Vera Deleja-Hotko

Freie Journalistin, Wien/Berlin/London

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Artikel

2400 Meter Geschichten

Die Lindwurmstraße ist eine Straße wie viele andere: Kiosks, Imbisse, viel Verkehr, viele Pendler. Dabei lohnt es sich auch mal, zu flanieren und stehenzubleiben. Ein Spaziergang.

Die Lindwurmstraße ist eine Verbindungsstraße wie viele andere in der Stadt. Sie beginnt, wie sie endet. Mit einer Kirche. Einmal mit einer evangelischen, der Matthäuskirche, und einmal mit einer katholischen, der Alten Sendlinger Kirche. 2400 Meter liegen dazwischen, die fast jeder Münchner schon entlanggegangen, geradelt oder gefahren ist.


Ob morgens mit dem Fahrrad im Slalom über den Bürgersteig. Mittags zu Fuß mit den Kollegen auf dem Weg zum nächsten Imbissstand. Oder abends mit dem Auto im Schritttempo durch den Berufsverkehr. Eine vierspurige Straße mit zwei Radwegen, umrandet von hohen Pappeln mit schlanken Stämmen. Die vorbeiführt an einem Platz, der sich nur so nennt, aber keiner ist, dem Goetheplatz. Die beim Sendlinger Tor beginnt und beim Stemmerhof endet. Oder andersherum.


Benannt wurde die Lindwurmstraße nach Joseph Lindwurm, einem Münchner Dermatologen aus dem 19. Jahrhundert. Ärzte und Ärztinnen gibt es aber immer noch an der Lindwurmstraße. Das Innenstadtklinikum dominiert den östlichen Abschnitt zwischen Sendlinger Tor und Goetheplatz. Die einzelnen Gebäude verstecken ihre verschnörkelten Fassaden hinter grünen Baumwipfeln. Ein Kontrast zur gegenüberliegenden Straßenseite, wo sich ein Einzelhändler an den anderen reiht. Wo ein Trödler zwischen einem bayerischen Gastwirt und einer Modeboutique liegt. Und es nicht ungewöhnlich ist, dass zwischen einem asiatischen Restaurant und einem kleinen Café eine Erotikboutique eröffnet. Wer auf der Lindwurmstraße nach Zara, H & M oder Starbucks sucht, wird enttäuscht werden. Nur wenige dieser Ketten haben einen Platz gefunden. Und wenn es nach den Anwohnern geht, dann soll das auch so bleiben.


Je weiter die Straße nach Westen verläuft, desto ruhiger wird es. Ruhiger, wie das mitten in einer Großstadt eben möglich ist. Die Anzahl der Passanten sinkt, die Häuser schrumpfen. Der Straßenlärm wird weniger. Ab und an hört man sogar die Vögel zwitschern. Auf den letzten Metern schlängelt sich die Straße den Sendlinger Berg hinauf. Bis zur letzten Kreuzung mit der Plinganser- und der Pfeuferstraße. An dieser Ecke steht seit Dezember der Michl, dort grillt und verkauft er Steckerlfische. Mitten in der Stadt, am Gehsteig neben dem Stemmerhof. Wo die Lindwurmstraße endet. Oder beginnt.


Bei Nacht: Kneipen, Kiosk und Konzerte

Während die letzten Pendler die Stadt über die Lindwurmstraße verlassen, sind die ersten Nachtschwärmer bereits unterwegs. Ein häufiger Stopp auf dem Weg vom Sendlinger Tor zu den Kneipen und Clubs ist Chidiebere Joseph Joes Kiosk. Bis 23 Uhr bekommt man hier noch ein Bier für den Weg, Zigaretten oder Snacks. Seine Freunde leisten ihm oft Gesellschaft bei der Arbeit: "Er ist unsere Tante Emma!", erzählen sie grinsend. Ein Klassiker für den ersten Kneipenstopp ist das Flex in einer Nebenstraße.


Hier wird gekickert, Dart oder Billard gespielt. Während das Flex, wie viele andere Bars, unter der Woche um eins schließt, hatte das Provisorium an der Lindwurmstraße noch lange offen. Hatte. Denn seit 1. Mai ist die "Kunstbar" dauerhaft geschlossen. Provisorisch für fünf Monate geplant, hatte es sich dann doch mehr als sechs Jahre gehalten. "Die Lindwurmstraße ist noch nicht komplett veredelt, oder spießig, sondern bunt gemischt", sagt der Pächter Igor Belaga. Zum Abschied wurde noch einmal kräftig gefeiert, letzte Woche wurde ausgeräumt - und jetzt wird ein neuer Standort gesucht. man wolle unbedingt weitermachen, nur eben an einem anderen Ort.


Unter der Eisenbahnbrücke an der Poccistraße gab es bis Anfang der Neunzigerjahre einen der bekanntesten Clubs in München - das Crash. Thomas Gottschalk legte hier auf, Eric Clapton schaute vorbei und die verrücktesten Wettbewerbe, wie zum Beispiel "Oben-ohne-Sauerkraut-Wettessen", sorgten für Aufsehen. Hinter den denkmalgeschützten Fassaden unterhalb des Lindwurmhofes befindet sich aktuell das Strom, wo hauptsächlich Konzerte stattfinden. Nur wenige Schritte entfernt in der Ruppertstraße gibt es im Substanz bis mindestens zwei Uhr Musik, aber auch Fußballpartys und Poetry Slams. Auch wenn das Substanz nicht mehr den Ruf einer "illegalen Punkkneipe" gegenüber dem KVR hat, wie eine Zeitung zur Eröffnung titelte, die Mischung sorgt noch immer dafür, dass es den ein oder anderen nachts in die Lindwurmstraße verschlägt.


Bei Tag: Grillfleisch, Gaudi und Gitarre

Vom Grillfleischsandwich über Schweinshaxen und Hendl bis hin zu Chili con Carne und Quiche - wer sich in dieser Reihenfolge durch die Lindwurmstraße futtern will, muss ihr nur stadtauswärts folgen. Für Grillsandwiches und Salzburger Bosna beim Würstlkönig stehen regelmäßig hungrige Geschäftsleute und Ladenbesitzer in ihrer Mittagspause zwischen zwölf und 13 Uhr an. Die Schlange vor dem fünf Quadratmeter großen Imbiss verläuft über den Bürgersteig bis zur Straße. "Um 17 Uhr, eine Stunde vor Ladenschluss, ist dann meistens schon alles weg", sagt Johann Iser, der Chef und selbsternannte Würstlkönig.


Ein ähnlicher Andrang herrscht vor dem Straßenverkauf des Lindwurmstüberls. Wen nach der Arbeit auf dem Weg zu einer Feier der Hunger auf eine Schnitzelsemmel plagt, den enttäuscht die Hühnerbraterei nicht. Im urigen Stüberl riecht es nach gebratenem Fleisch und Bier, serviert und geredet wird bayerisch. Es gibt auch einen hellen Wintergarten mit großen Fenstern und eine Terrasse auf dem Dach des markanten lachsfarbenen Gebäudes.


In puncto außergewöhnliche Optik kann das Diba Café ein paar Querstraßen weiter nicht mithalten. Dafür hat Reza Pezeshki die Einrichtung in seinem Café, in dem sieben kleine Tische stehen, selbst gebaut. In der Theke stehen Gemüse-Quiches, belegte Croissants und ein Topf mit Chili con Carne. Aus dem Lautsprecher tönt Jazz und an der Wand hängen Bilder, die den Café-Besitzer zeigen neben bekannten Musikern und Sophia Loren. "Das sind alles Freunde von mir. Sophia Loren zumindest im Traum", meint Pezeshki und lacht. Als Musiker zu arbeiten schafft der gebürtige Perser aus Zeitgründen schon seit Jahren nicht mehr. Dafür gibt er Gitarrenunterricht im Diba Café. Viele, die hier ein- und ausgehen, sprechen Reza Pezeshki mit seinem Vornamen an, fragen ihn, wie es ihm geht und was es Neues gibt. Woher sie sich kennen? "Das sind alles meine Nachbarn aus der Lindwurmstraße. Ich wohne hier gleich um die Ecke."

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