ausgegeben hätte: Die Sicherheit, das Leben meiner Staatsbürger steht über allem anderen?

Verena Carl

52, lebt als freie Autorin in Hamburg. Sie beschäftigt sich mit Themen wie Gesellschaftstrends, Familie und Psychologie. Kürzlich hat sie ihr Sachbuch Ich bin dann mal bei mir: 12 Auszeiten für die Seele. Ein Selbstversuch veröffentlicht.

Mein Junge ist bald 14. Drei Jahre nach seiner Geburt hat Deutschland die Wehrpflicht ausgesetzt und die Bundeswehr zur reinen Berufsarmee umgebaut. Das war für mich ein Signal: Ob jemand bereit ist, den Kopf hinzuhalten, sich in Lebensgefahr zu begeben, auch bereit ist, zu töten, das ist von nun an eine freie, rationale Entscheidung. Keine staatsbürgerliche Pflicht mehr, der man sich nur aus Gründen der individuellen Moral entziehen kann.

Doch nach dem Angriff auf die hat es nur etwas mehr als 48 Stunden gedauert, bis die ersten Forderungen kamen, die Wehrpflicht wieder einzuführen. Jedenfalls in Form einer allgemeinen Dienstpflicht, die auch zivile Bereiche umfasst. Fürsprecher sitzen nicht nur im Reservistenverband, auch der niedersächsische CDU-Chef Bernd Althusmann gehört dazu und der SPD-Sicherheitsexperte Wolfgang Hellmich. Drei Tage nach Kriegsbeginn fragte sich gar der Historiker Karl Schlögel im Talk bei Anne Will, warum man nicht freiwillig an der Seite der Ukraine in den Kampf ziehe wie einst Hemingway in den Spanischen Bürgerkrieg.

Wenn ich das höre, denke ich an meinen Sohn, wie er einen Volleyballaufschlag macht, Eintopf aus seinem "Herr der Ringe"-Kochbuch zubereitet, seinen Fischen im Aquarium Namen gibt, und mir wird schlecht. Er gehört zu einer Generation, die von der Krippe an gelernt hat, dass man Streit mit Worten regelt, nicht schlägt, nicht beißt, nicht haut. In der Jungen weinen dürfen, zärtlich sein und sogar pinkfarbene Tüllröcke anziehen. Gegner existieren nur auf dem Sportplatz, nach dem Match gibt man sich High Five.

Was würdest du tun, wenn du in Kiew leben würdest, frage ich meinen Sohn: Kämpfen oder weglaufen?

Sollen wir sie nun mit den Kindheitsidealen ihrer Großväter anfüttern, der Todesverachtung, der Tapferkeit, nur weil es einer gerechten Sache dient? Ist es nicht gerade dieses Männerbild, das in seiner extremen Form Wladimir Putin verkörpert, hart, herzlos, homophob? Wenn wir wieder militärisch denken, verlieren wir dann nicht zu viel von dem, was uns ausmacht - und geben damit denen recht, die alte Heldenbilder nicht vom Sockel stoßen, sondern als neue Rollenvorbilder aufstellen wollen?

"Was würdest du tun, wenn du ein paar Jahre älter wärst und in Kiew leben würdest?", frage ich ihn abends in der Küche. "Kämpfen oder weglaufen?"

Er überlegt. "Wenn ich drei Gegner aufhalte und danach trotzdem tot bin, nutzt mir meine Freiheit auch nichts mehr", sagt er. Keine sinnlosen Opfer bringen. Fünf Minuten später kommt er noch mal zurück, er hat nachgedacht. "Vielleicht, wenn wir in einem kleinen Dorf wären, wo ich der Einzige bin, der kämpfen kann. Und alles von mir abhängt." So schwierig ist das.

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